Brauchen wir heute noch radikale Demokratiemodelle? Wir sagen ja! Die Utopien der späten 60er Jahre sind – zwar – längst zerbrochen, aber der historische Optimismus, der diese Utopien erzeugt hatte, ist – „trotz alledem und alledem“ – noch nicht ganz aufgezehrt, die Welt scheint immer noch veränderbar. Neue Bewegungen sind entstanden,
deren Ansprüche immer noch dem „Establishment“ so unerhört und radikal vorkamen und vorkommen, dass der Streit darüber sowohl ebenso unvermeidlich, wie auch heftig war – wenn sie denn ein Forum erhielten, was selten der Fall war: der (was Wunder) Feminismus, die Ökologie, die Bürgerinitiativen und was der „Positivheiten“ mehr waren oder sind. Die Parteien und die Sozialpartnerschaft waren darauf nicht vorbereitet, standen dem wütend und ratlos gegenüber. Damals begann der Verlust ihrer Glaubwürdigkeit.
Der historische Optimismus ging von der aufklärerischen Bedeutung des Wortes aus, von der Vorstellung, dass Taten folgen würden, wenn nur lange genug geredet werde. Das hat sich als allzu kurzschlüssige Illusion erwiesen. Und doch hat sich so eine Menge verändert: den Medizinprofessor etwa, der sich auf sein riesiges „Patientenmaterial“ beruft, gibt es heute nur noch selten, den Gewerkschafter, der die Ökologen als „Spinner“ bezeichnet, noch seltener und den „Gentleman vom alten Schlag“, der sich „Emanzen“ gegenüber als „Frauenfreund“ zu erkennen gibt und dabei genießerisch zwinkert, den gibt es so gut wie überhaupt nicht mehr. Damals aber gehörten solche Typen zum Standardrepertoire.
„Unter den Talaren …“
Talare zogen seit November 1967 Spott und Tomaten mit absoluter Zielsicherheit an. Mit ihrem neu erwachten Instinkt für leere Symbole hatten Studenten die Professorentracht in dem wohl zündendsten aller Sprüche für die 68er Revolte verhohnepiepelt: „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“ reimte das Aufbegehren an den Hochschulen treffend zusammen. Die beiden Spruchträger hatten – bevor sie beim Einzug der Uniprofessoren im Hamburger Audi-Max vorneweg schritten – das schnelle Entfalten des Transparentes zuvor geübt. Jene zwei Jurastudenten fühlten wohl mehr, als dass sie es wußten, dass sie mit ihrer Provokation über den von ihnen bis dahin durchaus beachteten Rand der Konvention gegangen sind, als sie sich in den Hochschulgremien für den Abbau der akademischen Hierarchien und ein studentisches Mitspracherecht einsetzten, ohne freilich Gehör zu finden.
Die – hingegen – ehrenwerte Gesellschaft der Professoren und Honoratioren reagierte auf das Transparent mit versteinerten Gesichtern. Der ordentliche Professor für Islamkunde Berthold Spuler verlor allerdings die Contenance und rief den johlenden Studenten zu: „Sie gehören alle in ein Konzentrationslager.“ Der frühere SA-Mann verpaßte dem Transparent in seiner Aufregung das Siegel der Richtigkeit. In Tausenden von Diskussionen diente diese Szene jungen Leuten als Beleg für den Zustand des Staates,
Es gab ja nicht nur alte Nazis wie Spuler an den Hochschulen. In Bonn saß mit Heinrich Lübke ein Bundespräsident als oberster Repräsentant des Staates , der – so durfte ungestraft gesagt werden – Baupläne für Konzentrationslager entworfen habe. Es gab viele Motoren für ein neues politisches Engagement, es würde zu weit führen, hier auf all das einzugehen.
44 Jahre nach 68 …
Was tun heute jene, die den Marsch durch die Institutionen angetreten, abgeschlossen und als Bundeskanzler – wir meinen Schröder und Co. in der SPD, oder, das war Außenminister Fischer (genauso wenig heute noch – was immer das genau ist – „grün“, wie Schröder je „rot“ war, wäre er es denn je gewesen, heute – so zu sein belieben, wie sie nimmermehr zu werden versprochen, aber nicht gehalten haben?
Der Gesellschaft als eigentümlichem Feld der Politik wieder Ansehen und Würde zu verschaffen wäre heute ein wesentlicher Schritt heraus aus der Ruinenlandschaft der Adenauer-Kohl-Ära. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands kann (könnte) hier aus eigenen (zumindest Traditions)-Beständen schöpfen, um die Störungen in der Balance zwischen Individuum und Gesellschaft zu beseitigen.
