Ruhig kaufen die Japaner die Geschäfte leer – während ein Atomgau droht. Die kontrollierte Disziplin der Inselbewohner ist beispielhaft. Hysterie und Panik brechen nicht aus. Warum ertragen sie ihr Schicksal beinahe stoisch?

Ochitsuku, ruhig bleiben, sagen sich die 130 Millionen Japaner. Im Angesicht des drohenden Atomgaus, schwerer Verwüstungen und tausender Toten scheint die Panik kontrolliert zu verlaufen. Kontrollierter als die Meldungen, Dementi und Gerüchte über das, was sich in den heiß laufenden Reaktoren abspielt.

Am Samstag noch war Tokios Innenstadt wie ausgestorben. Doch bereits am Sonntag, als die Nachbebeben in der Megacity nachließen, gingen die Menschen wieder raus. In einer Art kontrollierter Panik deckten sie sich mit Notwendigem zum Überleben ein. «In Tokio sehe ich keine Panik. Es ist ruhig hier. Die Leute versuchen, sich vorzubereiten», sagt Wilhelm Fosse, Politikwissenschaftler, International Christian University in Tokio im Interview mit Deutschlandradio Kultur.

«Die Menschen haben sich eingedeckt, mit Batterien, falls der Strom abgeschaltet wird», erklärt er. Ebenfalls sollen Taschenlampen ausverkauft sein. Männer tanken die Autos voll. Der Reisvorrat zu Hause wird aufgestockt. Wer weiß, ob die Kornkammern Japans überhaupt wieder liefern, ob das Getreide möglicherweise verstrahlt wird.

Ruhig und rational – die Außenhülle des Japaners

Trotz des Chaos und einer möglichen atomaren Katastrophe betritt er den Raum leise: Japans Premierminister Naoto Kan hält seit dem Beben, das die Pazifik-Insel erschüttert hat, fast im Stundentakt Pressekonferenzen ab. Die laufen stets nach demselben Muster ab: Kan verbeugt sich kurz vor der Masse an Journalisten, die aktuelle Infos zur Lage erwartet. Kan trägt immer seine Montur aus blauer Jacke und blauer Hose. Er steigt auf das Podest mit dem Rednerpult, verbeugt sich abermals vor der japanischen Flagge.

Und dann erklärt er, dass es sich um die schlimmste Katastrophe für Japan seit dem Zweiten Weltkrieg handelt. Dass die Menschen jetzt noch näher zusammenstehen sollen. Dass Japan diese Krise überwinden wird. Sein Ton bleibt ruhig und rational. Als ob er das Wort zur Woche spricht. Fast keine sichtbare Emotion. Informieren, vielleicht auch beschwichtigen.

Das liegt auch an einem Gegensatz, auf dem die japanische Gesellschaft fußt: Das Private ist strikt vom öffentlichen Raum getrennt, so erklärt es Michael Kinski, Japanologe an der Universität in Frankfurt am Main. Im Privaten, im uchi, haben die Gefühle Platz. Der soto-Raum, die Öffentlichkeit, ist geprägt durch das Rationale, hier haben Gefühle keinen Platz.

Japanischer Knigge empfiehlt: Halten Sie die Affekte unter Kontrolle!

Grund dafür ist laut Wissenschaftler Kinski die enge Kooperation, die sich in japanischen Dörfern in den vergangenen Jahrhunderten entwickelt hat – und die zu speziellen Verhaltensmustern der Dorfbewohner führte. Die Menschen trafen alle Entscheidungen gemeinsam, die Dörfer verwalteten sich selbst. Menschen machten die meiste Tätigkeiten selbst, Tiere als Arbeitskraft waren selten. «Dazu mussten die Gefühle des Einzelnen in den Hintergrund treten, um das Funktionen der Dorfgemeinschaft zu gewährleisten», sagt der Japanologe.

Und natürlich existiert auch ein japanischer Knigge, der die gelernten Verhaltensweisen weiter reproduziert. Der gibt Hinweise, wie man sich in gewissen Lebenslagen zu verhalten hat. «Es geht darum, Affekte unter Kontrolle zu halten – und ein verlässliches und berechenbares Verhalten der einzelnen Personen zu garantieren.» Denn unkontrollierte Affekte seien für das Zuammenleben in einer Gesellschaft abträglich. Das gilt zwar für jede Gesellschaft, durch die enge Kooperation in den japanischen Dörfern aber war es für die Bewohner offenbar extrem wichtig. Und dass besonders emotionale Nationalitäten – man denke an Italien – nicht besonders leistungsfähig sind, ist auch klar.

Der Professor für die Kulturgeschichte Japans war selbst beim Kōbe-Beben 1995 in Kyoto und hat den Umgang der Japaner mit dem Beben erlebt. «Die Japaner wachsen damit auf, dass Taifune, Erdbeben und Tsunamis zum Alltag gehören», sagt er im Gespräch mit news.de. Sie seien schon vom Kindergarten an darauf vorbereitet. Schulausbildung, der Katastrophentag im November, an dem jährlich der Notfall simuliert wird.

Die angepasste Gesellschaft

So ist der Gedanke an eine mögliche Katastrophe ist allgegenwärtig in Japan. Neben den Schreibtischen in den Büros liegen Helme, stehen Notfallrucksäcke, ausgeteilt vom Arbeitgeber, erzählt Gabriele Vogt, Professorin für Japanologie an der Universität Hamburg, im Spiegel. Sie enthalten Decken, Seile, Handschuhe, Wasser, Bunsenbrenner – ein Survial-Kit für die ersten zwei bis drei Tage. Auch Privathaushalte haben die Rucksäcke. Für einen Single kosten sie rund 3000 Yen, rund 30 Euro. Seit den sechziger Jahren gehören sie zum japanischen Alltag, verkauft werden sie in Kaufhäusern und Baumärkten.

Man passt sich an. Dass die Japaner nun ernsthaft gegen die Atomkraft rebellieren, die die Insel bedroht – dafür ist die Erregungsschwelle zu hoch, sagt Politikwissenschaftler Wilhelm Fosse. «Es müsste in Japan schon ein Gau passieren, damit es eine grundsätzliche Debatte über die Atomkraft gibt.» news.de – jg

Mrz 2011 | Allgemein | Kommentieren