Ein provokantes Buch! Da hatten wir uns schon bescheinigt, in der »Aufarbeitung« der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft geradezu Vorbildliches geleistet zu haben. Da hatten wir uns in der Gewißheit gewiegt, der Holocaust sei mittlerweile nicht nur in all seinen Dimensionen erforscht, sondern auch fest im öffentlichen Bewußtsein verankert. Und in Heidelbgerg habe es keine Arisierungsgewinnler gegeben …
Und nun kommt Götz Aly und will uns belehren, dass wir nicht am Ende, sondern in mancher Hinsicht erst am Anfang der Auseinandersetzung stehen: »Der Holocaust bleibt unverstanden, sofern er nicht als der konsequenteste Massenraubmord der modernen Geschichte analysiert wird.«
Den Anfang macht er mit einer Studie über das nach 1933 perfektionierte System der Volkszählungen, Meldegesetze und Karteikarten: Die restlose Erfassung (mit Karl Heinz Roth, 1984). Danach widmet er sich der Rolle der wissenschaftlichen Experten, die den Nazis zur Hand gingen: Vordenker der Vernichtung (mit Susanne Heim, 1991), um sich anschließend dem bis dahin kaum beachteten Zusammenhang zwischen der NS-Politik der »Völkerverschiebung« und dem Mord an den europäischen Juden zuzuwenden: »Endlösung« (1995). Es folgte ein Buch über den Holocaust in Ungarn 1944, das zeigt, wie eng Eichmanns Vernichtungsspezialisten mit der ungarischen Regierung, Verwaltung und Polizei kooperiert hatten: Das letzte Kapitel (mit Christian Gerlach, 2002). Erst kürzlich demonstrierte der ungemein produktive Forscher, was sich trotz spärlichster Überlieferung dennoch über die Lebensgeschichte eines jüdischen Mädchens, Marion Samuel, in Erfahrung bringen ließ, das 1943 in Auschwitz ermordet wurde: Im Tunnel (2004).
In der Berliner Akademie der Künste hielt einen Vortrag zum Thema Hitlers Volksstaat (wieder abgedruckt in seiner Essaysammlung Rasse und Klasse). In Abwandlung des bekannten Diktums von Max Horkheimer – »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte vom Faschismus schweigen« – stellte Aly damals fest:
»Wer von den vielen Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen.«
Mit dieser provozierenden These war zugleich ein Forschungsprogramm skizziert, dem sich der Berliner Historiker in den folgenden Jahren intensiv gewidmet hat und dessen Ergebnisse nun in seinem jüngsten Buch zu besichtigen sind.
Zunächst fragt Aly danach, wie es Hitler vermochte, seine zu Beginn noch höchst labile Herrschaft innerhalb kurzer Zeit zu festigen und ein erstaunlich hohes Maß an innenpolitischer Integration zu erreichen. Die Antwort widerspricht allen gängigen, den terroristischen Charakter des Regimes herausstreichenden Vorstellungen. Demnach war das »Dritte Reich« eine »Gefälligkeitsdiktatur«; Hitler und die Männer seiner Entourage agierten als »klassische Stimmungspolitiker«, die geradezu peinlich darauf bedacht waren, die Masse der Bevölkerung bei Laune zu halten. Zu diesem Zwecke gossen sie das Füllhorn sozialpolitischer Wohltaten aus: Familienlastenausgleich, Ehestandsdarlehen, Kindergeld, Erhöhung des steuerfreien Grundbetrags et cetera. Gleichzeitig sorgte das Regime nach dem Motto »Mehr Chancengleichheit wagen« für eine kräftige soziale Aufwärtsmobilität. Verhärtete Strukturen wurden aufgebrochen, traditionelle Hierarchien abgeschliffen. Aly spricht, in Anspielung auf eine Rede des vormaligen Bundespräsident Roman Herzog, von einem »großen Ruck«, der damals durch Deutschland gegangen sei und eine beachtliche gesellschaftliche Dynamik freigesetzt habe.
Im »völkischen Gleichheitsversprechen«, das einherging mit einer Ausgrenzung aller so genannter volksfremder Elemente, in erster Linie der Juden, lag, folgt man dieser Darstellung, die Hauptattraktion des Nationalsozialismus. »Volksgemeinschaft«, »Volkswohl«, »nationaler Sozialismus« – Begriffe der NS-Propaganda, die wir bislang eher als täuschenden Schein abzutun geneigt waren – werden hier beim Wort genommen. Sie spiegeln eine gesellschaftliche Realität, gewissermaßen die angenehme Schauseite der Diktatur.
