Uraufführung von Christoph Klimkes  Auftragsarbeit „Sammlung Prinzhorn“ im Theater der Statdt Heidelberg. Choreographie und Regie: Hans Kresnik

Kresniks Exegese des Klimkeschen Textes nimmt wahr, mit seiner Regiearbeit läßt er teilhaben an der stilistischen Reife der Bilder aus dem Prinzhorn-Museum. Er zeigt  auf der Bühne eine Vielzahl getanzter bildnerischer Mehrdeutigkeit, um auch hier den ohnehin fragwürdigen Rahmen „Behinderten-Kunst“ zu sprengen; sowohl die Bilder aus Prinzhorns Sammlung wie auch diese Produktion lassen sich keineswegs in irgendeine Schublade katalogisieren – und zu etikettieren ist auch der in die – 72 – Jahre gekommene Choreograph schon gar nicht. Hingegen ist er immer noch wieder und wieder für Überraschungen gut …

Gleich zu Beginn dieses sensibel-wuchtigen Theaterabends läßt er um die zwanzig stählerne Krankenhausbetten in den Orchestergraben tosen und so mit  infernalischem Lärm verschwinden; das ist seine Art, den Rahmen Krankheit nicht nur zu sprengen, sondern auch aufzuheben. Auch die sich aus den Prinzhornschen Exponaten heraus entwickelte Bühne (Marion Eisele) – Stationen und Bilder aus der Sammlung werden auf eine staniolene Wand projiziert – sowie der Klimke´sche Text fesseln szenisch vor allem durch die unerwartet reiche Vielfalt nicht nur des bildnerischen Ausdrucks, sondern auch der archaischen Sprache wegen und der von Kresnik auf die Bühne gebrachten außerordentlichen Kraft von Visionen, von der auch letzte Details dieser ungewöhnlich und wohl eben drum verwirrenden Arbeiten durchdrungen sind, bei deren Enträtseln Beschauer in Dechiffrierlust verfallen dürfen. Auch diese Kreativität fordert Kresnik vom Zuschauer ein.

Aus Ludwig Klages „Geist als Widersacher der Seele“ – „Tanzen als Therapie, das fehlte ja noch“ wird von Autor Christoph Klimke ebenso zitiert wie Sokrates, Plato und Aristoteles, die Kirchenväter und Thomas von Aquin. Und da psychisch Kranke problemlos bei allen bedeutenden Denkern unserer Geschichte  s i n d , müssen wir mühsam bei ihnen analysieren:

Genie und Wahnsinn, diese Produktion läßt den Zuschauer an  einem ständigen Prozeß teilhaben, der, im Hindenken erst offenbar, wie ein Malstrom, ein Strudel, immer tiefer wird und alles in sich hinein zieht – ein biologisch-kosmischer Prozeß einmal mehr. Kresnik tut das auf auf seine Weise in atemberaubend schönen Endzeitbildern. Malstrom im Theater? Ja, aber ist es nicht so, dass jedes Wort, das ins Leere geht, dem kein Hören und Antworten entspricht, furchtbar wird, und derweil aber der Zuschauer sich in diesen Malstrom erst  begeben muss, sieht der psychisch Kranke von der Bühne herab, mithin aus höherer Warte, alledem zu und lacht uns aus. Kresniks Regie,  Musik, Text und Bühne helfen ihm dabei in faszinierenden Szenen, dies (und sich uns) mitzuteilen!

Hin und wieder trügt der Augenschein, man darf sich inmitten einer bunt exotischen Fabelwelt wahnen, die sich phantasiereich in einem Wust von Horror-Vacui-Zeichnungen und Bündeln von handgeschriebenen Folianten entfaltet. Illustrationen im Stil orientalischer Schmuckornamentik, die in leuchtendem Kolorit und in klar umgrenzen Formen ihre Bahnen zieht.

