Wolfgang Blau

»Das Leistungsschutzrecht war eine Machtprobe für den Springer-Verlag, und Springer hat gewonnen.« So hat es Wolfgang Blau, der Chefredakteur von »Zeit Online«, in einer Keynote formuliert, die er  bei einer Urheberrechts-Fachtagung von Bündnis 90/Die Grünen hielt. Er erläuterte, warum das geplante Gesetz nicht nur nicht hilfreich, sondern schädlich ist. Er forderte von Politikern den Mut, offen auszusprechen, dass infolge der Digitalisierung »ganze Branchen und ganze Berufszweige verschwinden werden«. Und er plädierte dafür, sich mit den heute kaum noch nachvollziehbaren Argumenten zu beschäftigen, mit denen frühere umwälzende Technologien wie der Buchdruck und die Eisenbahn bekämpft wurden.
Ich möchte dazu beitragen, dass diese bemerkenswerte Rede möglichst große Verbreitung findet, und dokumentiere sie hier mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung von Wolfgang Blau:

Urheberrecht, Internet, Eisenbahn und Buchdruck

„Worüber ich mit Ihnen heute reden will, ist etwas, das mir nun schon seit mehreren Jahren auffällt: Wie hitzig und geradezu verbittert der Streit um das Urheberrecht ausgetragen wird und wie oft es dabei gar nicht ums Urheberrecht geht, sondern um viel Grundlegenderes, um ein grundsätzliches Unbehagen gegenüber dem Netz und sogar um die Frage nach persönlicher Identität. Fragen wie: »Wer bin ich als Schriftsteller, wenn jeder sich als Autor bezeichnen und jeder publizieren kann?« oder »wer sind wir eigentlich noch als Verleger und als Journalisten, wenn zum Beispiel soziale Netzwerke fast beiläufig — wie etwa in den ersten Fukushima-Nächten oder während der Frühphase der arabischen Revolutionen im letzten Jahr — genuin journalistische Funktionen übernehmen?«

Auch in den meisten meiner Diskussionen mit Befürwortern des Leistungsschutzrechtes geht es erstaunlich selten um das Urheberrecht und die angebliche Schutzlücke darin. Stattdessen höre ich regelmäßig Aussagen wie: »Ja, kann durchaus sein, dass uns ein Leistungsschutzrecht finanziell überhaupt nichts bringen wird oder sogar einen Imageschaden bei netzaffineren Lesern verursacht, aber man muss doch jetzt mal ein Zeichen setzen!«

Ein Zeichen wofür?

»Dafür«, so die stereotype Antwort, »dafür, dass wir uns nicht mehr länger von Google herumschubsen lassen und dass wir — als sonst konkurrierende Medienunternehmen — durchaus auch geschlossen und einig agieren können, wenn es darauf ankommt.“

Das Leistungsschutzrecht war eine Machtprobe für den Springer-Verlag, und Springer hat gewonnen.

Der Schaden ist vielfältig. Zum Beispiel wird nun kaum noch eine Debatte über die wirklich drängenden Fragen zum Urheberrecht möglich sein, bevor nicht die vielen offenen Fragen zu diesem neuen, diffusen Leistungsschutzrecht beantwortet sind.

Und verstehen Sie mich nicht falsch: Als jemand, der viele Jahre lang vom Silicon Valley aus und nun seit über vier Jahren als Chefredakteur von ZEIT ONLINE das Gebaren amerikanischer Unternehmen wie Google, Apple, Facebook und Amazon beobachtet hat, kann ich den Impuls der Verlage und vieler Redakteure, einmal ihre geschlossene Macht zu demonstrieren, gut verstehen.

Der Impuls war nur fehlgeleitet, die Kampagne hat kostbare Energien gebunden, das Leistungsschutzrecht lässt die Bundesregierung nun entweder als seltsam netzfremd oder als zynisch erscheinen und es stehen nun weitere monatelange Machtproben zwischen Google und den Verlagen bevor.

Die Verlage haben lediglich bewiesen, dass sie immer noch Macht ausüben können, auch über eine Bundesregierung. Geld werden sie von Google kaum bekommen. Google kann auch damit drohen, den Verlagen keinen Traffic mehr zuzuführen, was für einige, aber nicht alle Häuser fatale Folgen hätte. ZEIT ONLINE erzielt nur etwa 15 Prozent seiner Reichweite über Suchmaschinen.

