Prof. Wolf Singer sprach in Heidelberg im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema: „Willensfreiheit vs. Determinismus“ mit dem Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Reinhard Merkel über „Die Schuldfrage im deutschen Rechtssystem“. Singer hat mit seiner Theorie, Entscheidungen würden bereits unbewusst getroffen, bevor wir sie wissentlich wahrgenommen haben und kontrollieren können, für einiges Aufsehen gesorgt. Wir halten, Singer zum Trotz, dagegen: Der Wille des Menschen ist frei …
Wir bedürfen keiner begründeten Willensfreiheit. Wir haben sie längst im Besitz und bedürfen keiner amtsärztlichen Genehmigung Was hat es mit Geist, Gehirn und Bewußtsein auf sich, was unterscheidet den Menschen vom Affen (Er kann lügen!) und welche Rolle spielt (hallo VWL-ler Clemens) die Spieltheorie in der Evolution („Ob ich angreifen oder fliehen oder vielleicht auch nur drohen oder bluffen soll, hängt – außer von meinem Handlungspotential – auch von dem Gegenhandlungspotential des Partners ab.“) Und seien Wolf Singer und Gerhard Roth beschieden, die gezwungen sind, den freien Willen zu bestreiten: Was wäre das doch für ein Scheißspiel, bei dem man selber keinen Zug machen dürfte … Wodurch unterscheidet sich der Mensch vom Tier? Von allen vermeintlich oder wirklich einzigartig menschentypischen Eigenschaften sind eigentlich nur drei bis vier wesentliche Phänomene übriggeblieben, die überdies auch noch eng miteinander verbunden ein psychobiologisches Syndrom bilden, das zusammen den Menschen physisch und psychisch einzigartig macht. Sprache, Einfühlungsvermögen, Bewußtseinund damit verbunden: Selbsterfahrung von Willensfreiheit. Bedauerlicherweise sind allerdings nicht alle gleichermaßen einer objektiv-externen Analyse zugänglich, wie dies für die Sprache zutrifft, die wir von außen an Mitmenschen wahrnehmen und erforschen können. Selbst sie kann man sich jedoch nicht ohne Einfühlungsvermögen vorstellen, mittels dessen einem anderen Lebewesen, ja sogar manchmal unbelebten Naturereignissen Ziele, Absichten, Wünsche und Gefühle zugeschrieben werden. Wir wissen natürlich aus Selbsterfahrung, daß wir solches nicht nur können, sondern gar nicht anders können, als dies gegenüber Mitmenschen so zu tun, doch haben ausgeklügelte Verhaltensversuche bei Tieren nichts davon oder allenfalls bei Menschenaffen Ansätze dazu erkennbar gemacht.
Evolution des Bewußtseins
Vielleicht ist dies ein Weg, die Evolution menschlichen Bewußtseins, menschlichen Denk- und Sprachvermögens, menschlicher Gedankenlesekunst als einen spieltheoretischen Anpassungsprozeß zu verstehen, der wie alle biologischen Anpassungsvorgänge am Ende sehr viel mehr geliefert hat, als von der natürlichen Selektion bestellt war: das unerschöpflich kreative menschliche Gehirn und das, was es hervorzubringen vermag; bewußten menschlichen Geist, eingebettet in bewußte und unbewußte Antriebe, Wünsche, Hoffnungen und Ängste. Damit wüßten wir zwar noch immer nicht, was Bewußtsein ist, aber wir verstünden etwas besser, was es macht und wozu wir es nutzen. Geben wir es zu: Geht es uns denn bei altbekannten physikalischen Erklärungsprinzipien der unbelebten Welt so viel anders? Schwerkraft, elektromagnetische Felder, schwache oder starke Wechselwirkung oder gar Zeit: Wer weiß denn wirklich, was das wirklich ist? Wir müssen doch froh sein, zu verstehen, was sie wie bewirken.