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Politik der sozialen Fürsorglichkeit keineswegs abgebremst, sondern sogar noch forciert. Nachdrücklich weist Aly darauf hin, wie stark das Handeln der NS-Führung durch das Trauma von 1918 geprägt war – die Erfahrung des plötzlichen Zusammenbruchs des Kaiserreichs im Angesicht der militärischen Niederlage. Anders als ihre wilhelminischen Vorgänger suchten die Nationalsozialisten die Lasten des Krieges „gerecht“ zu verteilen. Für die Familien der Soldaten wurde großzügig gesorgt; sie konnten nicht selten über mehr Geld verfügen als in Friedenszeiten. Die große Mehrheit der Lohnabhängigen – Arbeiter, Angestellte, Beamte – mußte keinen Pfennig direkter Kriegsteuer bezahlen. Das Verbot von Zuschlägen für Überstunden, das im November 1939 erlassen worden war, wurde bereits im August 1940 wieder abgeschafft – »aus purem Populismus«, wie Aly anmerkt. Die Rentenreform von 1941 bedeutete eine spürbare Verbesserung besonders für Kleinrentner und bescherte mit der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung eine weitere soziale Errungenschaft.
Belastet wurden dagegen die Besserverdienenden und Vermögenden. Die exorbitanten Kriegsgewinne der Unternehmer wurden abgeschöpft, die Körperschaftsteuer erhöht, Hausbesitzer zu einer Sondersteuer herangezogen. Kurzum: Das NSRegime betrieb eine Politik der Umverteilung zugunsten der kleinen Leute. Das sicherte ihm, Aly zufolge, die Massenloyalität und bildete die Grundlage für den innenpolitischen Zusammenhalt bis zum Kriegsende.
Freilich macht der Autor deutlich, daß dieses Programm sich nur realisieren ließ durch eine rücksichtslose Ausplünderung der eroberten und besetzten Länder Europas. Zum ersten Mal werden in diesem Buch die Methoden der Kriegsfinanzierung mit gebotener Schärfe durchleuchtet, und dabei rücken Funktionsträger des Regimes ins Blickfeld, die bislang eher am Rande der Aufmerksamkeit standen – Reichsfinanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk und sein Staatssekretär Fritz Reinhardt, dazu die Fachleute im Reichsfinanz- und Reichswirtschaftsministerium, der Reichsbank, der Reichskreditkassen und Wehrmachtintendanturen. Diese Truppe junger, dynamischer, hocheffizienter Führungskräfte, von denen die meisten nach 1945 ihre Karriere fortgesetzt haben, lernte sehr rasch das Einmaleins des Unterwerfens, Ausplünderns und Erpressens.
Dem besetzten Europa wurden beispiellose Besatzungskosten und Kontributionen auferlegt. Nicht nur der Sold der deutschen Soldaten, sondern alle Dienstleistungen, Rohstoffe und Produkte wurden in der Währung des Landes bezahlt, in das die Wehrmacht eingefallen war. So wurde die Kriegsinflation exportiert – mit ruinösen Folgen für Wirtschaft und Finanzen der unterworfenen Staaten. Davon profitierten allein die deutschen Besatzer, und zwar bis hinunter zu den Landsern, die aufgrund der manipulativ festgelegten Wechselkurse plötzlich viel Geld in der Tasche hatten.
Ein Heer von Schnäppchenjägern und Abzockern stürmte Warenhäuser, durchkämmte Landstriche und kaufte hemmungslos zusammen, was zu kaufen war: Lebensmittel, Textilien, Kosmetikartikel, Spezialitäten. Millionen Feldpostpäckchen wurden in die »Heimat« geschickt und besserten hier die Rationen der »Volksgenossen« auf, während zur gleichen Zeit die Menschen in den besetzten Gebieten vor allem Osteuropas hungern mussten. Unter der Überschrift „Hitlers zufriedene Räuber“ beschreibt Aly höchst anschaulich diesen privaten Beutezug quer durch Europa. Anhand der Briefe des Gefreiten Heinrich Böll, einer in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreichen Quelle, schildert er die korrumpierende Wirkung, welche die Möglichkeit zur individuellen Bereicherung selbst auf einen Nichtnazi aus katholischem Hause ausübte.