Gegen das Anliegen der Verlage und vieler Redakteure, die Zeitungskrise nicht einfach nur passiv zu erleiden, sondern sich einem der großen Gewinner des Netzzeitalters einmal geeint entgegenzustellen, dagegen ist erst einmal nichts einzuwenden. Es ist ein sehr menschlicher Impuls und man sollte nie vergessen, dass in den Zeitungsverlagen viele Menschen arbeiten, denen daran liegt, mit ihrer Arbeit nicht nur ein Einkommen zu haben, sondern einen gesellschaftlich wertvollen Beitrag zu leisten, den sie nun bedroht sehen. Es hätte aber sehr geholfen, diese Motive und durchaus auch die eigene Verunsicherung durch den digitalen Wandel offenzulegen und zu thematisieren, statt die Debatte ums Leistungsschutzrecht auch noch damit zu überfrachten, dass die Zukunft der Demokratie von der Zukunft der Zeitungsverlage abhänge. Sie tut es nicht.

Und wo wir schon von fehlender Offenlegung sprechen, lassen Sie mich noch zwei, drei andere Aspekte der Urheberrechts-Debatte skizzieren, die von mehr Transparenz profitieren würden:

Erstens: Keine der im Bundestag vertretenen Parteien wird es wagen, noch vor der Bundestagswahl im nächsten Jahr das Urheberrecht oder gar die Netzpolitik zu einem zentralen Thema zu machen. Alle Parteien spüren die taktische Notwendigkeit, sich zumindest an ihrer Peripherie mit dem Thema zu beschäftigen, dies nicht nur, aber auch um den Piraten (Piraten und Urheberrecht) nicht das Feld zu überlassen.

In diesem Spannungsfeld zwischen sich nicht damit beschäftigen wollen und sich aber ein bisschen damit — und dann öffentlich — beschäftigen müssen wird die Urheberrechtsdebatte noch mindestens ein weiteres Jahr, also bis nach der nächsten Bundestagswahl halbgar vor sich hin köcheln.

Zweitens: Fast jeder Teilnehmer der Urheberrechts-Debatte ist Partei oder hat nicht deklarierte Eigeninteressen.

Vor allem wir Journalisten haben uns bisher nicht mit Ruhm bekleckert, wenn es darum ging, persönliche Interessen in unserer redaktionellen Arbeit offen zu legen. Statt ehrlich zu sagen: »Wir haben Angst um unsere Jobs, wir haben Angst um unsere gesellschaftliche Relevanz und unsere berufliche Zukunft«, haben viele von uns die Urheberrechts-Debatte zu einer Debatte über die Zukunft der Demokratie und gar der Kultur des Abendlandes hochstilisiert.

Begleiterscheinung dieser fehlenden Offenlegung ist auch, dass Zeitungsredaktionen das Internet nun viele Jahre lang tendenziell als ein eher bedrohliches Phänomen dargestellt haben, das Kriminalität befördert und den Niedergang kultureller Werte und des gesellschaftlichen Zusammenhaltes beschleunigt. Es sind dabei ganze Mythologien entstanden, wie etwa die, dass ein besonnener, nachhaltiger intellektueller Diskurs eher auf Papier als im Netz stattfinden könne. Prototypisch für die unverantwortliche Überhöhung der Urheberrechts-Debatte war auch ein Zeitungskommentar am Tag nach der Kabinettsentscheidung zum Leistungsschutzrecht, in dem zu lesen stand, dies sei ein guter Tag für die Freiheit gewesen, das Gesetz setze ein Zeichen gegen die Gratiskultur im Netz, um gleichzeitig aber zuzugeben, dass man noch gar nicht wissen könne, was diese Regelung einbringen werde.

Nur ein Symbol-Gesetz also?

Aber auch als Online-Redakteur bin ich der Debatte ums Urheberrecht und vor allem das Leistungsschutzrecht befangen. Um dies an einem Beispiel zu illustrieren: ZEIT ONLINE hat das Ziel, nicht um jeden Preis Deutschlands reichweitenstärkste Nachrichtensite, in jedem Fall aber Deutschlands anspruchsvollste Nachrichtensite zu sein und genau damit profitabel zu werden, also den Beweis anzutreten, dass man im Netz auch mit anspruchsvollen Inhalten und hochwertiger User-Interaktion und nicht nur mit klickoptimiertem Boulevard Geld verdienen kann. ZEIT ONLINEs Umsätze wachsen rasant, wir sind uns inzwischen sehr sicher, dass wir das Ziel der Profitabilität erreichen werden und eine gute Zukunft vor uns haben. Noch sind wir aber nicht profitabel.

