Es ist ein auf Anhieb nicht einleuchtender, erklärungsbedürftiger Titel, den der Berliner Historiker Götz Aly für sein Buch über die Euthanasiemorde zwischen 1939 und 1945 gewählt hat. Damit zielt er auf die Opfer, auf die ihnen durch ihre Krankheit auferzwungene Last, weil sie geistig behindert waren oder unter schweren Psychosen litten. Aber dieser Titel umfasse, so Aly, „auch die ,Lebenslast’ der Angehörigen und das damit verschwisterte Bedürfnis nach ,Entlastung’, nach individueller und kollektiver ,Befreiung von einer Last’“.
200 000 in der Regel pflegebedürftige Deutsche fielen den Euthanasiemorden zum Opfer.
Götz Aly schlüsselt in seinem so lesenswerten wie bedrückenden, quellen- und materialreichen Buch auf, wie es zu diesen Morden kam: wie die Stimmung bereitet wurde, wie eine Expertenkommission und eine Behörde dafür gegründet wurden. Und wie auf anderen Ebenen die „Aktion T 4“ (benannt nach der Behördenadresse in der Berliner Tiergartenstraße 4) funktionieren konnte: bei der Ärzteschaft, die nicht nur aus strammen Nazis bestand, sondern auch aus Psychiatriereformern. Aber auch bei den Angehörigen, die eben selbst „belastet“ oder „überlastet“ waren mit der Pflege kranker Verwandter, psychisch, physisch, finanziell; die vieles zuließen, was ihnen von Ärzteseite vorgeschlagen wurde, und sich zu selten energisch gegen die Deportationen wehrten, was möglich gewesen wäre. So schlussfolgert Aly: „Weil die Deutschen den Mord an den eigenen Volksgenossen hinnahmen, gewannen die führenden Politiker die Zuversicht, sie könnten noch größere Verbrechen ohne bedeutenden Widerspruch begehen.“ Götz Alys Buch ist die Summe gewonnener Forschungsergebnisse und gleichzeitg geprägt von liebevoller Parteilichkeit für das anfällige Leben.
Der knapp 15-jährige Walter Witt kam wegen einiger Diebstähle in die Jugendfürsorge und 1940 schließlich in die jugendpsychiatrische Anstalt Brandenburg-Görden. Dort diagnostizierten die Ärzte Hans Heinze und Hans Fischer in einem umfangreichen Gutachten einen „Intelligenzrückstand von 6,25 Jahren“. Sie führten Walters unterentwickelte Rechenbegabung und seine „agrammatikalische“ Ausdrucksweise an. Die Ärzte beschrieben Walters begrenzte Fähigkeiten: „Auch bei einfachsten praktischen Arbeiten erwies er sich als wenig anstellig. Ohne jede Umsicht führte er das Amt des Staubwischens aus. Seine Lieblingsbeschäftigung war das kleinkindliche Aufziehen von Glasperlen. Es fehlte noch jeder Ansatz zu beruflichem Ernst.“
Diese Diagnose war das Todesurteil. Walter Witt, dessen einziges Verbrechen in mangelnder Intelligenz bestand, wurde mit Hilfe einer von Medikamenten absichtlich erzeugten Lungenentzündung hingerichtet. Seine Akte findet sich in Götz Alys verstörendem Buch „Die Belasteten. ,Euthanasie‘ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte.“
Aly beschäftigt das Thema der amtlichen Ermordung von Pflegebedürftigen seit über dreißig Jahren. Nach kleineren Beiträgen erschien 1985 im Rotbuch-Verlag sein Aufsatz „Medizin gegen Unbrauchbare“. Seitdem lässt ihn das, was die Nationalsozialisten beschönigend Euthanasie nannten, nicht mehr los.