Bewußtsein hat seinen Preis
Natürlich kommt auch eine solche Errungenschaft wie Bewußtsein nicht ohne ihren Preis. Wir sind ja nicht nur Homo imaginativus, (der einfallsreiche Mensch), der in seinem Weltmodell agiert und es ständig durch Erfahrungen in der Wirklichkeit – selbständig und durch soziales Lernen – zu verbessern sucht, sondern auch Homo imaginarius (der wahngeplagte Mensch). Es geht dabei nicht etwa nur um Traumwelten, die kennen wir auch, aber die kennt vielleicht auch unser Hund. Wir können uns – allein oder gemeinschaftlich – auch alle möglichen Welten ausdenken und sie sogar für ganz real halten und fanatisch daran festhalten, sogar bis zur Aufopferung des eigenen Lebens: nicht zuletzt metaphysische Welten, wie Gläubige von Religionen; es reicht, daß wir – allein oder gemeinschaftlich – ganz fest daran glauben. Glauben: Dies ist das für wahr erachtete, gedachte Weltmodell, so wie es sich der Weltanschauung darstellt.
Entscheidungsvermögen
Aber da bleibt noch etwas zu bedenken, das sich aus solcher Beschreibung und Analyse eigentlich wie von selbst ergibt, als sei es ein weiteres unvermeidliches Zusatzprodukt solcher Evolution: Entscheidungsvermögen. Als Verhaltenscharakteristik können wir es weder der sammelnden Honigbiene noch dem jagenden Fuchs, weder dem dominierenden Alpha-Gorilla noch gar einem Menschen absprechen. Hinter solch scheinbarer Selbstverständlichkeit verbirgt sich jedoch nicht nur ein „schröckliches“ Ungeheuer, nämlich die Willensfreiheit, sondern es lauern hier auch mehr als zweitausend Jahre abendländische Philosophie, mehr als zweihundert Jahre neurobiologische, kausalanalytische Forschung und sogar eine scharfzüngige Feuilletonphalanx.
Willensfreiheit abstreiten
Aus der schier unübersehbaren Fülle an wissenschaftlich-literarischen Versuchen, mit dem Problem der Willensfreiheit umzugehen, will ich hier nur auf Gunther Stent, Daniel Wegner, Gerhard Roth, Daniel Dennett und Benjamin Libet verweisen und natürlich auch Wolf Singers gewichtige Beiträge dazu nicht außer acht lassen. Ich gestehe, daß mich die evolutionäre Emergenzperspektivevon Daniel Dennett besonders anzieht. Ich will hier jedoch nicht nachzeichnen, was andere anderswo viel besser dargelegt haben, sondern mich ganz auf die hochaktuelle Diskussion beschränken, in der hervorragende Neurowissenschaftler wie Gerhard Roth oder Wolf Singer genauso wie Benjamin Libet dem Menschen Willensfreiheit rundweg abstreiten zu müssen meinen und zwar, wenn die Contradictio in adjecto erlaubt ist, sogar einigermaßen »widerwillig«, vermeintlich durch unwiderlegliche naturwissenschaftliche Erkenntnisse dazu gezwungen.
Freiheit ist Wahlfreiheit
Nun möchte ich der Letzte sein, der die Gültigkeit der Naturgesetze im Bereich des Lebendigen – etwa gar unter Bezug auf metaphysisch – vitalistische Sondergesetzlichkeiten des Lebendigen – bestreiten wollte. Zwar sind wir über das mechanistisch-deterministische Naturverständnis eines Newton oder Laplace hinaus und akzeptieren nicht nur fundamentale Zufälligkeit, sondern auch die prinzipielle Nichtvorhersagbarkeit (sehr wohl jedoch oft Hinterhersagbarkeit) des Verhaltens nichtlinear dynamisch-komplexer Systeme, obwohl auch in ihnen lückenlose Kausalität aller Wirkungen und Entwicklungen gilt: zwar determiniert, aber unvorhersehbar.
Wer Entscheidungsfreiheit des Willens ernst nimmt, muß deshalb noch lange nicht die Gültigkeit der Naturgesetze im allgemeinen und des Kausalgesetzes im besonderen auch für tierische und menschliche Gehirne bestreiten. Dessen könnte nur ein epistemologischer Strohmann bezichtigt werden. Freiheit ist Wahlfreiheit, nicht Kausalfreiheit.
