Wir haben vor wenigen Minuten das Jahr 2011 verlassen und wollen nun – „vorwärts immer, rückwärts nimmer“ – den phantastischen Gegenwelten utopischen Denkens nachgehen und sie auf ihre Brauchbarkeit für das Hier und Jetzt befragen.
Das Kunstwort Utopie setzt sich zusammen aus der griechischen Verneinungsform ou (für nicht oder kein) und dem latinisierten griechischen Wort topos (für Ort, Gegend). Wörtlich übersetzt hieße Utopie also „Nichtort“. Gemeint hat man damit seit den Zeiten des Staatstheoretikers Thomas Morus (England, 16. Jahrhundert) einen Ort, nicht von dieser, sondern in einer anderen, einer besseren Welt.
Wir haben vor wenigen Minuten das Jahr 2011 verlassen und wollen nun – „vorwärts immer, rückwärts nimmer“ – den phantastischen Gegenwelten utopischen Denkens nachgehen und sie auf ihre Brauchbarkeit für das Hier und Jetzt befragen. Grundlage unserer Erkundung sind uns Quellentexten zur Utopie, wie sie sich seit dem 16. Jahrhundert als Staatsutopie entwickelt hat, sowie ihren alttestamentarischen und antiken Vorformen bis hin zu ihrer modernen Abart im Roman des 20. Jahrhunderts.
Es werden Immer mehr Menschen, die resignieren, die alle Utopien und jede Hoffnung fahren lassen, die meinen, sie würden „doch sowieso“ an der Realität zerschellen.
Aber, ist es nicht doch eigentlich so, dass nur wer Unmögliches will, das Potential des Möglichen auszuschöpfen in der Lage ist?
Wahrlich: Wehe einer Welt ohne realitätsüberschreitende Utopien! Wehe einer Welt ohne realitätsanerkennende Analyse!
In den Sprüchen Salomos lesen wir: „Wo keine Verheißung ist, wird das Volk wüst und wild; aber wohl dem, der auf die Weisung achtet!“ Die da immer nur das (was immer das auch sein) „Gute“ wollen, verfehlen doch beinahe zwangsläufig das Bessere. Wer aber das Wirkliche mit dem Möglichen verwechselt, betrügt sich um die Perspektive. Wer nämlich nicht zu überschreiten bereit ist, was ist, wiederholt stets das, was schon war.
Wir dürfen den Bergprediger als einen Wegbereiter in eine neue Welt verstehen, der Mut macht, nicht stets das zu wiederholen, was schon war, und nicht erneut mit aller Kraft in Sackgassen zu rennen, sondern den „neuen Weg“ auch wirklich zu wagen.
Da setzt er sich auf einen Hügel. An den Ufern des Sees Genezareth. Am Horizont erscheint die Stadt Tiberias, genannt nach dem römischen Kaiser Tiberius. Jesus spricht in einem besetzten Land.
Die Bergpredigt fordert keine Duldermoral. Sie ist dem Glück der anderen verpflichtet. Zunächst acht Preisungen, Glücksversprechungen für Menschen, die anders leben, denken und fühlen, als es die Gewalt-Konkurrenz-Welt ihnen vorschreibt, Menschen, die aus Mitgefühl für andere leben. Ein Text für Verlierer – sofern man sich der Gewaltlogik der römischen Zentralgewalt oder der Vergeltungslogik der „Barrabas-Terroristen“ unterwirft.
Die Sanftmütigen, Gerechtigkeits-Hungernden, die Barmherzigen, die Offenherzigen, die Friedfertigen werden gepriesen. Und es wird ihnen Gelingen zugesprochen – Verfolgtwerden und Scheitern wird zwar nicht verschwiegen. Aber, wer so zu leben versteht, der wird „Salz der Erde“, „Licht der Welt“ genannt. Wer so zu leben versteht, dessen „Licht soll leuchten vor den Menschen“. Ausdrücklich warnt der Bergprediger vor dem Schätzesammeln und der Sorge, vor der Illusion, durch mehr Dinge mehr Leben zu bekommen. Man kann nicht zwei Herren dienen, sondern nur einem; man könne nicht (seis mal drum) Gott und dem Geld dienen.
Die Grundsorge des Menschen um Essen, Trinken und Kleidung wird ernst genommen, aber nicht so wichtig, dass man damit täglich seine Gedanken- und Gefühlswelt besetzt, sich von Sorge zerfressen läßt, sondern in jener vertrauensvollen Kreatürlichkeit lebt, dass die Erde genug hat – genug hätte jedenfalls – für jeden. So, wie die Lilien auf dem Felde selbstverständlich leben, aufwachsen, blühen und verwelken! Lernt von den Vögeln am Himmel! Lernt von den winzigen, emsigen, fröhlich schilpenden Sperlingen!
Nach der neuen Gerechtigkeit, nach dem großen Ziel des humanen Ausgleichs zwischen allen zu trachten, nach der vollendeten, nach der installierten Gerechtigkeit, in der jeder das Seine tut und jeder das Seine bekommt; wo alle auf dieses große Ziel hin leben, werden auch die kleinen Dinge uns zufallen. „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles (was ihr täglich zum Leben braucht) zufallen.“ Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit sind dort keine Gegensätze mehr.
Lebt nicht sorglos in den Tag – aber lebt ohne Sorge vor dem morgigen den heutigen Tag, ganz und gar. Freut euch an ihm und trefft in eurem Handeln Vorsorge, daß es den nächsten Tag geben kann. In großem Zutrauen.
Die Lebenshaltung, die aus der Bergpredigt spricht, geht den Lebenshandlungen voraus. Wer sie auf einen Moralkatalog hochfahrender Sätze reduziert, hat dies nicht verstanden. Leben, das sich selbst gewinnen will, ist etwas anders als Leben, das auf einen Gewinn orientiert ist. Die Bergpredigt schärft ein, daß man nicht nur für sich selber (und in sich selber) ein „guter Mensch“ sein kann, sondern alles auf das verändernde Handeln von veränderten Menschen zielt. Keine Duldermoral von schlachtbereiten Schafen, sondern sensible, mitempfindende Aktivität, die sich das Leid anderer etwas angehen läßt, die dem Glück der anderen verpflichtet ist – aus einer Haltung inneren Glücks bei allem, was ein Mensch – Atheist oder Gläubiger – tut.