In der Debatte um das Leistungsschutzrecht wurde nun aber von Seiten vieler Verleger und auch vieler Redakteure betont, man brauche das neue Gesetz vor allem deshalb, weil man mit Journalismus im Netz ja kein Geld verdienen könne. Gegenargumente, etwa Hinweise auf hochprofitable Nachrichten-Sites wie »Spiegel Online« oder den österreichischen »Standard« werden dabei bestenfalls als Ausnahmen von einer Regel gelten gelassen. Oft werde ich noch in Diskussionen darüber verwickelt, ob die Bilanzen dieser Unternehmen denn realistisch seien, was Unfug ist.

Sie sehen, selbst wenn ich als Bürger das Leistungsschutzrecht für sinnvoll gehalten hätte, wäre zumindest die Versuchung groß gewesen, es schon allein deshalb zu abzulehnen, weil im Lauf der Debatte darüber alte Argumentationsstränge von der angeblichen Aussichtslosigkeit des Online-Journalimus propagiert wurden, die meiner eigenen strategischen Agenda schaden könnten, etwa wenn ich das nächste Mal um zusätzliche Stellen für meine Redaktion kämpfe.

Dies nur als sehr persönliches Beispiel dafür, wie schnell sich in der Urheberrechts-Debatte persönliche und politische Agenda gegenseitig beeinflussen.

Mir wird gelegentlich auch vorgeworfen, dass ja über 40 Prozent der Leser von ZEIT ONLINE jünger seien als 29 Jahre und wir schon allein deshalb das Leistungsschutzrecht — etwa in den Texten Kai Biermanns — skeptisch behandeln würden. Dieser Vorwurf lässt mich aber ungerührt. Im Lauf eines Jahres stoßen wir jede nur denkbare Klientel mindestens einmal wissentlich oder unwissentlich vor den Kopf, so dass sich das nivellieren würde. Darüber hinaus ist mit Texten über das Urheberrecht oder gar das Leistungsschutzrecht nicht viel Reichweite zu machen, auch nicht bei sehr jungen Lesern. Das Thema ist immer noch viel zu speziell.

Nun habe ich über meine Befangenheit gesprochen, worin dürfte Ihre Befangenheit als Politikerinnen und Politiker bestehen?

Vielleicht tue ich Ihnen Unrecht, aber man wird zumindest den Eindruck nicht los, dass die arrivierten Politiker, diejenigen, die bereits über gute persönliche, oft ja freundschaftliche Netzwerke in die traditionellen Medien verfügen, am wenigsten geneigt sind, beim Thema Urheberrecht progressive Positionen zu vertreten. Es scheinen in allen großen Parteien besonders die Jungen und zusätzlich noch die von den traditionellen Medien weniger Beachteten zu sein, die sich beim Urheberrecht gegen die Interessen der Verlegerverbände stellen, also all die, die ohnehin wenig Journalistengunst zu verlieren haben oder die bereits gelernt haben, dass sie auch im Netz und ohne traditionelle Medien große Öffentlichkeit erreichen können.

Ein weiterer (dritter) Punkt scheint mir in einer transparenteren Debatte über das Urheberrecht am wichtigsten. Der Mut der Politik, das scheinbar immer noch Unaussprechliche endlich deutlicher auszusprechen: Dass infolge der Digitalisierung, dann der Vernetzung im Internet und nun auch noch der rapide voranschreitenden mobilen Vernetzung via Smartphone ganze Branchen und ganze Berufszweige verschwinden werden.

Auch das schärfste und rigideste Urheberrecht würde nicht verhindern können, dass die Verlagslandschaft in den nächsten Jahren weiter aus den Angeln gehoben wird. Wer glaubt, die letzten zehn Jahre seien transfomativ und herausfordernd gewesen, sollte sich darauf einstellen, dass mit der jetzt einsetzenden Nutzungsverlagerung ins mobile Netz noch viel dramatischere Entwicklungen, Umsatz– und Auflageneinbußen bevorstehen als in den letzten Jahren. Das Urheberrecht wird das nicht aufhalten können. Und: Würde Google nicht existieren, ginge es den Verlagen keinen Deut besser.