Karline, so erfährt der Leser in der Einführung, ist eine 1979 geborene Tochter des Autors. Sie erkrankte kurz nach ihrer Geburt an einer Streptokokkeninfektion. Die Gehirnentzündung hinterließ einen bleibenden zerebralen Schaden. Der Vater schreibt: „Bei aller Hilfsbedürftigkeit lacht und weint sie, zeigt Freude und schlechte Laune, liebt Musik, gutes Essen, gelegentlich etwas Bier und Gäste. Doch einfach hat sie es im Leben nicht.“
Fingierte Todesursachen
Mag sein, dass es dieser persönliche Hintergrund ist, der dem Buch über die Genauigkeit der Forschung hinaus seinen besonderen Ton gibt. Es teilt sich darin eine liebevolle Parteilichkeit für das anfällige Leben mit, die dem bekanntermaßen angriffslustigen Autor gut zur Seite steht. Über weite Strecken lernt man aus den Akten die Opfer kennen und vermeint sie sprechen zu hören. Etwa den Pflegling Anton Kramer, der, nachdem ihm das ärztliche Todeskommando eine Nummer zwischen die Schulterblätter gemalt hat, sagte: „So, jetzt sind wir gezeichnet zum Schlachten.“
Geht man realistisch von 200.000 Menschen aus, die im Rahmen der NS-Aktionen zur „Vernichtung unwerten Lebens“ ermordet wurden, so rechnet Aly aus, dass rund zehn Millionen Deutsche und Österreicher in gerader Linie mit einem der Opfer verwandt sein müssen – oft, ohne es zu wissen. Denn in den meisten Familien wurden die Verschwundenen gründlich beschwiegen.
Das Schweigen entsprach der Unwissenheit als Lieblingsdisposition der Deutschen, die schon 1920 Obermedizinalrat Meltzer herausgefunden hatte: 73 Prozent der Angehörigen von Behinderten hatten ihm in einer Umfrage zur „Abkürzung lebensunwerten Lebens“ mitgeteilt, dass sie sich bei erwiesener „unheilbarer Blödigkeit“ ihres Familienmitglieds mit einer „Erlösung“ abfinden würden, falls das Anstaltsregime darauf verzichte, eigens bei der Familie um Erlaubnis zu fragen. Die Angehörigen baten ausdrücklich darum, mit einer fingierten Todesursache getäuscht zu werden.
Die NS-Dienststellen, die die Euthanasiemorde koordinierten, nahmen die Einladung zu Lug und Trug dankbar an. Aly beschreibt eine Skala von Beschönigungswendungen, mit denen sich Angehörige ihres schlechten Gewissens entledigen und sich einreden konnten, das Opfer sei friedlich entschlafen. Am anderen Ende der Skala steht der zynische, interne Ausdruck: die „Desinfektion.“ Gegen den Protest von Familienmitgliedern unternahmen die Planer der Morde selten etwas: Aly dokumentiert mehrere Fälle, in denen es den Eltern gelang, ihre Kinder kurz vor der Gaskammer wieder zurückzuholen.
Platz schaffen für Heimkehrer
Den energischsten Widerstand gegen die Mordaktionen sieht Aly in konservativen katholischen Kreisen, die an die Gottesebenbildlichkeit eines jeden Menschen glauben, „sei dieser noch so verkrüppelt, idiotisch oder schwachsinnig, pflegebedürftig oder schwer leidend“. Aus den Prinzipien „moderner Rechtsstaatlichkeit oder aus den Ideen eines säkularen Humanismus“ speiste sich der Protest dagegen kaum. Im Gegenteil: Aly sieht das NS-Euthanasieprogamm im Zusammenhang mit den Reformideen der Weimarer Republik. Zu den Mordstrategen gehörten gerade jene Ärzte, die in der Psychiatrie als „fortschrittlich“ und patientenzugewandt galten. In einem entfesselten Optimierungsstreben selektierten sie die Kranken in heilbar und unheilbar, förderten nach Kräften die einen und brachten die anderen als „leere Menschenhülsen“ gnadenlos um. „Es ist doch herrlich“, zitiert Aly einen Arzt, „wenn wir in den Anstalten den Ballast loswerden und nun richtig Therapie betreiben können“.
Gerne würde man mehr über die selbstherrliche Vergötterung der Gesundheit erfahren. Mehr vom Körperkult und der faschistischen Angst beim Anblick von Schwäche und Pflegebedürftigkeit. In Hamburg wurden sogar alte, von den Bombennächten verwirrte Frauen in den Anstalten umgebracht. Aber wie auch in seinen früheren Büchern hält sich Aly bei den ideologischen Umständen, die ja keineswegs mildernd wären, nicht lange auf. Stattdessen führt er die erbbiologische NS-Prosa auf ihren trivialen materiellen Kern zurück.