„Unverursacht, also frei …“
Es kann also nicht um die – tatsächlich physisch und metaphysisch – unsinnige Forderung nach Ursachenlosigkeit menschlichenHandelns zum Nachweis von Willensfreiheit gehen. (»Unverursacht, also frei«, so Wolf Singer!) Eine solche Killerhypothese soll sich kein wissenschaftlich Gebildeter zu eigen machen (von metaphysischen Interpretationen von Willensfreiheit sei hier grundsätzlich nicht die Rede). Aber selbst wenn wir die uneingeschränkte Gültigkeit des Kausalgesetzes auch für den handlungsentscheidenden Menschen voll anerkennen, bleibt doch reichlich Argumentationsraum für einen Begriff freien Willens, der nicht aus sozialpolitischen oder moralischen Gründen, wie bei Immanuel Kant, dafür Zuflucht zu einem Postulat der praktischen Vernunft nehmen muß, da es ohne Annahme freien Willens einfach nicht möglich wäre, ein moralisch verantwortliches, menschliches Leben zu führen; weil sozusagen also nicht sein kann, was nicht sein darf.
Dabei gilt erneut, wie schon für den Begriff Bewußtsein ausgeführt: Der sprachpsychologisch nahegelegten Verdinglichung von Bewußtsein, Geist und freiem Willen als einer Sache oder Substanz braucht keine Realität zu entsprechen; es kann sich geradesogut um einen Prozeß, um eine Leistung – nämlich hochkomplexer Gehirne – handeln, die wir essentialistisch zu einer Sache hypostasieren: man höre …
Irrtum vorbehalten!
Ich möchte zwei Gruppen von Argumenten gegen freien Willen hervorheben, die ich keineswegs bestreiten will. Erstens Benjamin Libets Nachweis, daß bereits vor unserem freien Entschluß zu einer Willkürbewegung im Gehirn neurophysiologische Vorbereitungen getroffen worden sind, ehe wir also einen solchen Beschluß überhaupt bewußt gefaßt haben (sehr wohl aber vorher zu fassen erwogen!).
Zweitens die ebenfalls nicht zu bestreitende Fähigkeit unseres Gehirns/Bewußtseins, nachweislich von einem Experimentator von außen, zum Beispiel durch elektrische Reize, gleichsam aufgezwungene Gehirnaktivitäten so zu interpretieren, als entstammten sie unserem eigenen, spontanen Wollen. Dies wird allerdings nur den erstaunen, der sich eine allzu einfache Vorstellung von der abbildungshaften Entstehung der Repräsentationen von Erfahrungen im Gehirn macht. Es sind ja nicht nur Sinnestäuschungen, die uns darüber belehren, daß das Gehirn/Bewußtsein eine Einrichtung ist, die aus unzureichenden, lückenhaften, oftmals sogar verfälschten sensorischen oder neuralen Inputdaten etwas möglichst Wahrscheinliches, Sinnvolles zu konstruieren vermag, um angemessen darauf reagieren zu können: Irrtümer vorbehalten – wozu und wodurch könnten wir denn sonst lernen?
Gewißheit von Freiheit
Auf zwei aber ebenfalls unabweisbare Gründe möchte ich eingehen, die mich veranlassen, an dem geistigen Konstrukt eines freien Willens oder unserer Fähigkeit zu Willensentscheidungen festzuhalten. Erstens ist es für Ego, also einen selbst, phänomenologisch so wenig möglich, den zumindest zeitweisen Besitz von Bewußtsein zu verkennen, zu leugnen oder auch nur zu ignorieren, wie dies für die Befähigung zu insoweit freien, das heißt mit der Gewißheit von Freiheit verbundenen Willensentscheidungen gelingt – nicht absolut, aber in Freiheit gewährenden Grenzen. Willensfreiheit ist eine primäre Erfahrungstatsache, unfreie Vorbestimmtheit, eine Theorie über die Wirklichkeit. Seit wann können Theorien Tatsachen widerlegen, die sie doch eigentlich erst erklären sollen?