Auch die Piratenpartei könnte hier ihre programmatischen Entwürfe (ja, sie haben ein Programm, etwas genauer als gar nicht hinzuschauen lohnt sich da schon) ein- und unterbringen … Es gehe dabei keineswegs nur (wiewohl auch) um die Errichtung eines gesamtgesellschaftlichen Planungssystems, sondern zudem um die Herstellung von lebensfähigen Einheiten, welche die Menschen aus dem abstrakten Gegenüber von undurchschauten Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie individuellen Lebensperspektiven herausführen.
Auch und gerade, die da seit 1968 den Marsch durch die Institutionen gegangen sind, wissen, dass die sozialdemokratischen Parteien Europas – den „68ern“ damals ohnehin als allenfalls rosarot nicht geheuer – in ihrer mit Erfolgen und Niederlagen durchsetzten, über hundertjährigen Geschichte schon häufig und gerade in schwierigen Situationen Mut und politische Organisationsphantasie gezeigt haben, um die Gesellschaft von unten her neu zu gestalten und die Ohnmacht des vereinzelten Individuums zu brechen. Von der Heidelberger SPD-Gemeinderatsfraktion soll an dieser Stelle nicht die Rede sein, damit beschäftigen wir uns demnächst. Und zwar ganz heftig vor der nächsten Wahl – in Heidelberg wie aber anderswo.
Entsprechende Organisationsformen waren Produktivgenossenschaften und Konsumvereine, Kooperativen und Banken; dahin gehört auch die Idee der Mitbestimmung. Natürlich gab es negative Beispiele gewerkschaftseigener Unternehmungen wie die Neue Heimat, Coop und einige Banken. Die aber sind nicht zugrunde gegangen, weil etwa das Prinzip von Solidarität und Selbsthilfe zu weit gegangen wäre, sondern eher, weil der Gedanke des Gemeineigentums durch allzu willfährige Anpassung an kapitalistische Marktpraktiken zersetzt wurde.
Wer hat Angst vor …
Denkmodelle des demokratische Sozialismus sind vielleicht von vielen – ängstlich – vergessen, aber keineswegs überholt. Sie sind vielmehr – nach den gerade ausgestandenen Jahren zumal – von äußerster Aktualität. Die neue Bundesregierung will (sagt sie) eine moderne Gesellschaft. Gut. Dann aber sollte sie aber alle Kraft darauf konzentrieren, die vielfältigen Vergesellschaftungsformen in den realen Lebenszusammenhängen der Menschen zu unterstützen, und entschieden gegen die weitere Plünderung und Verschleuderung des gesellschaftlichen Reichtums Widerstand leisten. Piraterie (die Partei, „die wir meinen“) als Form erfüllter Demokratie, soziale Demokratie oder Freiheit, das alles sind nur verschiedene Ausdrucksformen für die Achtung und Selbstachtung des gesellschaftlichen Gemeinwesens, das eben ein Mehr und ein Anderes ist als die Summe und die Kombination der Individuen. Kollektive Gemeinschaftsformen, die sich im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft bilden, können nicht nur die gesellschaftliche Verantwortung aufwerten, sondern auch individuelle Lebensperspektiven.
Brauchen wir (zum Beispiel) Kindertagestätten
Wer mag, kann die Folgen verwaltungstechnischer Kostenverschiebungen ganz eindeutig prognostizieren: Wenn Kindergartenplätze fehlen, wenn an den Schulen gespart wird, wenn Kommunikationszentren für Jugendliche und Ausbildungsperspektiven Jugendlicher eingeschränkt werden, dann können wir damit rechnen, dass mit einer Zeitverzögerung von wenigen Jahren die Innenminister auftreten und legitimerweise mehr Mittel beantragen für den Ausbau des Strafvollzuges, für die Erweiterung der Polizei, eben für all jene voraussehbaren Folgen, deren Bearbeitung dann aber an der Gesamtmisere nichts Entscheidendes mehr wird verändern können.
Wenn der sozialdarwinistische Überlebenskampf mit der ihm eigenen sozialen Kälte erst einmal von unserer Gesellschaft mehr als schon jetzt Besitz ergriffen haben wird, steuert sie auf eine paradoxe Situation zu: In den betrieblichen Einzelbereichen, wo sich die gesamte Energie auf vernünftige Organisation auch kooperativer Prozesse konzentriert, wird alles immer rationaler, aber die Fensterlosigkeit dieser Monaden, jener letzten in sich geschlossenen, vollendeten Einheit, hat zur Folge, dass das Ganze der Gesellschaft immer irrationaler wird. Es sind deshalb Zustände denkbar, in denen unserer ganze Gesellschaft verrückt wird – es wäre ja nicht das erste Mal in der Geschichte.
