Wozu es Nationen gibt, habe ich nie recht verstanden. Und nun aber genau diejenigen, die am liebsten von den Nationen – von zumal  d e r  – am liebsten sprechen, konnten es mir am allerwenigsten erklären. Nicht einmal versucht haben sie´s, all die Heidelbergensier, die da bettuchheraushängend (mit Ausnahme von KWJ) Geschlossenheit zeigten …

Alleweil höre ich um mich herum die einen wie die anderen sagen, daß ich doch auch ein Deutscher bin. Jedoch verstehe ich ihre Emphase nicht so ganz: Was sie mir nämlich versichern, das bezweifle ich doch gar nicht; will es gern glauben, es ist mir seit geraumer Zeit auch recht geläufig. Jedoch werden es die Leute nicht müde, mir diese bescheidene Tatsache – in welcher Absicht auch immer – häufig vorzubringen. Ich spüre es aus den von ihnen verwendeten Worten, daß sie das Gefühl haben, als würden sie damit etwas bewiesen haben, als hätten sie mich über meine eigene Natur aufgeklärt. Und nun hätte ich mich von Stund an entsprechend – als Deutscher nämlich – zu verhalten. Wie verhält man sich nun aber als rechter Deutscher? So vielleicht?:

Richtiges Rollenverhalten

Soll dafür ein rechter  Deutscher stolz sein: Dass es „Kameraden“ gibt, die die Tücher und Fahnen von Sauberkeit und Recht und Freiheit hoch halten in mehr oder weniger fest geschlossenen Reihen? Soll ich stolz sein ? Soll ich mich genieren ? Soll ich die Verantwortung übernehmen? Und wenn ja, wofür? Soll ich mich verteidigen? Und wenn ja, wogegen? Ich weiß es nicht, wenn ich aber die haßerfüllten Gesichter meiner Gegenüber auf Podien oder sonstwo aufmerksam betrachte, kann ich erraten, welche Rolle man mir zugedacht hat, ich kann diese Rolle ausschlagen oder akzeptieren. Aber selbst, indem ich sie ausschlage, werde ich sie nicht los; vielmehr zeichnet sich in der Miene meiner Gegenüber die Reaktion auf meine Reaktion ab: Empörung oder Genugtuung, Billigung oder Wut, darüber nämlich, daß ich mich als Deutscher  so, nämlich  anders verhalte.
Meine Nationalität ist also keine Qualität, sondern eine Erwartung, die andere in mich setzen. Natürlich nicht nur eine unter vielen derartigen „Rollenerwartungen“. Auch hinsichtlich meines sozialen Status (zwar: überall dabei, aber: nirgendwo dazugehörend – schluchz), meines le(i)digen Familienstandes, meines Alters treten mir in dieser wie in jeder Gesellschaft gewisse Ideen gegenüber, die mich zu dem formieren oder deformieren sollen, was ich in den Augen der, nämlich dieser Gesellschaft zu sein habe: der Bewohner einer Stadt, in der ausschließlich Geistesriesen leben, die alleweil recht haben, ein Endsechziger, kein Familienvater und so weiter. Jedoch sind alle diese Bestimmungen um so leichter abzuschütteln, desto handgreiflicher sie sind. Die Nationalität aber – die abstraktest-illusionärste unter ihnen – ist die mit Abstand hartnäckigste.

Geschichtsbüchern trauen?

Traute ich ausnahmsweise den Geschichtsbüchern ganz – so hat es, vielleicht vor dem Ersten Weltkrieg, eine Zeit gegeben, in welcher Nationalität mehr bedeutete und war, denn psychologische Größe. Und erkläre es mir so: Auf dem Weg von der steinzeitlichen Urhorde über andere mehr oder minder merkwürdige solche hin zur planetarischen Industriegesellschaft scheint die Entfaltung der Produktivkräfte irgendwann im neunzehnten Jahrhundert einen Punkt erreicht zu haben, wo die souveräne Nation ihnen ein optimales Organisationsprinzip bot – aus dieser fernen Zeit stammen vermutlich Beschwörungsformeln wie „Buy British“, „Deutschland, Deutschland über alles“, „La Grande Nation“ „Nachtruhe ist nicht verhandelbar“ oder „Deutsche Wertarbeit“.
Seither haben sich die produktiven – gleichermaßen wie die destruktiven –  Kräfte, über welche die Menschheit verfügt solcherweise weiterentwickelt, daß die Nation als Form ihrer Organisation nicht nur obsolet, sondern zu einem lebensgefährlichen Hindernis geworden ist. Nur am Biertisch, von tumben Glatzen auf der Straße und anderen Fanatikern wird sie noch buchstäblich, oder sonstwie ernst genommen.