Morgens geht die Sonne auf …
Ein manchmal gehörter Einwand, dann müsse man ja auch an die Bewegung der Sonne um die Erde glauben, weil man doch unbestreitbar die Sonne jeden Morgen aufgehen sehen könne, ist hier unzutreffend. Gesehen wird – und dies ist wieder primäre, indisputable Erfahrung – die Tatsache der Relativbewegung zwischen Erde und Sonne. Deren ptolemäische oder kopernikanische Erklärung ist ein theoretisches – prüfbares – Konstrukt aus solcher Erfahrung. Habe ich Kopernikus verstanden, dann hält meine Erfahrung keineswegs unbeirrbar an Ptolemäus fest, nur an der Gewißheit der Relativbewegung. Habe ich aber Gerhard Roth oder Wolf Singer noch so oft gelesen, dann habe ich immer noch die subjektive Primärerfahrungsgewißheit, daß ich mich entscheiden kann, ihren Argumenten zu folgen oder nicht. Was immer die physikalisch vorgeblich erzwungene Widerlegung von Willensfreiheit vorzubringen hat, es ändert nicht ein Jota daran, daß wir in dem Bewußtsein befangen bleiben, ja daß wir darauf angewiesen sind und nur so leben können, tagtäglich ununterbrochen Entscheidungen treffen zu können. Und treffen zu müssen.
Gewißheit ohne Genehmigung
Ehe Neurophysiologen, Psychologen, Physiker, Metaphysiker, Pataphysiker oder Neurophilosophen uns hochwissenschaftlich begründet Willensfreiheit zuteilen oder aberkennen wollen, haben wir sie doch schon längst in Besitz und handeln in ihrer Gewißheit, ohne dafür eine amtsärztliche Genehmigung zu brauchen. Vielleicht ist die Selbsterfahrung von Willensund Entscheidungsfreiheit sogar eine zwangsläufige Folge von Bewußtseinsvermögen im vollen, menschlichen Sinne! Dies ist mein erstes (nicht eben neues) Argument: das der subjektiven Primärevidenz von Entscheidungsfreiheit. Wie das Nervensystem es zustande bringt, daß wir in diesem sicheren Bewußtsein leben, ist freilich eine andere Frage, die ich gerne berufeneren zu beantworten überlasse. Wozu wir über diese Bewußtseinseigenschaft „Entscheidungsfähigkeit“ verfügen, dies ergibt sich sozusagen fast zwingend aus evolutionsspieltheoretischen Überlegungen, ergeben. Hart gesagt: Das wäre doch ein Scheißspiel, bei dem man selber keinen Zug machen dürfte!
Aber ich, ich bins doch gar nicht, der sich betrinken will …
Noch ein Argument für menschliche Entscheidungsfreiheit, das ich als das Argument des ganzen Ich bezeichnen möchte. Stellen Sie sich einmal vor, es würde einer sagen, er gehe jetzt mit seinem Kumpel, in dem er wohne, nämlich seinem Gehirn, ein Bierchen zischen, weil der arme Kerl doch selbst keines bestellen könne und unbedingt eine Blutverdünnung brauche: Ego – der Geist – kaufe seinem Vermieter – dem Körper – ein Bier! Das Ich ist aber kein parasitischer Mitesser oder Mitwisser des Es, sondern eigentlich dessen Besitzer, genauer: Es selbst! Eine Persönlichkeitsspaltung zwischen beiden sollte uns doch sehr befremden. Bei manchen Autoren, die über Willensfreiheit beziehungsweise über deren Nichtvorhandensein schreiben, scheint solche Persönlichkeitsspaltung jedoch gang und gäbe. Sie wollen uns nämlich glauben machen, ein Mensch sei für seine Handlungen nicht verantwortlich, weil er nämlich dafür selbst gar nicht zuständig sei; das mache alles ein unbewußtes Gehirn für ihn.
Keiner kann anders, als er ist ?
