Die Landtagswahl in Baden-Württemberg steht vor der Tür, und wir dürfen uns, uns tröstend getrost damit beschäftigen, dass man wirklich nicht alles wollen könne, was man vorgeblich haben kann. Gibt uns diese Wahl, geben uns Wahlen überhaupt irgendeine Freiheit? Handlungsfreiheit etwa, als Tun- und Lassenkönnen, was man will? Was aber eben leider dann doch nicht gerade schon die Willensfreiheit einschließen würde – als Wollenkönnen, was man will. Dennoch: Gehen S i e zur Wahl. W i r  hingegen versuchen Ihnen im Folgenden (versprochen), Ihr Kreuz mit dem Kreuz  noch schwerer zu machen, als es ohnehin – zu sein scheint! Und (Überraschung?) eine Wahlempfehlung haben wir auch für Sie …

Ambitionen in bescheidenen Grenzen!

Wahlkämpfer machen  den Eindruck von (wenn auch brav gescheiteltweißzahnig- hinterwäldlerischen) Raufbolden, die in unserem demokratischen Staatswesen (mit Ambitionen in freilich eher bescheidenen Grenzen) gegeneinander antreten. Durch einen unverändert außergewöhnlich erhalten gebliebenen  Umstand kann das Streben, die absolute Mehrheit in der Regierung für vier Jahre lang zu erhalten, derart extreme Formen annehmen, dass alles, was unsre Erde überhaupt zu bieten und je zu bieten hatte, von ihnen aufgeboten wird. Derweil im Zuge der Propagierung eines politischen Weltbildes zwischen Alltagsgeschehen und dem Sinn der Geschichte eine Verquickung hergestellt wird, die – in ihrer entweder marxistischen, liberalen, nationalen oder gar kosmopolitischen Ausprägung – dem Politiker die geradezu göttliche Verantwortung überträgt, die Schöpfung nachhaltig zu bewahren, fortzuführen oder zu korrigieren.

Was ist eine politische Vision der Welt?

Zunächst von der Vorstellung  v o n  der Welt. Zu ihr gehören ein Sehender und eine „Sicht“; sie bestimmen einen idealen Ort, einen „Blickpunkt“, von dem aus der sichtbare Teil der Welt sich einem “richtig“ – oder  auch „politisch“ – eingestellten Auge darbietet. Sind doch schließlich die Fragen, denen sich Politiker zu stellen haben, ihrem Wesen nach nicht ausschließlich politischer Natur. In der Glotze, auf Plakaten und auch sonst allüberall sind doch zumindest scheinbar Produktionsweise und Warentausch (politische Ökonomie) sowie der Nutzen der Umwelt in Zeit und Raum (Öko? – logisch!) immer mehr zu Kernfragen der ideo-logischen und wahlpolitischen Auseinandersetzungen geworden. Nachdem „die Politik“ die Welt als „Ganzes“ zum Streben und Ziel ihrer Mühe bestimmt hat, wurde um der Einfachheit halber eben alles zum Politikum.

Den längsten Glanz, haben sich Staaten – wenngleich ohne besondere Voraussetzungen wie etwa Staatsvolk oder Staatsgebiet – die Republik Rom und die Republik Venedig erhalten. Deshalb vielleicht, weil Rom und Venedig ihren Regierungen lediglich eine ganz kurze Frist gaben, höchstens zwei oder drei Jahre.  Das war einerseits zu kurz, um viel zu verändern;  es war aber auch zu kurz, um viel zerstören zu können, zu kurz auch für die ganz große Tat; aber lang genug als Stück einer Kontinuität, die auf Bestand und Wahrung abstellte. Drohten Not, Krieg oder Aufstand , konnte man – begrenzt auf den Notfall selbst – einem akzeptablen Mann ein längerfristiges Mandat geben. Aber halt nur dann. In parlamentarischen Demokratien, in der unseren etwa, wo Dutzende von Leuten das politische Handwerk von Berufs wegen betreiben, wäre der rasche Wechsel an der Spitze nicht schädlich, sondern eher von Vorteil. Wie beruhigend doch, wenn kein Minister oder Ministerpräsident genügend Zeit hätte, etwas „zu Ende“ zu bringen!

