Lassen wir uns einmal fortreißen auf einem Weg des Denkens, auf dem sich nichts wiederholte, auf dem sich das Bekannte zum Unerhörten, das Gewußte zur erneuten Frage und die alten und großen Namen der Pädagogik und Philosophiegeschichte zu neuen, ein wenig verschobenen Merkzeichen wendeten.
Gerade und gewohnte Linien lassen wir labyrinthisch, das Labyrinthische aber zum Ort werden, an dem das Denken Begegnungen macht, schreckliche oder glückliche Begegnungen, mit plötzlichen Hemmungen und Hindernissen ebenso wie mit Leichtigkeiten und Tänzerischem. Das Unlehrbare lehren, das heißt, die Philosophie gegen die Philosophie, die Geschichte gegen die Geschichte, das Denken gegen das Denken lehren. Denn kein Lernen hat etwas mit Nachahmen und Nachmachen zu tun. Lernen wäre also nicht jene blasse und disziplinierte Tätigkeit, die Vorgegebenes repetiert, Fragen beantwortet und erledigt, Wissen akkumuliert und verwaltet, um es dann in kleinen Portionen wieder abzusondern. Lernen sei zunächst vielmehr aktives Vergessen.
Vergessen nämlich, daß man immer erst im Namen aller anderen sprechen müsse, bevor man im eigenen Namen soll sprechen dürfen, vergessen, daß wir eine Geschichte und mit dieser Geschichte eine Bürde haben; vergessen schließlich, daß sich alles um Wahrheit und Irrtum, richtig und falsch dreht. Nein es gehe vor allem ums Handeln, ums Tun, ums Verwirklichen und Gegenverwirklichen; man schreibe, man denke, man lerne nur auf der äußersten Spitze des Nichtwissens, auf jener Spitze, die unser Wissen von unserem Nichtwissen trennt. Nein, wir versuchen nicht, Begründer einer Schule, niemals eine jener Autoritäten zu sein, die ein gesättigtes Werk zum Nachlaß und zur Nachlaßverwaltung bietet. Nichts will hier Vorbild und Modell sein, nichts will hier imitiert werden, oder besser: Vorbild und Modell sei das Denken nur in der Weise, wie wir selbst Vorbilder und Modelle gesucht haben. So schreiben wir nicht über Spinoza und Leibniz, nicht, wie Nietzsche und Foucault geschrieben haben. Vielmehr versuchen wir, mit ihnen zu schreiben, auf der Suche nach jenem Augenblick, in dem das eigene Wort zum fremden, das Fremde aber zur Maske des eigenen wird. Es sei der Sinn philosophischsokratischer Pädagogik nicht:
Mache es wie ich, der Pädagoge, sondern: Mache es mit mir, dem Pädagogen zusammen. In größter Nähe die Unterschiede inszenieren – das mache die bejahende Kraft solcher Pädagogik aus, die die verschiedenen Personen, Namen, Figuren und Begriffe der Philosophiegeschichte herbeiruft, vorführt, auftreten läßt und verfremdet: als ein episches Theater der Philosophie.

Schulpolitische Philosophie sei:
eine Art radikaler Unterscheidungskunst. Eine Unterscheidungskunst, die nicht auf verläßliche Einteilungen spekuliert; die nicht schon weiß, was denken bedeutet; die nicht ein vorgefaßtes Bild des Denkens, des gesunden Menschenverstands und des Gemeinsinns reproduziert. Und diese Unterscheidungskunst sei dann eine politische Kunst, wenn sie zu den Unterscheidungen führt, die man an sich selbst vollzieht. Darum stand und steht über allem die Frage, die wie keine andere zum Ausdruck und zum Argument, zur pädagogischen und philosophischen Frage verstärkt werde, und zwar im Unterricht ebenso wie in verwendeten Büchern: Werdet ihr wirklich fähig sein, Begegnungen zu machen, Ereignisse zu erzeugen? Werdet ihr wirklich fähig sein zu werden, anders zu werden, als wir es sind? Der Versuch ist wert, gewagt zu werden!