Keine Experimente?
Unsere Schulen und Universitäten („Die Uni Heidelberg bleibt „Weiterhin exzellent und in der ersten Liga“ lesen wir gerade in der Juli Ausgabe der Heidelberger Studierendenzeitung „ruprecht“ sind (und durchaus und gerade auch in Heidelberg, wir kommen darauf zurück) in einem erbarmungswürdigen Zustand. Jeder weiß das. Wir befinden uns in einer Welt voller Umbrüche, in der alte Verhaltensnormen und Orientierungsmuster nicht mehr unbesehen gelten und neue noch nicht da sind, aber intensiv gesucht werden. Auch deshalb ist die immer mal wieder ausgegrabene Formel aus dem Ende der Adenauerzeit, „Keine Experimente!“, ruinös für unsere Gesellschaft, die ganz unbedingt eines neuen geschichtlichen Lernzyklus bedarf.
Umdenken und Aufmerksamkeitsverschiebungen in dieser spektakulär veränderten Welt erfordern Anstrengungen auf ganz verschiedenen Ebenen der Gesellschaft, in den Volkshochschulen ebenso, wie im öffentlichen Schulsystem, in den gewerkschaftlichen Bildungseinrichtungen nicht weniger als in Trainingskursen des Managements. Es geht (allemal auch) um grundlegende Veränderungen in der persönlichen Ausstattung der Menschen, um ihre Identitätsprobleme, ihre Verhaltensweisen im Denken und Handeln, um den Umgang mit ihren Sinnen und Körpern.
Befreiung durch Bildung
Die alltägliche Frage lautet: Was sollen die Menschen lernen, um sich in dieser Welt der Umbrüche zurechtfinden zu können? Die ersten praktisch wirksamen Anstöße für ein Umdenken in Bildungs- und Lernfragen stammen aus den sechziger Jahren, als sich das sozialliberale Reformklima abzeichnete und es für Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen um die Aufhebung von Modernitätsrückständen ging. Daran zu erinnern ist um so wichtiger, als hier mit beispiellosem Mut zu experimentellen Veränderungen und reichhaltiger Organisationsphantasie Reformprojekte auf den Weg gebracht wurden, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Die SPD („es war einmal“) war Träger dieses Reformkonzeptes gewesen und hat gleichzeitig unter wachsendem äußeren Druck und aus innerer Mutlosigkeit den (zumal) roten Faden verloren, an den die (schwarz-gelbe) Bundesregierung heute wieder anknüpfen hätte können und sollen. Ohne kollektives Gedächtnis, ohne das Aufraffen von Problemen der Vergangenheit, die liegengeblieben sind, ist gesellschaftlicher Fortschritt nicht denkbar. Die SPD (die Piraten werden möglicherweise schaffen, enternd dies zu ändern, indem sie diese Tradition wieder mit Leben füllen, sie aufgreifen und in Praxis neu entstehen lassen) müsste sich dieser Tradition nicht schämen, im Gegenteil: Eine zweite – (nennen wir diese mal so, obgleich gerade mit diesen „Reformen auch viel falsch gemacht wurde und künftig falsch gemacht werden könnte) Bildungsreform auf allen Ebenen in Gang zu bringen, würde ihr Glaubwürdigkeit auch dort verschaffen, wo sie schuldhaft Unbearbeitetes verabschiedet hat. Wenn aber Geld und Markt die einzigen Werte sind, die das Verhalten der Menschen steuern sollen, dann muß doch ein gesunder, junger Mensch daran irre werden, dass er aus dieser Realität vertrieben wird und nichts anderes für sie besitzt als die gestaute Wut, als Enttäuschung und Ärger.