Wolf Singer hat solche Behauptungen kürzlich auf folgende verstörende Sätze gebracht: »Keiner kann anders als er ist« und »Eine Person tat, was sie tat, weil sie nicht anders konnte – denn sonst hätte sie anders gehandelt«; eine erstaunlich zirkuläre Beweisführung und darüber hinaus die Kapitulation jeder – auch der selbst bewirkten – Bildungs- und Erziehungsfähigkeit des Menschen. Selbst wenn ich einem anderen den Schädel einschlage, war ich es also gar nicht, das war doch mein Kumpel, das Gehirn. Sein Körper, der tumbe Klotz, bei dem ich lediglich als geistiger Untermieter hause, der mich sozusagen post factum von seinen Taten unterrichtet.
Der bewußtlose Körper
Wenn ich das aber nicht war: wer denn dann sonst? Was soll dies für ein seltsamer Leib-Seele/Körper- Geist-Dualismus sein, der dem Teil, der bewußt denken kann, die Handlungskompetenz abspricht, während er dem bewußtlosen Körper volle Prokura erteilt? Ich bin doch nur ein Individuum, ein ganzer Mensch, selbst wenn Biologen und Psychologen auf getrennten Wegen an mir herumforschen. Wer könnte denn behaupten, daß ich für Handlungen, an deren Vorbereitung und Ausführung mein Unbewußtes mitwirkt, keine Verantwortung trage? Uns ist doch sehr genau bekannt, daß es vermutlich keine Handlung und vielleicht nicht einmal einen Gedanken, geschweige denn ein Gefühl oder eine Willensregun gibt, in die nicht auch unbewußte, akute und erinnerte, sensorische, zentralneurale, rekursive und alle möglichen Impulse eingehen, die erst zusammen mit dem, was davon in meinem Bewußtsein angelangt, das ganze Handeln ,Wollen, Fühlen des ganzen Menschen ausmachen.
Wer schläft? Schlafe ich ?
Wenn einer bewußtlos schläft, heißt das etwa, daß dann niemand bei ihm zu Hause ist? Daß Er am Ende gar nicht schläft, sondern Es, sein Leibesgehäuse ohne dessen Ich, das im Traum davonspaziert ist? Das Ich ist immer der ganze Mensch, Leib und Seele, Unbewußtes und Bewußtsein, selbst wenn nur das von seinem gesamten senso-neuro-motorischen Leben in sein Bewußtsein dringt, was in der Entwicklung unseres Monstergehirns für nötig gehalten wurde, um ihm in den Evolutionsspielen der Wechselwirkung mit anderen Spielern Fitnesschancen, Erfolg, Befriedigung, Lust zu ermöglichen – was immer es ist, wozu das Ich mit seinem Handeln strebt. Die Ursachen seines Verhaltens mögen in den Gründen seines Handelns weder vollständig aufgehen noch eins zu eins abbildbar sein, aber sie sind beide zusammen die Antriebe der Daseinsverwirklichung und Lebensbewältigung.
“Der Mensch ist frei – und wär er in Ketten geboren …”
Being No One – da ist kein bewußtes Ich, das sich vom restlichen Organismus abtrennen ließe; aber das bringt doch nicht gleich das ganze In-Dividuum, das unzerteilbare Ich, zum Verschwinden! Daß das selbstbewußte Ich sich allerdings niemals ganz selbst durchschauen kann, ist ebenso einsichtig, denn es kann keine Repräsentation des Ich geben, die auch die Repräsentation dieser Repräsentation und weiter ad infinitum enthielte: individuum est ineffabile . Daraus entspringt des Menschen Freiheit!