Wieder ist es Alys Absicht, die NS-Verbrechen ihres propagandistischen Mantels zu entkleiden, und diesen psychologisch nicht ernster zu nehmen, als er ist. Seine Beweislage ist erdrückend. Schon Hitlers Arzt Theo Morell hatte in der Denkschrift „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ folgende Rechnung aufgemacht: „50.000 Idioten mit Jahreskosten von je 20.000 Reichsmark = 10 Millionen jährlich. Bei fünf Prozent Verzinsung entspricht das einem reservierten Kapital von 200 Millionen.“ Bei den Vernichtungsaktionen ging es auch darum, Platz zu schaffen für die heimkehrenden Auslandsdeutschen nach dem Hitler-Stalin-Pakt, für die Ausgebombten und die verwundeten Soldaten. Zur Ermordung ausgesucht wurden jene, „die die meiste Arbeit machten und selber keine verrichten konnten“.
Götz Aly: Die Belasteten. Euthanasie‘ 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. Fischer, Frankfurt a. Main 2013. 352 S., 22,99 Euro. ISBN 978-3-10-000429-1
Leseprobe
Sterbehilfe, Idee einer säkularisierten Welt
»Darf der Arzt töten?« Das fragten sächsische Nervenärzte auf ihrer Jahresversammlung 1922. Den Anlass bot das kurz zuvor erschienene Manifest »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – ihr Maß und ihre Form«, das zwei hochangesehene Gelehrte verfasst hatten, der Freiburger Psychiater Alfred Hoche und der Leipziger Strafrechtslehrer Karl Binding. Einer der debattierenden sächsischen Ärzte, der Geheime Medizinalrat Otto Hösel, verwies auf den seiner Meinung nach merkwürdigen Widersinn, »dass dieselben Leute für den Tod von Idioten« plädierten, die für »die Abschaffung der Todesstrafe bei Verbrechern« einträten.
Er sprach damit einen Zusammenhang an, der nach 1933 und auch 1945 vergessen gemacht wurde. Für Sterbehilfe, humanen Tod oder sanfte Erlösung warben in den 1920er-Jahren vielfach jene politisch Engagierten, die gegen Todesstrafe und Abtreibungsverbot auftraten, Frauenrechte forderten, den verpönten Selbstmord begrifflich zum individuell gewählten Freitod läutern, Ehescheidungen und überhaupt freiere Lebensformen erleichtern wollten. Nicht selten propagierten dieselben Reformer die Sterilisierung behinderter Menschen – allerdings in freiwilliger Form, wobei sie darunter auch das Einverständnis von Sorgeberechtigten und amtlich bestellten Vormündern verstanden. Für das Töten behinderter Kinder traten deutsche Sozialreformer in den 1920er-Jahren nur ausnahmsweise ein, wohl aber für Prävention im Sinne eugenisch indizierter Abtreibungen. Sie taten das im Namen des sozialen Fortschritts und eines nur mehr irdisch verstandenen Glücks. Solche Diskussionen und der damit einhergehende Wertewandel fanden nicht nur in Deutschland statt, doch führten sie nirgendwo sonst zu derart radikalen praktischen Konsequenzen.
In ihrer zivilen Vorgeschichte spiegeln selbst die Krematorien, die später zu Symbolen nationalsozialistischer Verbrechen wurden, die Ambivalenz dieses Fortschrittsdenkens. Von 1880 an ertrotzten liberale und sozialdemokratische Laizisten – über Jahrzehnte hinweg und von Großstadt zu Großstadt – die Möglichkeit der Feuerbestattung gegen die christlichen Kirchen, insbesondere gegen den katholischen Klerus. Ähnlich gebrochen erscheint der Begriff Fortschritt hinsichtlich der gesetzlichen Zwangssterilisierung von rund 350000 Menschen während der ersten sieben nationalsozialistischen Jahre: Jene Kliniken, deren (in der Regel katholische) Träger und Ärzte sich damals erfolgreich weigerten, Zwangssterilisierungen durchzuführen, waren im Großen und Ganzen dieselben, deren ärztliche Direktoren es in der späteren Bundesrepublik ablehnten, die 1974 gesetzlich straflos gestellten, medizinisch jedoch nicht gebotenen Abtreibungen vorzunehmen.
Zwischen 1939 und 1945 wurden die als Euthanasie bezeichneten Morde namens der deutschen Regierung an etwa 200000 Angehörigen deutscher Familien vollstreckt. Der Widerstand dagegen blieb insgesamt gering. Wo aber Protest aufbrach, speiste er sich kaum je aus den Prinzipien moderner Rechtsstaatlichkeit oder aus den Ideen eines säkularen Humanismus, sondern aus dem längst schon geschwächten Glauben an die Gottebenbildlichkeit eines jeden Menschen – sei dieser noch so verkrüppelt, idiotisch oder schwachsinnig, pflegebedürftig oder schwer leidend.