Monarchistisches Prinzip & Richtlinienkompetenz?

Müssen wir all dies aufgeben, das monarchische Prinzip etwa, das hierzulande ja immer noch als Richtlinienkompetenz weiter lebt? Es verschwänden doch dann die großen Frauen und Männer aus der Regierungsspitze, in die, wie im alten Rom und Venedig, eine Beinahe-Anonymität einkehrte – die großen Heroen und Legendenstifter beider Staaten waren nur selten Inhaber einer normalen Verfassungsposition. Brauchen wir sie aber wirklich, die „großen“ Frauen & Männer, in einer Weltlage, deren prinzipielle Veränderung nur als Wendung zum Schlechteren hin wahrscheinlich ist? Nur kurze Zeit amtierende Politiker, die nicht beliebig wiedergewählt werden können, müssen nicht um die Wiederwahl kämpfen, müssen nicht um jeden Preis populär sein, ozeanische Projekte entwerfen, Wähler mit Zuwendungen ködern, die sie ihnen aus der Tasche holen. Der Politiker Pflichtgefühl kann sich darauf richten und beschränken, das Wenige richtig zu tun.

Kurze Amtszeiten könnten der regionalen Gewaltenteilung von Bund und Ländern die temporale hinzufügen – das würde einem Volk wohltun, das gut verwaltet, aber nicht beherrscht sein will. Das alles ist natürlich utopisch. Aber nicht, weil es unmöglich, sondern weil es vernünftig ist.

Politik, was ist das?

Nehmen wir ein Lexikon! Poliermittel, Politbüro, Politik: „Kunst der Staatsverwaltung“ – und die alten Griechen, die haben Politik nur „normativ im Sinne einer Lehre von der rechten Ordnung des Gemeinschaftslebens“ verstanden, „der Mensch war Gemeinschaftswesen und konnte nur im politischen Verband zur Erfüllung seines wahren Wesens und zur Verwirklichung eines tugendhaften Lebens gelangen“. Heute aber wird die Politik als „Kampf um die rechte Ordnung“ verstanden.

Was fällt uns  zu alledem ein?

Der Begriff der Verwahrlosung entstammt einer älteren Theorie. Die neuere spricht von präkonventioneller und konventioneller Moral. Die Maxime des Handelns ist: du darfst alles tun, du darfst (wir erinnern uns) dich bloß nicht erwischen lassen. Was den Akteur kontrolliert, ist also Strafangst statt der des Gewissens. Wird der Täter erwischt, sucht er sich durch Leugnen, Umdeutung der Beweise und endlose Ausflüchte zu entziehen. Er hat kein zusammenhängendes inneres Bild seiner Handlungen. Er möchte sie in eine unendliche Vielfalt sozialer Aspekte auflösen.
Psychoanalytische Texte pflegen darauf hinzuweisen, dass sich Verwahrlosung keineswegs nur bei Kriminellen findet oder bei „Pennern“, deren Outfit schon „entsprechend“ ausschaue. Man müsse stets auch (und besonders) auf Rechts- Staatsanwälte oder Ärzte oder Lehrer oder Richter oder Politiker gefaßt sein, die in diesem Sinne ohne Gewissen handeln, ohne Über-Ich, sondern sich nur noch nach sozialen Gelegenheiten respektive Kontrollen orientieren.

Was die Politiker angeht, so boten uns Dr. Kohl und seine Bimbes-Gesellen ja ein geradezu erschütterndes Schauspiel im Hinblick auf ihre Verwahrlosung. Eigentlich haben sie ja nichts Unrechtes getan – aber, sofern sie etwas Unrechtes getan hätten haben sollten, nehmen sie das auf sich -, im Übrigen aber verfolgen diejenigen, die ihnen unrechtes Tun vorwerfen, ja doch bloß ihre eigenen dubiosen Interessen, die freilich, von welcher Gegenfraktion auch immer, sogleich schonungslos aufgedeckt wird.