Burgundischer Schreiber

Meine Damen und Herren, die Auswirkungen des Internet werden ja oft mit der Einführung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert verglichen. Man kann diesen Vergleich überstrapazieren. Geschichte wiederholt sich nicht. Man kann aber daraus lernen und ich glaube schon, dass uns der Blick auf frühere disruptive Erfindungen wie Buchdruck, Eisenbahn und Elektrizität helfen können, unseren heutigen, noch sehr zaudernden Umgang mit dem Internet besser einordnen, besser verstehen zu können.

Buchdruck, Eisenbahn und Elektrizität haben gemeinsam, dass ihre Einführung nicht nur das gesamte Wirtschaftsleben ihrer jeweiligen Zeit — quer durch alle Branchen — zur Neuorganisationen gezwungen hat, sondern dass sie auch eine Verschiebung kultureller Normen und Werte erzwungen haben. Am interessantesten sind dabei die alten, untergegangenen Sichtweisen und Denkarten, die wir uns heute im Rückblick am wenigsten vorstellen können. Der Versuch aber, sich in diese alten Sichtweisen noch einmal hineinzuversetzen, kann uns im eigenen Tagesgeschäft helfen, unsere eigenen Denkschranken und Scheuklappen — etwa im Umgang mit dem Urheberrecht — zumindest zu erahnen.

Beispiel Buchdruck: Für uns ist es heute leicht zu verstehen, weshalb die Einführung des Buchdruckes Voraussetzung für die wissenschaftlichen, künstlerischen, philosophischen Revolutionen der Renaissance war. In den Zeiten Gutenbergs aber galten gedruckte Bücher vor allem in der klerikal geprägten Bildungselite zunächst einmal als minderwertiger Schund und das aus plausiblen Gründen. Sie galten als Bedrohung und Gefahr für die Zukunft der Bildung und des Wissens. Handgeschriebene Bücher galten vielerorts als seriöser. Der dramatische Preisverfall, den gedruckte Bücher gegenüber handgeschriebenen Büchern darstellten, wurde eher als Bedrohung des damaligen wissenschaftlichen Betriebes angesehen, nicht als enorme Bereicherung.

Und tatsächlich haben sich ja viele damalige Ängste vor einer Überflutung der Menschen durch billige Traktate und gesellschaftszersetzende Schriften bewahrheitet: Der politische und theologische Diskurs, der zuerst in die Reformation und später in die Katastrophe des 30-jährigen Krieges mündete, wäre ohne den Buchdruck nicht in dieser Geschwindigkeit und geographischen Ausbreitung möglich gewesen. Die Ängste der damaligen Wissenselite waren also durchaus berechtigt, auch was die damalige — gefühlte — Überflutung durch gedruckte Schundliteratur, Pornographie und Pamphlete betrifft.

Trotzdem würden wir heute den Buchdruck so wenig missen wollen wie die Renaissance, die Reformation oder die Aufklärung, die durch den Buchdruck mit ermöglicht wurden. Die Historikerin Elisabeth Eisenstein beschreibt in ihrem Buch »The printing revolution in early modern Europe« sehr anekdotenreich, wie der im späten 15. Jahrhundert bedrohte Berufsstand der Schreiber seine Existenz mit immer abstruseren Argumenten zu begründen und abzusichern versuchte und damit einige Zeit Gehör fand.

 

Der auch vom amerikanischen Medientheoretiker Clay Shirky oft zitierte Abt von Sponheim schrieb 1492 sogar ein Buch über den erhabenen und auch im Zeitalter des Buchdrucks immer noch edleren Beruf der Schreiber. Sein Buch mit dem Titel: »De Laude Scriptorum« / »Zum Lob der Schreiber« ließ er dann aber doch lieber kostengünstig drucken als es handschriftlich zu vervielfältigen.

 

Weder der Abt von Sponheim, noch Johannes Gutenberg konnten voraussehen, welche revolutionären Veränderungen der Buchdruck bewirken würde. Und selbst einer der ersten großen Nutznießer des Buchdruckes, Martin Luther, soll etwa im Jahr 1530 gesagt haben, die große Zahl an Büchern sei »ein großes Übel«. Das »allgemeine Schreibfieber« kenne kein Halten mehr, jeder wolle nun ein Autor sein, manche aus »schierer Eitelkeit«, so Luther, andere um Ruhm zu ernten, wieder andere »nur des Geldes wegen«.

Gutenberg, Sponheim und Luther einte eine Sichtweise auf den Buchdruck, die von der Zeit der Schreiber geprägt war. Sie waren schlicht Kinder ihrer jeweiligen Zeit. Gutenberg teilt außerdem das Schicksal vieler großer Erfinder, die selbst nie erahnten, was sie da eigentlich erfunden hatten und welche Wirkung es entfalten würde.

