Axel Honneths Philosophie der sozialen Freiheit

Die gesellschaftlichen Verhältnisse als ungerecht anzuprangern, das muss sein dürfen, dass sie aber krank seien hingegen klingt weniger nach subjektiver moralischer Entrüstung als vielmehr nach objektiver, wissenschaftlich gestützter Diagnostik. Kritische Sachlichkeit schwebt auch dem Frankfurter Sozialphilosophen Axel Honneth vor, wenn er von «sozialen Pathologien» redet. Seine Gesellschaftskritik begnügt sich nicht mit dem Hinweis darauf, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten. Sie will nicht nur Empörung schüren, sondern schlauer machen: zeigen, was falsch läuft und warum. Im Lichte solcher Diagnosen kann man dann hoffentlich etwas genauer sehen, was man machen kann.

Metaphorik und Pathologie

Im Reden von «sozialen Pathologien» schwingt freilich auch immer etwas Metaphorisches mit. Pathologien sind Krankheitsbilder, und Krankheiten betreffen in der Kernbedeutung des Wortes Organismen. Als einen Organismus hat freilich schon länger niemand mehr ernstlich die Gesellschaft bezeichnen wollen. Das nämlich  würde in Konflikt mit dem zentralen Wert der Moderne bringen, welcher auch das Thema von Honneths neuem Buch ist: dem «Recht der Freiheit» des Einzelnen. Im Unterschied zu Organen, deren Wesen in ihrer Funktion fürs Ganze liegt, sind Individuen das, was sie sind, für und durch sich selbst: frei. Freiheit heißt – wie Honneth im ersten Teil des Buches zeigt – nicht nur, dass den Individuen niemand ohne guten Grund ins Gehege kommen soll oder dass die einzigen Grundsätze, die für deren Tun Verbindlichkeit haben könnten, selbst gesetzte Grundsätze sind. Freiheit aber bedeutet auch, dass Individuen auf der Basis wechselseitiger Achtung und Unterstützung mit anderen zusammen sein können. Das heißt dann bei Honneth «soziale Freiheit» und «Anerkennung»; und wenn sich so ein Zusammensein institutionell verwirklicht, dann meint das: «demokratische Sittlichkeit». «Sittlichkeit» steht im Untertitel von Honneths Buch, und das wiederum ist recht mutig angesichts der Tatsache, dass manche darunter völlig unbegründete, bisweilen mit Polizeigewalt durchgesetzte Konventionen verstehen. Denn was Honneth meint, sind die «guten Sitten»: das Moment von Ethik, das man bei aller berechtigten Kritik in den Formen unseres Zusammenlebens erkennen kann.

Honneth hat schon in seinen früheren Werken die These entfaltet, dass gelingendes Selbstsein und Zusammensein einander einschliessen. Jetzt baut er diese Annahme zu einer Gesellschaftstheorie aus. Recht, Moral, Markt und Politik sind die Institutionen, die dieses Zusammensein organisieren sollen. Aber bei der historischen Realisierung hapert’s – und dadurch kommt es zu «Pathologien». Honneth stellt seine Diagnosen in Form von ziemlich ausführlichen Krankheitsgeschichten. Man kann hier viel über die Entwicklung politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse lernen – vor allem über jene Europas im zwanzigsten Jahrhundert. Neben historischer, politisch-philosophischer und soziologischer Literatur werden von Honneth auch immer wieder literarische oder filmische Dokumente beigezogen; das macht die Diagnosen sehr anschaulich und plausibel, auch wenn empirische Sozialforschung dadurch natürlich nicht ersetzt werden kann. (Man fragt sich an diesen Stellen immer, ob ein anderer Film oder Roman nicht einen Gegenbeleg liefern würde.)

Die «Pathologie» der modernen Gesellschaft liegt nach Honneth darin, dass unsere wesentlichen Institutionen bei der Realisierung ihres aufklärerischen Auftrags ins Stocken geraten oder sogar gegen ihren Ursprungssinn zu wirken beginnen. Statt einander vorbehaltlos anerkennender Individuen finden wir deshalb in der Gesellschaft Typen wie dich und mich. Der rechtliche Schutz der Freiheit schlägt etwa um in ein Sich-hinter-sei nen-Rechten-Verschanzen und führt gleichzeitig zu einer «unentschlossenen, handlungsarmen Persönlichkeit» ohne «kontinuitätsstiftende Wertbindungen und Überzeugungen», die durch das «leicht genommene, häufig ironisierte Hinausschieben einer jeden tiefergehenden Entscheidung» gekennzeichnet sei.