 

Kresnik führt uns mitsamt seinen kranken Künstlern auf eine Gratwanderung zwischen Halluzination und tiefer Einsicht, was zwar offen für mehrschichtige Erfahrungen zu sein vermag, aber so deutlich erst durch das symbiotische Zusammenspiel von Choreographie, Regie, des Textes von Christoph Klimke und der Musik Christoph Reynolds dem Betrachter nachvollziehbar macht. (Fotos: Klaus Fröhlich)

Was sich aber hier vor unseren Augen auf den die Welt bedeutenden Brettern ausbreitet, sind in der Kunst freigesetzte phänomenologische Beschreibung von Kranheitsgeschichten, die „reale“ und „imaginäere“ Vita etwa des an Schizophrenie erkrankten Adolf Wölfli.
Dem – hervorragend aufgestellten – Ensemble wird einiges, anderswo eher Unzumutbares abverlangt, Kresnik jagt nicht nur die Tänzer überall dorthin, wo die Wirklichkeit der Biographie der kranken Künstler brüchig wird, an die Wundstellen ihres Lebens, an Vermissungen, an die Schutzlosigkeit ihres Hierseins. Sie müssen robben, rollen, treten, akrobatisch springen, kriechen, klettern, hangeln, sich wälzen, einander bespringen, sie werden geschleift, geworfen, gestoßen und geschunden, in dieser Produktion läßt Kresnik einen Solotänzer als wie einen nackt-tranchierten Derwisch sich so gefährlich austoben, dass man meint, er müsse zu jeder Vorstellung einen „Neuen“ auftreiben. Nicht nur das muß er nicht, Ältere (bis alte) Tänzer werden von Kresnik nicht abserviert – er brauche Tänzer die denken“, meint er darauf angesprochen, „Technik haben sie eh drauf.“

Den Zuschauer läßt Kresnik nachdenken, jedoch nicht nachleiden, hingegen bringt er der Kranken Kunst in schaurig-schönen Endzeitbildern auf die Bühne, seine Sicht auf die psychisch kranken Künstler, deren Bilder von Prinzhorn in seine Sammlung aufgenommen wurden,  hat doch schließlich solche Formen der Unruhe überwunden; Einsichten mögen vom Betrachter bis ans Ende verfolgt werden. Was das freilich an Aufgaben im einzelnen bedeuten würde, vermag wohl niemand wirklich einzuschätzen. Auch die darin versteckten Gefahren nicht.

Während der Autor Christoph Klimke die sprachgestörte Lautmalerei des Adolf Wölfli aufnimmt, löst Kresnik die von einer eher akustischen geprägten Ebene in eine epische Sehweise auf, stellt abgeschlossene Lebensgeschichten dar als in sich verklammerten Circulus vitiosus, unangenehm-prekäre Situationen, aus der ein Entkommen unmöglich scheint, da jeder Lösungsversuch neue Probleme nach sich zieht.

Mit des genialen kranken Künstlers Wölfli und der von ihm entdeckten neue Identität in „Skt. Adolf II.“ erschafft er sich – und Kresniks Regiekonzept – mit Hilfe seiner Kunst, seiner bildnerischen und erzählenden Phantasiearbeit eine neue Welt, manifiziert sich ins Wahnhafte, übersteigert die Idee vom „Homo secundus Deus“. Womit sich auch Hans Kresnik in seinem Element befände.

In  wieder einer für Kresniks Arbeit typischen Produktion des Morbiden und Skurrilen, in der all diese Ambivalenzen sich in labilem Gleichgewicht halten, machen sie die Komplexität Kresnikscher OEuvres aus: das Groteske und Absurde dicht neben dem Abstoßenden angesiedelt, sie nehmen ihren Platz ein, wie auch das Erschreckende neben dem Schönen, das Sterbende neben der Erotik, die Faszination neben dem Ekel und das Sarkastische, Unerbittliche, Böse seinen Platz neben dem Sanften behauptet. Womit Kresnik fasziniert, verstört, erheitert manchmal, es ist das jeweils andere, das mitschwingt in der von ihm begangenen Gratwanderung, die sich mal zur einen, mal zur anderen Seite begibt. Und uns in ebenso anrührende wie groteske Wunschbildern fallen läßt, in traumatische Szenen dämonischer Exzesse einer schwarzen Magie.