Eine Bildungsreform ist für eine Zeit, die diversen – gescheiterten – nachfolgt, ein ebenso wichtiges politisches Gemeinschaftsprojekt wie die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit und kann ebenso wenig wie diese mit Markt- und Kapital-Logig gelöst werden. Wenn der Erwerbsgesellschaft mangels Arbeitsplätzen immer mehr kreative Potentiale verloren gehen, die den Reichtum des Gemeinwesens fördern könnten, dann ist auf der Ebene von Kultur und Lernen eine ebenso große Verschwendung von Ausdruckskräften einer lernfähigen und lernbereiten Generation festzustellen. Eine Gesellschaft, die so wenig Rohstoffe hat, wie die deutsche, kann ihren gesellschaftlichen Reichtum aber nur auf den Erfindungsreichtum, die kulturelle Ausdruckskraft und die wissenschaftliche Potenz ihrer Bevölkerung stützen. Deshalb muß sich die Politik einer demnächst zu wählenden neuen Bundesregierung auch hier an einer „Ökonomie des ganzen Hauses“ orientieren. Schließlich hängt von solchen Bildungs-(!) Offensiven nicht weniger ab als der innere Zusammenhalt unserer Gesellschaft, denn eine Demokratie ohne Demokraten gibt es nun einmal nicht. Und die Demokratie ist die einzige konstituierte Form der Gesellschaft, die gelernt werden muß und die sich nicht von selbst versteht. got
22.Juli.2012, 10:35
Nein, bitte nicht. Bloß keine Bildungsreform mehr, vorerst jedenfalls, und sei sie auch noch so toll gemeint. Wir leben in anderen Zeiten. Der got-Beitrag oben bezieht sich auf 1968-1998, nun sind wir aber 1,5 Dekaden “weiter” (historisch jedenfalls), und eine Bildungsreform nach der anderen wird sowieso schon mit dem Repetiergewehr wie eine Sau nach der anderen durchs Dorf gejagt.
Warum? Weil es die neoliberal gefärbte Ideologie des “Konstruktivismus”, die gängige pädagogische Mainstream-Lehre unserer Zeit, so will.
War damals, in jenen drei Dekaden, “Reform des Bildungswesens” noch ernst zu nehmen (mitunter auch wirklich eine solche), und dringend und zurecht angesagt, indem sie aus einer heftigen Erstarrung und aus dem Verlangen der 68er und echter Reformer und Liberaler kreiert wurde, die man damals sogar noch in der FDP häufiger fand, so ist sie, die Reform, heute vor allem dieses Eine fast nur noch:
eine perpetuierte Angebotskette (und eben genau kein “Glasperlenspiel”) – offeriert und step by step verlängert von pädagogisch-didaktischen Bildungsmanagern und Geschäftemachern, die vorgeben, es ginge um die Köpfe und Herzen von Schülern/innen und Studenten/innen.
Das Ergebnis kennen wir nur zu gut: Enigmatik, Labyrinthik, scheinbare Ausweglosigkeit und Alternativlosigkeit, Verzagtheit, Verwirrung und künstlich erzeugte Selbstreferenzialität, um einen Begriff aus der Hohen Neupädagogischen Lehre zu entnehmen. Mit zwei Worten: Chaotik! Babylon!
Man muss nicht das überaus ordnende Prinzip anbeten, damit einem diese Denk- und Sprachverwirrung unangenehm auffalle und die tägliche Mahlzeit verderbe.
Sogar eine dieser durch die extrem digitalen Zeiten noch technisch verstärkten Tendenz nicht abholde Bildungsministerin wie A. Schavan hat inzwischen erkannt, dass da fast (ich betone: fast) noch der Rückgriff auf den guten alten Humboldt, den Wilhelm, die bessere Lösung wäre, wenngleich sie, die Ministerin, kaum erkennbar auch nur irgendwas dafür politisch tut.
Wir befinden uns im steten Circulus Vitiosus regiehaft abgedrehter Bildungsreformen, die das ehrenwerte Wort nicht verdienen und im Gefolge von OECD, Pisa, B. Gates, S. Jobs, M. Zuckerberg u.a. vor allem eines mit “Reform”, dem niedergemachten Wort, intendieren: Eingliederung in die Turbokapitalverhältnisse… und in diesem Kontext konsternierte Devotheit gegenüber den letzten „Meistern und Meisterinnen“ der Schul- und Hörsäle, welche sich zunehmend absentieren (distance learning), und in diesem Sinne auch Verkoppelung mit spätindustriellen Interessenten/innen, die voller kommerzieller Geilheit in die diversen “Lernorte” hineinzuwirken begonnen haben und Zugriffe üben. Das Oberstichwort hierzu lautet „Kompetenz“. Es ist der neue Bildungsbegriff geworden.
Das wird, man muss nicht übermäßig unken, noch dicker kommen …
Auf die aktuelle, politische Bildungsquantenmechanik gibt es aus meiner Sicht momentan, ich betone: in diesen Zeiten, nur eine Antwort: Schweigen wir sie müde lächelnd in den Hades hinab, auf dass ihr wahres Anliegen in den diabolischen Flammen von dort selbst herüber scheine und endlich allen, die sehen wollen und noch können, deutlich sichtbar werde.
Beste Grüße
Fritz Feder