Wie wenig die meisten heutigen Deutschen die ethischen Grundlagen dieses Widerstands teilen, wird für jeden greifbar, der die vollständige Predigt liest, die Clemens August Graf von Galen am 3. August 1941 hielt. Der Bischof von Münster brandmarkte die Morde an den Geisteskranken als Verbrechen und ermahnte im selben Atemzug seine Gemeinde, sich aus anderen Gründen vom gottlosen Nationalsozialismus abzuwenden: »Denkt an die Anwei sungen und Zusicherungen, die der berüchtigte Offene Brief des inzwischen verschwundenen Rudolf Hess, der in allen Zeitungen veröffentlicht wurde, über den freien Geschlechtsverkehr und die uneheliche Mutterschaft gegeben hat. (…) An welche Schamlosigkeit in der Kleidung hat die Jugend sich gewöhnen müssen. Vorbereitung späteren Ehebruchs! Denn es wird die Schamhaftigkeit zerstört, die Schutzmauer der Keuschheit.« Ähnlich predigte am 2. November 1941 der katholische Bischof von Berlin, Konrad Graf von Preysing, gegen die Euthanasiemorde. Er mahnte: Eine derartige »Tötung ist schwere Sünde, schwere Schuld, ob es sich um das Kind im Mutterleib handelt oder um alte, gebrechliche, geisteskranke Menschen, um sogenannte ‚lebensunwerte‘ Existenzen«. Galen wie Preysing bezogen Mut und Kraft, Unbeirrbarkeit und Willensstärke aus Glaubensquellen, die vor 1945 vielen Deutschen fremd geworden waren und mehr noch heute fremd sind.
Umgekehrt stimmten nicht wenige laizistisch eingestellte Deutsche den Euthanasiemorden zu, die den Nationalsozialismus in anderer Hinsicht rundweg ablehnten. Zum Beispiel Wolf Goette (1909-1995), damals Jungschauspieler am Deutschen Theater in Prag, später in der DDR erfolgreich. Er berichtete in den Briefen an seine Familie immer wieder, dass er die deutsche Politik »zum Kotzen« finde, er verspürte das »Gefühl entsetzlicher Scham«, wenn er den »Gelbgezeichneten« begegnete. Doch empfand er den Film »Ich klage an«, mit dem im Herbst 1941 die Euthanasiemorde propagiert und legitimiert wurden, zunächst als Dokument einer »sauberen und anständigen Gesinnung«, als erschütterndes Kunstwerk, in dem die »Notwendigkeit« der Euthanasie »in bestimmten Fällen hoffnungslosen Siechtums (…) filmisch großartig demonstriert wird«. Später regten sich leise Zweifel, »wenn ein Willkürstaat diese Idee proklamiert«.
Mit dem 1933 erlassenen Gesetz zur Sterilisierung von Menschen, deren Nachwuchs als unerwünscht galt, und dann mit dem staatlich gelenkten Mord an körperlich und geistig behinderten Menschen schwächte die Regierung Hitler ihre politische Basis in den laizistisch geprägten Milieus nicht. Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, die sich an diesem Programm beteiligten, mussten keine überzeugten Nazis sein, und sie konnten – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nach 1945 als angesehene Bürger in ihren Berufen weiterarbeiten.
15.März.2013, 11:57
Meine Großmutter Hermine Stogniew, geb. van Hasseln,geb am 26.07.1998 in Wiesbaden, ermordet (vergast) am 13.02.1941 in Hadamar.
Ja ich bin eine von den in direkter Linie Betroffenen. Sehr gerne würde ich Kontakt mit Herrn Aly aufnehmen.
Als kleines Mädchen bekam ich unterschiedlichste Informationen was mit meiner „melancholischen Oma“ geschehen war.
Alles eher verwirrender Natur, anstatt Licht ins Dunkel zu tragen.
Meine Mutter hatte keine Mutter, ich hatte eine Mutter, die keine Mutter hatte…
Ich habe 2008 den Faden wieder aufgenommen und zu forschen, denn ihre Geschichte ließ mich nicht los
Bettina Claude-Uljarevic