Zweites Beispiel für die geradezu behindernde Hartnäckigkeit einmal erlernter Sichtweisen auf eine Technologie und für eine Werteverschiebung durch eine neue Technologie ist die Eisenbahn. Es ist heute noch gut nachvollziehbar, dass viele Menschen damals Angst vor Unfällen hatten. Schon früh wurden — im Rückblick ja sehr berechtigte — Ängste geäußert, dass Eisenbahn-Reisende schwere Unfälle erleiden könnten und dass Eisenbahnen zur schnelleren Verbreitung von Krankheiten, zu neuen Formen von Kriminalität oder auch zu neuartigen, noch schlimmeren Formen der Kriegsführung beitragen könnten. All diese Ängste haben sich ja bewahrheitet.

Die damals größten und damals populärsten Bedenken gegenüber der Eisenbahn waren jedoch ganz anderer Art und sind für uns heute am wenigsten nachvollziehbar: Die damals populärsten Bedenken galten der als dramatisch empfundenen, neuen Reisegeschwindigkeit, die die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit übersteige. Das Bayerische Obermediziner-Kollegium schrieb 1838, die schnelle Bewegung müsse bei den Reisenden unfehlbar eine Gehirnkrankheit erzeugen, weshalb man die — erst drei Jahre zuvor eröffnete Strecke von Nürnberg nach Fürth — rasch mit einem Bretterzaun einfassen müsse, um die visuellen Reize für Fahrgäste zu minimieren.

Ähnlich äußerte sich Victor Hugo. Er klagte darüber, dass man aus Zügen — im Unterschied zu Kutschen — die Landschaft nicht mehr wirklich sehen könne. Zitat Hugo: »Alles wird Streifen. Die Getreidefelder werden zu langen gelben Strähnen« und »die Bäume vermischen sich auf eine verrückte Weise mit dem Horizont«.

Ein sehr empfehlenswertes Buch dazu heißt: »Die Geschichte der Eisenbahnreise« von Wolfgang Schivelbusch.

Es ist leicht für uns, diese Äußerungen aus früheren Jahrhunderten zu belächeln. Johannes Gutenberg, der Abt von Sponheim und Luther waren aber intelligente und für ihre Zeit jeweils gebildete Menschen, wie auch Victor Hugo oder die bayerischen Mediziner, die den Blick aus einem nur etwa 35 Stundenkilometer schnellen Zug von Nürnberg nach Fürth für hirnschädigend hielten.

Wenn das damals aber intelligente Menschen waren, denen mehre Jahre offenbar nicht genügten, um sich an eine neue disruptive Technologie zu gewöhnen, könnte es dann auch sein, dass unsere heutigen Debatten über angebliche Informationsüberflutung, Netzverdummung, Online-Isolation, Kostenloskultur, »Digitale Demenz« oder gar digitalen Kulturverlust nur vergleichbare Übergangsphänomene sind?

Übergangsphänomene, die spätere Generationen im Rückblick auch — hoffentlich — gnädig betrachten mögen, während sie sich dann mit ganz anderen und viel erheblicheren positiven wie negativen Auswirkungen des Internet beschäftigen werden?

In jedem Fall sollten wir bei der Diskussion über eine Reform des Urheberrechts für das Netzzeitalter einkalkulieren, dass unser aller Blick — auch wenn Sie sich sogar für einen »digital native« halten mögen — von einer ausklingenden Ära geprägt ist und dass deshalb — und nur deshalb und nicht etwa aus Gerechtigkeitsgründen — dass deshalb die großen Profiteure dieser ausklingenden Ära nicht Ihre primären Gesprächs– und Denkpartner sein sollten, wenn Sie sich auf die Suche nach einem Urheberrecht für die Zukunft machen.“

Der vom renommierten „Medium Magazin“ 2011 zum Chefredakteur des Jahres gewählte 44jährige Wolfgang Blau wechselt ab April 2013 – nachdem er viereinhalb Jahre die Redaktion von ZEIT-Online leitete – als Direktor der Digitalstrategie zum britischen „Guardian“. Das teilte  der „Zeit“-Verlag am Dienstag in Hamburg mit.

Dez. 2012 | Allgemein, Feuilleton, Junge Rundschau, Sapere aude, Zeitgeschehen | 12 Kommentare