Schnäppchenjäger gab es auch an der »Heimatfront«. Als in der zweiten Kriegshälfte immer mehr deutsche Städte zum Ziel der alliierten Bombengeschwader wurden, organisierten die staatlichen Stellen eine unbürokratische Soforthilfe. Aus ganz Europa wurden Möbel und Hausrat der emigrierten und deportierten Juden ins Großdeutsche Reich geschafft und hier an Bombengeschädigte verteilt beziehungsweise an Interessenten verkauft.
Goldhagen wird vom Kopf auf die Füße gestellt
Aus der Enteignung der Juden agierte hier als Beutemacher in großem Stil der NS-Staat, jedoch zogen auch private Profiteure ihren Nutzen aus der Enteignung jüdischer Bürger – was Wunder offenkundig auch in Heidelberg. Wecken wir so Ihr Interesse daran?: Prof. Martin Sattler telefonierte (von der damaligen OB Beate Weber gebeten, Aufklärungsarbeit zu leisten mit ihrem Vorgänger Reinhold Zundel, der – gleichwie Beate Weber, seinerzeit qua Amt Kuratoriumsmitglied in der von Portheimstiftung: „Ist denn da immer noch was da?“ war der erstaunte Ausruf von Reinhold Zundel, dem ehemaligen Oberbürgermeister von Heidelberg, als ich ihn nach seiner Erfahrung mit der von Portheim Siftung fragte. Zundel habe sich so über die undurchsichtigen Bereicherungsmachenschaften des Kuratoriums und der von außen einwirkenden „besseren Heidelberger Kreise“ geärgert, daß er nicht mehr zu den Sitzungen des Kuratoriums gegangen sei (zitiert nach einem Vortrag Martin Sattlers am im Völkerkundemuseum Heidelberg)
Hier erst mal weiter zum Buch: Im brisantesten Kapitel des Buches Das Prinzip Staatsraub stellt Aly die Frage, die merkwürdigerweise bislang kein Historiker so scharf gestellt hat: wo eigentlich das Eigentum der expropriierten und ermordeten Juden Europas geblieben ist.
Den Schlüssel sucht der Autor in der Konstellation des Jahres (das war auch das Jahr, in welchem Leontine Goldschmidt, die mit ihrem Mann Victor die Portheimstiftung gegründet hatte, aus ihrem Haus in der Gaisbergstraße 9 vertrieben wurde:) 1938. Damals erreichte die öffentliche Verschuldung aufgrund der forcierten Aufrüstung und der breitenwirksamen Steuer- und Sozialpolitik Rekordmarken; die Staatsfinanzen standen vor dem Bankrott. In dieser Situation verfielen die NS-Finanzexperten auf die Idee, sich des jüdischen Vermögens durch Umwandlung in staatliche Zwangsanleihen zu bemächtigen. Dieses Modell, so weist Aly nach, wurde im Kriege auf die besetzten und verbündeten Länder Europas übertragen. Um hier die Kriegsinflation zu bremsen und die angeschlagenen Währungen zu stabilisieren, lenkten die deutschen Besatzer die Erlöse aus dem Verkauf jüdischen Besitztums in die jeweiligen nationalen Staatskassen. Von dort flossen sie in den Besatzungskostenhaushalt, kamen also letztlich der deutschen Kriegsfinanzierung zugute.
Der Autor beschreibt den Vermögenstransfer als einen »großangelegten, gesamteuropäischen Geldwäschevorgang«. Mit solchen klandestinen Praktiken befassen sich in der Regel Kriminalisten, nicht aber Historiker. Götz Aly ist hier eine Ausnahme. Er hat in den Archiven der Finanzverwaltungen und Nationalbanken nachgeforscht – ein mühevolles Unterfangen, denn einerseits waren, aus begreiflichen Gründen, zahlreiche Unterlagen vorsätzlich vernichtet worden, andererseits verweigerten ihm manche Bankinstitute, etwa in Ungarn, die Akteneinsicht.