Nationale Identität ?

Wir haben es sehr spät zu einer nationalstaatlichen Identität gebracht, und wir haben uns nie sehr sicher in ihr gefühlt. Daher mag der hysterische Überschwang rühren, mit dem in diesem unserem Land seit 1870 der sogenannte „nationale Gedanke“ genährt wurde und wird. 1945 ist uns diese Identität abhanden gekommen, und zwar so gründlich, daß man sich fragen muß, ob von einer deutschen Nation überhaupt noch die Rede sein kann. Für einen Frankfurter – mittlerweile sogar für einen an der Oder – liegt doch, zum Beispiel, New York vor der Tür. Aber, natürlich, macht uns dies nicht gleichzeitig zu Kosmopoliten. Und das Scheinbild der Nation stellt dazu eine seelische Möblierung
„Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist“, ließ Goethe im „Faust“ den gelehrten Bakkalaureus noch sagen, wogegen Herder bereits vor 200 Jahren, als die Fürsten, deren Höflinge und Minister sowie die meisten „Gebildeten“ Deutschlands noch des Französischen als neuer Herrensprache bedienten, der studentischen Jugend riet: „Lernt Deutsch, ihr Jünglinge, denn ihr seid Deutsche!“

Gott mit uns !

Angefacht von aufkommendem Nationalismus des von der Französischen Revolution aufgeweckten, selbstbewußten Bürgertums, wurden dem Begriff „deutsch“ im 19. Jahrhundert immer positivere Bedeutungen angedichtet. Zunächst war es nur die „Gemütlichkeit und Herzlichkeit“ (Görres), dann, nach dem Sieg über das napoleonische Frankreich, auch das Fehlen jeglicher Furcht, das schon die Dichter der Freiheitskriege behaupteten. Bismarck machte einige Jahrzehnte später daraus: „Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt!“ – eine scheinbare Abschwächung, aber der angeblich als einzige Ausnahme gefürchtete Gott war längst zu einem Landsmann, zu einem deutschen  Gott und als solcher zu einem Helden geworden! Ernst Moritz Arndt hatte ihn bereits dazu gemacht, sein „Deutscher Trost“ zählt zunächst zwei ausführlich beschriebene, angeblich deutsche Tugenden auf, die sich verkürzt als Treue und Freiheitsdrang bezeichnen lassen, und schließt dann knapp: „ …
deutscher Gott und deutscher Stahl, sind vier Helden allemal“. Folgerichtig war dieser Anspruch, auf die Kurzformel „Gott mit uns!“ gebracht, noch bis ins 20. Jahrhundert hinein den Koppelschlössern und Köpfen deutscher Soldaten eingeprägt, die dann aber letztlich damit keine guten Erfahrungen machten.

Zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Größenwahn

Bekanntlich schwanken wir Deutschen zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und Größenwahn. Uns von Nachbarn angediente Kollektivbeschimpfungen tun uns gut, wir dürfen kollektiv beleidigt sein, unser Selbstmitleid wird gestärkt, unsere zerüttete Identität richtet sich auf. Gott oder wem immer sei Dank, niemand kann uns leiden!

Beschimpfungen ? Aber richtig !