 

Es scheint, als ob sowohl die Kümstler wie auch die Protagonisten auf der Bühne ihre bildnerischen und erzählenden Phantasien überall dort hin jagen, wo ihre eigene Wirklichkeit brüchig wurde, an die Wundstellen ihres Lebens, die Vermissungen, ihre Schutzlosigkeit, derweil aber die Kranken sich längst mit Hilfe ihrer Kunst und Phantasiearbeit eine eigene, eine neue Welt erschaffen, in der sich, wenngleich ins wahnhafte übersteigert, die Idee vom „Homo secundus Deus“ manifestiert. Diese bis in die Antike zurückreichende mystische Vorstellung, wonach sich beispielsweise Wölfli als auserwählter „wahnte“, der sich kraft seiner Phantasie eine Welt neu hat erschaffen können und so nicht auf die göttliche Schöpfung angewiesen wäre, nimmt in seinen akribisch gezeichneten Partituren wahrlich groteske und dämonische Züge an.

Auf der Bühne wie in Wölflis Leben wächst nun alles ins Gigantische. Und, nicht nur auf der Bühne, bläht er sich
am Ende seines Lebens zum „Oberst Fäld-Herr“ zum „glorreichen Sieger gewaltiger Riesen-Schlachten“, seine Zeichnungen drücken diese Selbstüberhöhung in der Multiplizierung des Ichs aus, und so dient auch dies wieder einer akribisch nachvollzogenen Vorlage für Hans Kresniks Regiekonzept …
Wölfli verstand sich (auch) als Komponist, seine Arbeiten bezeichnete er als „Tonstücke“, die freilich mit herkömmlichen Notationen wenig gemein haben: Sie versinnlichen jedoch die Umsetzung von Klanglauten in eine rhythmisierte, optisch nachvollziehbare Ornamentsprache:

Die in Wölflis Partitur mal zuckenden, mal tiefe Ruhe ausstrahlenden hellen Bänder mit schwarzen Lineaturen für die nicht vorhandenen Noten kristallisiert der Komponist James Reynolds als das dennoch bald sich als strenges Kompositionschema herauszustellende; die sich über oft mehrere Blattseiten hinwegziehenden Klanglaute löst Reynolds auf, indem er sprachgestörte Lautmalerei zunehmend von einer akustischen Ebene in einer nachvollziehbar-kompositorische Sichtweise mit informativem Charakter einher kommen lässt .

Mit von den kranken Künstlern aufs Papier gebrachten Stationen schaffen Kresnik und das Ensemble uns in etwa zusammengefügten Bildern Ausblicke aus Tunnelmündungen, Arkadengängen, aus Gestirnen, Zifferblättern, aus kreis- und eiförmigen Öffnungen, die sich vexierartig über die auf den Bildprojektionen auf der staniolenen Wand verteilen.
Wir werden von solchen Bildern aus dem Haus des Alltagsbewußtseins vor die Tür hinaus geworfen, oder, um Platos Gleichnis aufzugreifen, vor den Eingang der Illusionshöhle „Leben“, bis wir spüren, dass, was wir als Wirklichkeit betrachten, wie eine mediale Scheinwelt auch an uns vorbeizieht.

Langanhaltender Applaus, Bravi und stürmischer Jubel – die Zuschauer waren zwar bemüht, die einige Male aufgetauchten extremen Dezibelwerte auf der Bühne mit ihrer Begeisterung zu überschreiten. Das aber, das gelang ihnen nicht …

Jürgen Gottschling

Feb 2012 | Allgemein, Feuilleton | Kommentieren