Moralische Verantwortung
Was schließlich die moralische Verantwortung für unser Handeln angeht: Das neurobiologische »Ohne-Ich« wird schnell zum moralisch-verantwortungslosen »Ohne-Mich«, wenn nur noch das Es, der unbewußte Körper-Tölpel, die Regie führt. Dies hätte in der Tat dramatische Folgen. Des Menschen Willensfreiheit, nämlich seine Entscheidungsfreiheit in eigener Verantwortung zu bestreiten, nähme ihm gleichzeitig alles, was seine Menschenwürde ausmachen kann. So wie ich das Bewußtsein nur verlieren kann, wenn ich vorher eines hatte, so kann ein Mensch im Vollrausch nur deshalb nicht mehr frei entscheiden, weil er nüchtern von solcher Entscheidungsfreiheit Gebrauch machen kann. Wer Täter damit exkulpieren wollte – nicht nur Untäter, sondern genauso Wohltäter, kreative Erfinder, Schöpfer ihrer Werke –, daß sie ja alle nichts dafür können, würde damit nicht etwa bemitleidenswerte Straffällige vor unfairer Verantwortlichkeit und Verurteilung schützen: Er behandelte sie nicht anders als einen beißwütigen Hund, als jede beliebige Kreatur, die für ihr Verhalten nicht verantwortlich gemacht werden kann. Menschenwürde bedeutet immer Entscheidungsfreiheit und damit Zurechnungsfähigkeit von Handlungen.
Menschenwürde des Täters
Andersherum: Wer Mensch ist und im Bewußtsein der Strafwürdigkeit seiner Tat dennoch Böses tut, trägt dafür die Verantwortung und muß auch die Folgen, zum Beispiel soziale Strafen, übernehmen – weil er auch als Straftäter eben ein Mensch ist und kein Zombie, kein Roboter, keine tollwütige Bestie und auch keine rein physikalische Monsterwelle. Verantwortlich ist für sein Handeln, wer imstande ist, Gründe und Folgen von Alternativen abzuwägen, nicht etwa nur, wer ursachenlos handeln könnte – was wäre dies für eine Unsinnsforderung, was für eine Karikatur von Willensfreiheit. Bewußtsein erlaubt eben dies: zwar nicht alle Gründe und alle Folgen abzuwägen, aber doch im Rahmen des Menschenmöglichen abzuwägen – und dann die Entscheidung des ganzen Ich für das Gewollte zu treffen. Erst diese Freiheitszuschreibung respektiert auch die Menschenwürde des Verbrechers. Zu befreien wäre dann von den Folgen seiner Taten nur, wer durch schwere neurale und geistige Störungen, also etwa Psychosen, Demenz, Wahnvorstellungen usw. als unfähig beurteilt wird, die Strafwürdigkeit, das moralisch und rechtlich Verwerfliche und Verbotene seines Handelns zu begreifen; wer solchem Wissen deshalb also keinen Einfluß auf die Ursachen seines Handelns geben kann.
Glaube
Es sind vor allem drei Vorstellungen, die vielen Menschen helfen, ihrem Leben tieferen Sinn zu geben: der Glaube an die Existenz eines persönlichen, belohnenden und bestrafenden Gottes; der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele; der Glaube an die Willensfreiheit des Menschen in sittlicher Autonomie. Immanuel Kant, durch David Hume unsanft aus dogmatischem Schlummer erweckt, hat uns diese drei Schlaftabletten als Postulate praktischer Vernunft wiederverordnet. Die ersten beiden Glaubensvorstellungen sind wissenschaftlicher Überprüfung nicht zugänglich.
Des Kaisers Kleider
Was die Willensfreiheit betrifft, kann sich Wissen von Glauben emanzipieren, da nicht Glaubenslehren, sondern primäre Selbsterfahrung deren Grundlage ist – und als eine einzigartige Leistung unseres Gehirns auch wissenschaftlicher Befassung zugänglich.
Das Problem der Willensfreiheit – einer Aporie, mit der wir wie mit dem Begriff des Unendlichen leben müssen – ist keineswegs gelöst. Wer sich nur ein wenig über das orientiert, was seit mehr als zweitausend Jahren über Willensfreiheit gedacht und geschrieben worden ist, weiß, daß es schwer ist, Neues darüber zu denken oder zu sagen. Manchmal hat man allerdings den Eindruck, daß dabei des Kaisers neueste Kleider doch des Kaisers ganz alte Kleider sind.