Moral wandelt sich ihrerseits von befreiender Autonomie zu moralistischem Terror herrischer Rechthaberei: «Man versteht sich tatsächlich in der Rolle eines Gesetzgebers für eine Welt aller menschlichen Wesen.» Darin bekundet sich die «Fiktion eines unverbundenen Subjekts, welches all seine Grundsätze aus der abstrakten Perspektive einer allgemeinen Menschheit gewinnen muss». Auf dem Markt wiederum weht der steife, immer tiefer in die Gesellschaft hineinwehende Wind der Anbietermacht und der privaten Konsumhaltung, von Honneth etwa durch den SUV-Fahrer illustriert, der die Umwelt zerstört und dabei erst noch «die ethisch motivierten Radfahrer» gefährde. In der Politik herrschen Apathie bis Verdrossenheit, die daher rührt, dass die Politik sowieso hauptsächlich die Interessen «der Wirtschaft» bedient. Trotz Internet: Die Öffentlichkeit darbt.

Ob’s nun wirklich so schlimm steht oder vielleicht etwas besser aussieht: Belegt dies, wenn es zutrifft, dass unsere Gesellschaft krank ist – oder kommt das daher, dass ihre Institutionen nicht richtig funktionieren? Vielleicht geht es nicht um so etwas wie ein Organversagen der Gesellschaft, sondern darum, dass die Mittel versagen, mit denen wir unser gemeinsames Dasein regeln: Nicht die Gesellschaft ist krank, sondern manche ihrer Institutionen sind kaputt. Der Gegensatz von «krank» und «gesund» unterscheidet sich vom Gegensatz «funktionierend» – «kaputt» in einer wesentlichen Hinsicht. Was gesund oder krank ist, hängt am Gedeihen des Organismus, um dessen Zustand es geht, und kann nicht beliebig umdefiniert werden. Ob aber etwas funktioniert oder versagt, hängt ganz davon ab, was für eine Leistung man denn davon erwartet. Die Funktion eines Geräts ist keine intrinsische, sondern eine relationale Eigenschaft und als solche relativ: Was für einen Benutzer ein «bug» im Programm ist, sieht ein Entwickler möglicherweise als ein «feature»; und umgekehrt hat schon manches Gerät weit abseits von dem ursprünglich gemeinten Sinn zu seiner Funktion gefunden. Wenn Institutionen eher so etwas wie Werkzeuge als so etwas wie Organe wären, würde dies auch erklären, warum das, worüber Honneth sich beklagt: dass die Entwicklung der Märkte die soziale Freiheit aus dem Blick rückt, anderen gerade als spezifische Leistung der Märkte erscheint: Wer Geld hat oder etwas zum Tausch bieten kann, braucht sich um die Anerkennung oder Verachtung durch andere nicht zu scheren.
Nahbeziehungen

Ob nun die Gesellschaft Mängel hat oder einfach gut nachvollziehbare Erwartungen enttäuscht: Das Bild ist jedenfalls eher düster. Unter den gesellschaftlichen Sphären gibt es allerdings eine, die Honneth in überraschend warmen Farben und heiteren Tönen beschreibt: die Sphäre der Intim- und Familienbeziehungen. Schwarzmalen wäre hier ja besonders leicht: hohe Scheidungsraten, geringe Fertilität, Outsourcing des pfleglichen Umgangs miteinander durch Einliefern aller nichtproduktiven Familienmitglieder in Beaufsichtigungs- und Pflegeanstalten et cetera. Honneth sieht in den sich wandelnden Generationenbeziehungen, im Spiel mit Kindern und der Inversion der Rollen der Pflegenden und der Gepflegten im immer längeren Lebenslauf eine «Befreiung», die «uns dazu befähigt, der unvermeidlichen Periodizität unseres organischen Lebens» die Schwere zu nehmen.

Axel Honneth: Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit. Suhrkamp, Berlin 2011. 628 Seiten

Dez. 2011 | Allgemein, Essay, Zeitgeschehen | Kommentieren