Dennoch ist es erstaunlich, was der Autor alles herausgefunden hat. So kann er zeigen, wie unterschiedlich die Bereitschaft zur Kollaboration in den einzelnen Ländern war. Dort, wo, wie in Belgien, Direktoren und Angestellte der Banken ihre Mitarbeit bei der Identifizierung ihrer jüdischen Einleger verweigerten, stieß die deutsche Enteignungspolitik rasch an eine Grenze. In anderen Staaten hingegen, in Frankreich oder in Ungarn, beeilten sich Behörden und Banken, den Wünschen der Besatzer nachzukommen und das Eigentum der Juden zu konfiszieren. In »geschichtskriminalistischer Kleinarbeit« rekonstruiert Aly ein besonders trauriges Kapitel: die Enteignung und anschließende Deportation der 46000 Juden von Saloniki im März 1943, bei der Deutsche und Griechen eng zusammenarbeiteten mit der Absicht, die inflationäre Drachme zu stabilisieren.
Götz Alys Untersuchung ist eine Spätfrucht materialistischer Geschichtsschreibung. Goldhagen wird gewissermaßen vom Kopf auf die Füße gestellt. Nicht ein besonders mörderischer, »eliminatorischer« Antisemitismus war, so gesehen, die entscheidende Triebkraft für den Holocaust, sondern das Interesse der NS-Führung, aus Vermögen und Besitz, ja selbst noch aus den Leichen der ermordeten Juden Europas möglichst viel Kapital zu schlagen, um sich mittels einer »Politik volksnaher Wohltaten« (in Kombination mit exemplarischem Terror gegen so bezeichnete »Volksschädlinge«) die Massenzustimmung immer wieder neu zu erkaufen.
Die Symbiose von »Volksstaat« und Verbrechen
Es fragt sich allerdings, ob damit das Motiv der materiellen Bestechung und Korrumpierung nicht beträchtlich überschätzt, das ideologische Moment, eine lange tradierte, seit dem 19. Jahrhundert intensivierte und von den Nationalsozialisten radikalisierte Judenfeindschaft, hingegen erheblich unterschätzt wird. Der fanatische Eifer, mit dem viele Deutsche bei der Ausführung des Verbrechens zu Werke gingen, das freiwillige Mitmachen aus Überzeugung, auf das Goldhagen zu Recht verwiesen hat – sie kommen in dieser Darstellung zu kurz.
Aly sieht in der großen Mehrzahl der Deutschen angepasste Mitläufer, die sich nach der Devise »Geld ist geil« der Mitnahmemöglichkeiten, die das Regime ihnen bot, dankbar erfreuten, sich ansonsten aber in passiver Loyalität übten, was indes für die Funktionsfähigkeit der Diktatur vollkommen ausgereicht habe. Das gläubige Vertrauen auf den charismatischen »Führer«, das Verfallensein an den Hitler-Mythos, das Ian Kershaw und jüngst Hans-Ulrich Wehler als stärkstes Bindemittel des Regimes beschrieben haben – es taucht nicht einmal mehr auf.
In der Quintessenz läuft das Buch auf eine neue Variante der Kollektivschuld-These hinaus. 95 Prozent der Deutschen, heißt es wiederholt, hätten direkt oder indirekt vom Massenraubmord profitiert. Hinter dieser magischen Zahl verschwimmen die sehr ungleich verteilten Grade individueller Schuld und Verantwortung. Es macht ja wohl einen gewaltigen Unterschied aus, ob zum Beispiel die Manager der Dresdner Bank rigoros das Geschäft der »Arisierungen« betrieben oder ob eine Hamburger Hausfrau bei einer Auktion einen Pelzmantel ergatterte, dessen Herkunft ihr womöglich nicht bekannt war.
Dennoch: Nie zuvor ist der symbiotische Zusammenhang zwischen »Volksstaat« und Verbrechen, zwischen den attraktiven und kriminellen Elementen des Nationalsozialismus so scharfsinnig und einleuchtend dargestellt worden. Dieses Buch gehört zu jenen seltenen Werken, die unseren Blick auf die düsterste und folgenreichste Periode der deutschen Geschichte neu schärfen.
Götz Aly: Hitlers Volksstaat – Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus; S. Fischer Verlag; 464 S., 22,90 €
09.Jan.2007, 15:24
Lieber Herr Gottschling,
in diesem Zusammenhang möchte ich auf das Buch von W.U.Eckart, V.Sellin, E.Wolgast(Hrsg)“Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus“ aufmerksam machen.
Auch im akademischen Breich ging es 1933 um „Berei- cherung“, nämlich die Besetzung von Fakultätspositionen (ohne ausreichende Qualifikation).
09.Jan.2007, 15:34
ok