Khalil Gibran: 6.1.1883 (Becharré im Libanon) – 10.4.1931 (New York) war Maler, Schriftsteller, Mystiker, Rebell und gilt als einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, die sich der Tradition der philosophia perennis verpflichtet sahen. Sein berühmtestes Werk „Der Prophet“ verkündet eine Botschaft von zeitloser Wahrheit in einer metaphorischen Sprache, die natürliche Schönheit und geistige Tiefe in einzigartiger Weise verbindet. Der Prophet ist eine poetische Offenbarung, deren Tiefe sich nur dem offenen Herzen erschließt. Die ursprüngliche Fassung schrieb Gibran bereits im Alter von fünfzehn Jahren. Erst zwanzig Jahre später gab er ihr die heutige Form, nachdem er den Text mehrfach überarbeitet hatte. Vielleicht liegt hierin der Grund für die einzigartige Verbindung von jugendlicher Leichtigkeit und reifer Lebensweisheit, die den „Propheten“ weltweit zu einem Kultbuch machte. In den zwanzig Jahren zwischen der ersten und der letzten Fassung wurde Khalil Gibran von schweren Schicksalsschlägen heimgesucht. Neben unglücklichen Liebesbeziehungen gehörte dazu auch der Verlust von Mutter, Schwester und Bruder in einem einzigen Jahr (1903). Grenzenloses Leid und untrübbare Freude begleiteten Khalil sein Leben lang.
Nachdem er als Elfjähriger beim Besteigen eines Berges in die Tiefe gefallen war, trug er eine schwere Schulterverletzung davon, sodass er vierzig Tage lang in eine Schiene eingebunden war. Während dieser Zeit soll ihm der Gekreuzigte mehrfach in Träumen erschienen sein, was zu einer starken Identifikation mit Jesus führte, die besonders in seinem Spätwerk Jesus Menschensohn zum Ausdruck kommt. Anders als das Christentum sieht er jedoch in Jesus vor allem den Rebellen, der den Menschen ihren Materialismus ungeschminkt spiegelte, und den Liebenden, der in ihren Herzen das Licht einer Welt erblickte, die unvergänglich ist.
Als tief spiritueller Mensch stand Khalil Gibran den institutionalisierten Religionen ablehnend gegenüber. In Der Prophet sagt er: «Euer tägliches Leben ist euer Tempel und eure Religion.» Dieser Satz könnte ebenso von einem alten chinesischen Taoisten oder Zen-Meister stammen wie von einem christlichen Mystiker des Mittelalters oder dem radikalsten Kritiker des organisierten Glaubens unserer heutigen Zeit, Jiddu Krishnamurti.
In seiner Pariser Zeit setzte Khalil Gibran sich ausführlich mit Nietzsche auseinander, dessen Einfluss sich besonders in „Die Stürme“ und „Der Totengräber“ zeigt. Auch den Begriff des größeren Ich dürfte Gibran Nietzsches Übermenschen entlehnt haben. In einem Nachwort zu den Sämtlichen Werken bemerken die Autoren Ursula und Yussuf Assaf dazu:
«Doch Gibran versteht darunter etwas anderes. Sind es für Nietzsche Wille, Tat und Macht, die den Übermenschen ausmachen, so meint Gibran damit den transzendierenden Menschen, der zu seiner göttlichen Bestimmung findet, der sein „im Himmel geschriebenes Ich“ verwirklicht, der vollkommen wird und sich auflöst in der universellen Einheit Gottes.
Zu seinem „größeren Ich“ gelangt der Mensch, indem er still wird und seiner Seele lauscht, diesem göttlichen und ewigen Funken in ihm. Es gilt, die Seele vom Gewicht der Materie zu befreien. Die vollkommene Befreiung der Seele aus dem Gefängnis des Körpers vollzieht sich beim Tod. Für Gibran ist der Tod kein Ende sondern ein Neubeginn, und das Grab ist eine Wiege.»
Ein Jahr vor seinem Tod bekannte sich Khalil Gibran zu der herausragenden Bedeutung, die er seinem Hauptwerk „Der Prophet“ beimaß:
«Ich kam in die Welt, um zu leben und um ein Buch zu schreiben – ein einziges schmales Buch, ich wurde geboren, um zu leben und zu leiden und um das Wort lebendig werden zu lassen und ihm Flügel zu verleihen.» Was die herz-, geist- und seelenöffnende Bildhaftigkeit seiner Poesie und die natürliche Mystik in seinen Gemälden anbetrifft, zeigt sich eine geistige Verwandtschaft Gibrans zu dem englischen Mystiker William Blake.
25.Okt..2012, 15:51
Hängengeblieben von Khalil Gibran ist mir eine Art Aphorismus, ich glaube, aus seinem „Der Prophet“:
„Kinder sind Durchgangsstationen“.
Dies trifft wohl zu, aber wer möchte es wirklich so wahr haben? Diese Art von Durchgangstationen können sehr dauerhaft sein, und das ist – je nach Gusto – gut so.
Kinder werden Adoleszente und dann Erwachsene. Immer aber und ein Leben lang bleiben sie auch Kind. Wie der feministische Volksmund sagt: Vor allem die Männer!
Beste Grüße
Fritz Feder
25.Okt..2012, 20:33
Hallo, nein, von Durchgangsstationen wird hier nicht geredet. Im Original liest sich das so:
Eure Kinder sind nicht Eure Kinder.
Es sind die Söhne und Töchter
von des Lebens Verlangen nach sich selber.
Sie kommen durch euch,
doch nicht von euch;
und sind sie auch bei euch,
so gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,
doch nicht eure Gedanken,
denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Leib behausen,
doch nicht ihre Seele,
denn ihre Seele wohnt in dem Haus von Morgen,
das ihr nicht zu betreten vermöget,
selbst nicht in euren Träumen.
Ihr dürft euch bestreben, ihnen gleich zu werden,
doch suchet nicht, sie euch gleich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts,
noch verweilt es beim Gestern.
Ihr seid die Bogen,
von denen eure Kinder als lebende Pfeile entsandt werden.
Der Schütze sieht das Zeichen
auf dem Pfade der Unendlichkeit,
und Er biegt euch mit Seiner Macht,
auf dass Seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Möge das Biegen in des Schützen Hand
euch zur Freude gereichen;
denn gleich wie Er den fliegenden Pfeil liebet,
so liebt Er auch den Bogen,
der standhaft bleibt.
Khalil Gibran – Der Prophet, 15. Auflage 1983 Walter-Verlag
26.Okt..2012, 08:42
Stimmt wohl. Danke für den Hinweis. Ich hatte da wohl eher so ein Sekundärzitat im Kopf (also ein nicht korrekt zugeschriebenes). Es gab da früher mal so ein Plakat, wenn ich mich recht erinnere…..lang, lang ist´s her.
F. Feder