Unglücklicherweise zeigt dieser Schutzschild der Rundum-Beleidigungen neuerdings Risse. So mußte eine um das Ansehen der Deutschen im Ausland stets besorgte Tageszeitung gerade melden, daß in Frankreich der gute alte „Boche“ nahezu außer Gebrauch geraten ist. Gut hundert Jahre tat das Schimpfwort, dessen Herkunft je nach wissenschaftlicher Laune entweder auf tête de boche = Holzkopf oder, noch älter, auf caboche/cabos = Dickschädel zurückgeführt wurde, gute Dienste. Jetzt ist kein Ersatz in Sicht. Denn das von Carrère im Auftrag der Pariser Polizei herausgegebene Wörterbuch des Argot verzeichnet nur matte Synonyme: haricot verde (=grüne Bohne), Fridolin, frisé (=gekräuselt) und das unvermeidliche, gemeineuropäische „Fritz“.
Schwächlich auch, was die Italiener anbieten. „Crauti“ ist angloamerikanischer Abklatsch, „crucchi“ beleidigt möglicherweise nur Behinderte. Die Dänen haben rein gar nichts vorzuweisen, außer den „Polse-Tysker“ (=Wurst-Deutschen), eine schwache Replik auf – längst aus der Mode – die Bezeichnung „Speck-Dänen“.
Im Westen schwenken nur noch die Holländer das aufrechte antideutsche Fähnlein. „Moffen“, etymologisch mit Muffel verwandt bezeichnete es ursprünglich einen ungehobelten Klotz.
Gut im Kurs liegt auch das Schweizer „Schwab“, ein schlimmes Schimpfwort, das die bekannten schlechten Eigenschaften dieses Volksstammes (als da etwa sind Belehrungssucht, Geiz, Auftreten in Rudeln) umstandslos auf die Deutschen in toto überträgt. Hingegen verfügen die Österreicher  nur über das matte „Piefke“, dessen preußischer Adressat sich längst aus der Geschichte  abgemeldet hat.
Den Tschechen darf bescheinigt werden, daß sie treu an „skopçák“ festhalten, was wörtlich die „Leute von den Hügeln“ heißt, konkret aber lediglich auf die hinterwäldlerischen Sudeten und Böhmerwald-Deutschen gemünzt ist. Bleiben uns als zuverlässigste Beschimpfer die Polen, deren „Swab“ eine ähnliche Funktion erfüllt, wie sein Schweizer Pendant. „Hitlerowcy“, Synonym für Nazis ist auf die ältere Generation beschränkt. Sprachschöpferisch, wie es die Polen sind, haben sie ein neues, dem alten „Fryc“ (=Fritz) nachgebildetes Schimpfwort hervorgebracht. Es lautet „Helmut“ – in der weiblichen Form aparterweise „Helmutka“, und stammt aus dem Milieu des freien, hauptsächlich mit „Autohandel“  beschäftigten Unternehmertums.

Sind aber wir schöpferischer?

Aus „Spaghetti“, „Polaken“, aus „Fidschis“, „Iwan“, „Tommy“, oder „Ami“ – läßt sich aus diesem Material wirklich eine zeitgemäße, euro-atlantische Beschimpfungsfront aufbauen? Wir befürchten (wissen, und sind froh drüber), dass nein! Zum – eigentlichen – Thema zurück:  Dreck ist – zwar – konterrevolutionär. Jedoch heiligt der Zweck nicht alle Mittel. Eure – LindAnerInnen – auch und schon garnicht! LindA -Leben in der ALtstadt? Leben und leben lassen! Wir leben in einem Rechtsstaat. Erfreulicherweise, wenngleich am Stammtisch auch wir geneigt wären, klammheimlich zu sagen: Manchmal Unerfreulicherweise. Eingeräumt. Aber wir, wir sagen das nicht. Nüchtern dann wieder schon gar  nicht. Aber noch dies: Wer da Öl ins Feuer gießt, statt den Konflikt zu versachlichen versucht, ist ein(e) Widerwärtling/In. Nach alledem hätten wir ja dies beinahe vergessen: A propos Baurechtsamt! Das walte Gott! –   der helfen kann? …

Aug. 2012 | Allgemein, Feuilleton, In vino veritas, Zeitgeschehen | Kommentieren