Zur schulpolitischen Lage
Solange ihr Bildung mit Laufbahn oder mit sozialpädagogischer Aufbewahrung oder mit der Sicherung des jeweiligen Industriestandortes verwechselt, solange ihr nicht seht, daß ihr von euren Bildungsanstalten Unmögliches verlangt: im Gestückelten Zusammenhänge, in der Abhängigkeit den Umgang mit der Freiheit, ohne Erfahrung den richtigen Gebrauch der Theorie, ohne gesellschaftliche Aufgabe gesellschaftliche Verantwortung zu lehren, solange ihr (vor allem, sofern ihr Eltern seid) nicht wahrnehmt, was das Schulsystem euren Kindern antut: mit der ständigen Benotung, mit funktionalisierten und überlasteten Lehrern, mit der Fiktion der homogenen Klasse, mit der Dreigliedrigkeit (sprich, der Behauptung, diese werde der Verschiedenheit der Kinder gerecht) statt einer Dreihundertgliedrigkeit oder Dreitausendgliedrigkeit, mit dem 45-Minuten-Takt, mit den großen Lerngruppen und ihren notwendig kollektiven Verfahren, solange ihr das nicht wahrnehmt, ist die Krise noch nicht weit genug fortgeschritten. Ihr werdet nicht nur in weitere Mittelbeschneidungen einwilligen, ihr werdet auch nicht merken, daß eure Kinder selbst dann noch die falsche „Bildung“ bekommen, wenn die Beschränkungen aufgehoben werden, ja, ihr werdet vermutlich auch mit den aufgezählten unpädagogischen und bildungswidrigen Maßnahmen zufrieden sein, wenn sie denn nur „funktionieren“. Vor diesem Hintergrund werden wir keinen Schulverbesserungsplan mehr machen, davon gibt es genug.
Wir werden kein Klagelied über die versandete Bildungsreform schreiben, die Melodie ist bekannt. Wir mögen auch nicht mehr über die Miseren des Schulwesens jammern, sie sind kein Geheimnis. Statt dessen ist daran zu erinnern, – daß Schulverbesserungspläne seit den Jahren der Reformpädagogik auf dem Tisch liegen, um über kurz oder über lang in der Versenkung zu verschwinden, und daß nicht einmal ein Hahn mehr nach ihnen kräht; – daß es nur die „Schulreform von oben“ ist, die nicht vorankommt, während die „Schulreform von unten“ tagtäglich stattfindet. Auch in Schulen wird jeden Tag von neuem hinterfragt, diskutiert, konzeptualisiert, innoviert und auch evaluiert. Der schulische Alltag kommt ohne dieses engagierte Tun von Lehrerinnen und Lehrern, Schülerinnen und Schülern, Müttern und Väter gar nicht aus.

Schulreform von unten braucht ihre Zeit
Wem nützt es, aus diesem Alltagsgeschäft ein schulpolitisches Programm zu zimmern? Die Arbeit wird damit nicht leichter, das Geld nicht mehr – aber die Zeit, die investiert werden muß, damit der Alltag halbwegs gelingt, die wird davon nur knapper; denn dann muß ja noch mehr propagiert, organisiert, legitimiert und kontrolliert werden.
Was der „Schulreform von unten“ fehlt, ist nicht das Programm. Denn was getan werden muß, wissen die (sitzen sie nicht gerade in Stuttgart – Bielefeld ist die bessere Adresse), die sie machen, recht gut. Wo die Grenzen des Machbaren sind, braucht ihnen niemand zu sagen. Was ihnen fehlt, ist die Zeit, ihr Tun und das, was dabei mit ihnen und anderen geschieht, zu refl ektieren, zu den Fragen zurückzugehen, die ihr Tun auslöst, und den Weg zu imaginieren, auf dem sie weitergehen werden.
Es hilft nichts, in hektischer Eile ein neues Programm aufzulegen und es, kaum ist es da, durch die Mangel der Erfolgskontrolle zu drehen. Davon wird es nur platt. Was hindert uns, den Schulen die Zeit zu lassen, die sie für die Entwicklung ihrer Autonomie brauchen, sie zur Wahrnehmung ihrer Möglichkeiten zu ermutigen, statt sie durch Vorschriften und Kontrollen zu entmutigen?
Liegt die schulpolitische Hektik nur an der Kürze unserer Wahlperioden? Wahrscheinlich nicht, denn der kurzatmigen Betriebsamkeit applaudieren ja auch viele, die sich gar nicht zur Wahl stellen. Solange wir Schulkarrieren mit Zukunftsgarantien verwechseln, wird Bildung auf der Strecke bleiben. Genauso lange werden wir diejenigen, die das pädagogische Geschäft betreiben, für die Auslöser dieses Unbehagens halten und zu Sündenböcken erklären. Denn sie können der künftigen Generation jene Zukunftsgarantien nicht geben, die wir uns für sie wünschen. Schulen sind Bildungsstätten, keine Fitness-Center!