Jürgen Gottschling
06.Mai.2011, 10:12
Fritz Feder sagt:
20.Mrz.2010, 20:29
In der Frage des freien Willens bin ich ganz Dialektiker. Der Leser dieses Kommentars möge sich leicht in Geduld üben…
Es gibt ihn nicht, den freien Willen, insoweit alles sichtlich vorbestimmt ist. Man tritt aus einem Haus und ein nasses Blatt fällt einem auf den Kopf. Man denkt: so ein Zufall ausgerechnet jetzt! Es war jedoch kein Zufall. Denn dass das nasse Blatt genau in jenem Moment vom Baum fiel, als ich da war, ist genauso durch kausale Sequenzen determiniert (Wind, Stamm, Ast,Wasseraufnahme, Regen, Wachstum, usw.) wie der Umstand dass ich, exakt ich, just in dem Moment unter das fallende Blatt getreten bin, als es sich vom Baum gelöst hatte, genauer gesagt: gelöst wurde. Auch mein Handeln war – ausgerichtet auf jenen besonderen Moment hin – determiniert, als mir das Blatt auf den Kopf platschen sollte (Bier holen, Geschäft gleich zu, Schlüssel mitnehmen, Schuhe anziehen, kurz ausgerutscht, usw.). Nur eben aus einer anderen Richtung, von einer anderen Kausalkette her…
Sagen wir so: Der Begriff “Zufall” ist eigentlich besser ausgedrückt durch das Wort Koinzidenz. Dies meint – engl. coincidence – das Zusammentreffen von Ereignissen. Wir nennen es in Deutschland (und anderswo) Zufall. In spanischsprachigen Ländern hat man das Wort casualidad oder coincidencia, also eine Auswahl. Aber egal. Wir sind determiniert.
Ich kann mir natürlich, mag man denken, im letzten Moment einen Ruck geben und etwas später oder früher aus dem Haus gehen; dann fällt mir kein Blatt oder ein anderes auf den Kopf.
Aber dann käme auch kein Bewusstsein über den gerade weiter oben beschriebenen Vorfall zustande. Und das, was nun stattdessen passierte oder unterbliebe, wäre halt ebenfalls “Koinzidenz”. Zufall.
Zufall, dass meine Matte oben nicht nass wurde. Denn ich habe mich nicht entschieden, früher oder später aus dem Haus zu gehen, um das Blatt auf meinem Kopf pappend zu vermeiden. Auch in diesem anderen Fall “erlag” ich einer Kausalketten-Entscheidung.
So ist es also mit dem freien Willen,denke ich. Auch der ist pro Person prädeterminiert, also letztlich in einem idealistischen Sinne nicht vorhanden. Wir scheinen zudem nicht überwiegend bewusst zu handeln, Freud lässt grüßen. Schon das berühmte Libet-Experiment zeigte zudem, dass es Vorschaltungen, also Determinismen gibt. Mini-Sekundenschnell, um es vereinfacht auszudrücken.
Nun kommt aber das (für mich) Entscheidende, die Antithese im oben angedeuteten dialektischen Denkprozess: Unser Wille ist – in einem anderen Sinne – eben doch frei. Denn es bin ich, ich bin es, dem das Blatt auf den Kopf fällt und ich, der so gesteuert wurde und kein anderer.Das, was mir passiert, kann – philosophisch ! – keinem anderen Menschen passieren – allenfalls in einer anderen Situation und sei, was geschieht, auch noch so ähnlich oder gleich. Ich bin insoweit authentisch, nicht klonbar. Ich bin frei, weil ich es bin. Ein handelndes Individuum, das durch seine “Vormarkierungen” des Lebens und Alltags anders handelt in concreto als jedweder Andere.
Synthese: Also bin ich ein freier Willensmensch, ferngesteuert. Es kommt eben darauf an, wie man Freiheit definiert. Ich ist in diesem Fall ich, ich ist in diesem Fall nicht ein Anderer, frei nach Rimbaud.
Banal? Ja schon, aber viel mehr liegt in der Ausgangsfrage (siehe oben) auch nicht drin! Es ist eine typische Frage, die uns Herzklappendeckelrosten verursacht. In der unauflösbaren Widersprüchlichkeit liegt die Antwort.
Wer glaubt, der Wille sei beherrschbar, ist -sorry- ein Zwanghafter. Wer glaubt, der Wille sei frei, ist -sorry – ein Illusionist.
Beste Grüße
Fritz Feder