Die Wirklichkeit spult sich ab …

Als Gegenbild zur opportunistischen Politikerseele gelangt ein Ideal von Prinzipienfestigkeit ins Spiel, das eigentlich aus der Religionsgeschichte stammt: der Märtyrer, der für seine Überzeugungen stirbt. Sie gehen ihm über alles, und so kann er – wofür zahllose Exempel vorliegen – in der Politik beinahe noch mehr Unheil anrichten als der Verwahrloste.

Es ist einer organisierten Politiker-Persönlichkeit nahezu unmöglich, in jedem Augenblick ausschließlich dem Über-Ich zu folgen; die Spannung des Schuldgefühls, das aus den fortlaufenden minimalen Übertretungen resultiert, nötigt zum intelligenten Weitermachen, und das ist eine komplett andere moralische Organisationsform als die Verwahrlosung, der es bloß darauf ankommt, dass Unkorrektes sozial unbeobachtet bleibt. Zur Not wird die  Festplatte gelöscht – kann ja mal passieren.

Volk ist out, Staat ist sexy

Gemeinsinn und „aktivierendem Staat“, die allen Protagonistenn  und der ganzen Welt als politische Verjüngungskur verschrieben sein möchte, versprach Übersichtlichkeit im Unübersichtlichen, persönliches Ethos statt bürokratischer Bevormundung.
In der Neuen Gesellschaft beschwören Wahlkämpfer die Wiederkehr des Politischen, die geistig-moralische Führerschaft und ein Land, das stark genug ist, die Sozialstaatsbürden Stück für Stück auf die Zivilgesellschaft abzuwälzen. Das unpolitische Bild, das er gleichzeitig von dieser Gesellschaft zeichnet, paßt zur neuen Idee vom Staat, der erhaben über allen Klassen, Parteien und Interessen schwebt. Die Jungen helfen den Alten, die Unternehmer stiften, die Nachbarn üben sich in Früherkennung krimineller Energie, und der Staat hilft  der bürgerlichen Moral, wo sie ihre Eigenverantwortlichkeit noch nicht erkannt hat, mit „guter Polizey“ (Hegel) auf die Sprünge – schöne neue Welt …

Und nu?

Wahrlich, ich aber sage Euch: Gäbe es keine Politik, so hätte der Bürger doch nur noch sein Innenleben, also nichts, was ihn ausfüllen könnte. Aber, ist Politik wirklich die einzige Art und Weise, aus einem Untertanen einen Bürger zu machen? Oder ist das vielleicht doch nicht die Politik, sondern zu guter Letzt die Demokratie, die den Untertan an der Macht, am Recht und an der Herrlichkeit  beteiligt?  Fragt sich aber, mit der Demokratie von wem. Oder was?  Da gilt es schon einen klaren Blick zu haben. Und zu behalten. Und am 27. März in Baden-Württemberg richtig zu wählen.

Es genügt nicht, zur Wahl zu gehen. Es gibt – was Wunder – auch einiges bedenkenswertes zu bedenken. Wer am Sonntag „ROT“ zu wählen beabsichtigt, sollte lieber gleich (Augen zu und durch) das Original „GRÜN“ ankreuzen. Sicher ist es nämlich nicht nur in Heidelberg so, dass sich die sogenannten Roten – „meine“ – SPD also – in peinlichster Weise den Grünen zu populistischem Neinsagen anbiedert. Zwar wäre es durchaus mal interessant, Grün zusammen mit der SPD in einer Regierungsmitverantwortung sich winden zu sehen. Jedoch bleibe uns dieses Desaster bitte dann lieber doch erspart. Wir empfehlen (trotz Vielerlei und Alledem) FDP zu wählen, um Mappus eine möglichst starke und ja, liberale innerkoalitionäre Opposition bieten zu können. Und, wir in Heidelberg müssen Annette Trabold zu wählen kein Problem haben.

Wir kennen sie seit vielen Jahren als journalistischer Begleiter von Gemeinderatssitzungen als kompatibel, kompetent, streitbar. liberal und – vor allem – als ehrlich. Grün – Rot in Stuttgart, das wäre ähnlich desaströs, wie die „Neue Mehrheit“ in Heidelberg.

Jürgen Gottschling

März 2011 | Allgemein, Sapere aude, Zeitgeschehen | 8 Kommentare