Erziehung muß, auch wenn sie sich auf die Zukunft bezieht, Heranwachsenden zu einer befriedigenden Gegenwart verhelfen. Ähnlich der Musik geschieht Bildung in der Einheit von Spiel und Übung. Sie bedarf des Ausdrucks in der ernstgenommenen Tätigkeit der Schülerinnen und Schüler. Erst dann (Gadamer) gilt: „Der Zögling würde in jedem Augenblick als Mensch behandelt werden; es bleibt müßig, darüber zu spekulieren, mit welchen Schulkenntnissen, Schulfähigkeiten, Schulfertigkeiten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene für die Zukunft ausgestattet werden müssen. Ihre Zukunft ist schließlich kein Ausstattungsproblem – und, wiewohl Marginalie -, die Pisa-Studie wird allem Möglichen, dem aber nicht gerecht …“
Wichtiger ist die Frage, was wir der nächsten Generation überliefern und hinterlassen von der Welt, in der wir leben. Wir hätten zu diskutieren, was von unseren sozialen und kulturellen Zusammenhängen wert ist, behalten und weitergegeben zu werden.

Nachzudenken und erforderlichenfalls auch zu streiten wäre über Fragen wie: Ist die vermeintliche Zukunftsbedeutung der Unterrichtsgegenstände wichtiger als ihre Geschichte und Gegenwart, oder sollte es umgekehrt sein? Können Lehrerinnen und Lehrer mit ihrer Person einstehen für das, was sie vermitteln, und sich selbst befragbar machen?
Wenn Bildungsprozesse nicht auf Formierungsprozeduren reduziert werden sollen, können sie nur im Bild der Weitergabe von einer Generation an die nächste gedacht werden. Gebildet wären dann Menschen, die sich in zukünftigen Verhältnissen orientieren können, weil sie erfahren haben, aus welchen vergangenen Verhältnissen sie kommen. Daß freilich im Schulalphabet auf A wie Autonomie U wie Usus zu folgen scheint, mindert die Chance erheblich. Wer Autonomie sagt, muß Differenzen akzeptieren. Wer Profilierung will, darf keine standardisierten Meßlatten anlegen, bei denen bekanntlich nur Mittelmaß, hingegen keine Profile herauskommen. Die Autonomie der Schulen ist nicht voraussetzungslos. Aufgrund ihrer unterschiedlichen materiellen und sozialen Bedingungen müssen sie in den verschiedenen Stadtteilen ganz unterschiedliche pädagogische Probleme lösen. Zu verhindern, daß die Autonomie der Schulen zu einer weiteren Benachteiligung der Benachteiligten führt, ist Aufgabe der Schulpolitik.

Allerdings können sich Parteien mit Schulreformen  erheblichen Ärger einhandeln. Das haben die Grünen zuletzt in Hamburg zu spüren bekommen, wo die Bürger eine längere Grundschulzeit durch einen Volksentscheid verhinderten. In Baden-Württemberg betonen SPD und Grüne nun, man werde Reformen nur im intensiven Dialog (von Volksentscheid noch keine Rede) mit den Bürgern betreiben. Das Ziel: eine „Schulreform von unten“. In zehnjährigen Gemeinschaftsschulen (die Grünen nennen das „Basisschulen“) sollen die Kinder gemeinsam lernen können, ohne auf verschiedene Schulformen aufgeteilt zu werden. Konflikte – was Wunder – sind dabei mit der traditionellen Gymnasialklientel unausweichlich. Allerdings haben viele Kommunen – auch solche, in denen die CDU dominiert – ein Interesse an wohnortnahen Schulen, in denen Jugendliche möglichst alle Abschlüsse machen können. Hier wären Geschick und Geduld der schwäbischen Koalition gefragt,  um einen „Schulkampf“ im Ländle zu vermeiden. Schaun wir mal …    (gg)

Aug. 2012 | Allgemein, Essay, Feuilleton, Junge Rundschau | Kommentieren