Dass Maria auf ungezählten Bildern anbetend vor dem Krippenkind kniet, hängt unter anderem mit der Pedanterie kirchlicher Kunstrichter zusammen und mit der Vorstellung, dass die Mutter Jesu ohne Schmerzen niedergekommen sei.
Wer den Kreuzgang im Dom zu Brixen betritt, um die berühmten Freskenmalereien aus dem 15. Jahrhundert zu besichtigen, trifft dort fast zu jeder Tageszeit auf ein paar Kunstbeflissene, die verwundert, gelegentlich auch etwas belustigt, vor einem ganz bestimmten Bild verweilen. Auf dem besagten Gemälde illustriert der unbekannte Künstler jene Stelle aus dem Lukasevangelium, die berichtet, wie der Erzengel Gabriel Maria die Geburt Jesu ankündigt. In der Hand hält er den Botenstab. Von oben herab blickt Gottvater, der mit dem Verkündigungsengel durch ein Spruchband verbunden ist, auf dem die Worte «Gegrüsst seist du, Maria, voll der Gnade» zu lesen sind – ein Hinweis darauf, dass die Botschaft tatsächlich von Gott stammt. Dessen Händen entgleitet ein Jesulein, das von Engeln getragen wird. Die Taube über dem Kopf Marias steht für den Heiligen Geist, der Maria laut dem Lukastext «überschattet». Wenn wir eine Gerade von den Händen Gottvaters zum Schnabel der Taube ziehen, stellen wir fest, dass das Christusknäblein auf ebendieser Linie herunterschwebt. Dass es im rechten Ohr Marias «landen» wird, entgeht den meisten Betrachtenden.
Empfängnis durchs Ohr?
Die wissen ja in der Regel nicht, dass die Theologen vom 4. Jahrhundert bis hinauf ins hohe Mittelalter die Ansicht vertraten, dass Maria Jesus durchs Ohr empfangen habe. Diese für uns Heutigen eher skurrile Ansicht geht indirekt auf den Apostel Paulus zurück, der Christus bildhaft als «neuen Adam» bezeichnet: «Ist durch die Übertretung des Einen [nämlich durch Adams Sündenfall im Paradies] der Tod zur Herrschaft gekommen, so werden alle leben durch den Einen, nämlich Jesus Christus» (Römerbrief 5, 17). Aber war am Sündenfall nicht auch Eva beteiligt? Lag es da nicht auf der Hand, eine ähnliche Parallele, wie Paulus sie zwischen Adam und Christus aufzeigt, auch zwischen Eva und Maria herzustellen? Ausformuliert findet sich dieser Gedanke erstmals beim Bischof Irenäus von Lyon (gestorben um 202): «Der Knoten des Ungehorsams der Eva wurde durch den Gehorsam Marias gelöst; denn was die Jungfrau Eva durch ihren Unglauben verschnürt hatte, das löste die Jungfrau Maria durch ihren Glauben.»
Gemäss der biblischen Überlieferung hat Eva auf die Einflüsterungen der Schlange gehört. Was Bischof Zeno von Verona im 4. Jahrhundert zu einer kühnen Schlussfolgerung veranlasste: «Durch Überredung hatte sich der Teufel in Evas Ohr eingeschlichen; durch das Ohr trat mithin Christus in Maria ein.» Die mittelalterlichen Theologen griffen diesen Gedanken auf, wobei sie allerdings nicht so naiv waren, daraus einen biologischen Vorgang abzuleiten. In der Folge indes verliehen Künstler dieser Bildrede auf drastisch-realistische Weise Ausdruck.
Ausgerechnet diese naiv-frommen Darstellungen der Verkündigungsszene riefen später die Dogmatiker auf den Plan. Entsteht angesichts solcher Bilder nicht die Vorstellung, dass Jesus schon einen voll ausgebildeten Leib vom Himmel auf die Erde mitbrachte? Und wie war das mit dem Glauben an sein wirkliches Menschsein vereinbar? Solche Fragen und Überlegungen führten schliesslich dazu, dass Papst Benedikt XIV. (1740–1758) meinte, Bilder mit dem vom Himmel schwebenden Christuskind verbieten zu müssen. Diese Verurteilung indessen beruhte auf einem Missverständnis. Wie die meisten Kirchenmänner seiner Zeit war sich der Papst nicht bewusst, dass die kleine nackte Gestalt in Wirklichkeit Jesu Seele versinnbildlicht.
Maria in der Hoffnung
Noch grösseren Anstoss erregten im 18. und 19. Jahrhundert Kunstwerke, welche die Gottesmutter als gravida, als Schwangere, zeigten, ein Bildtypus, der sich vor allem nördlich der Alpen einer gewissen Beliebtheit erfreute. Dargestellt wurde die Schwangerschaft Marias auf unterschiedliche Weise. Ziemlich verbreitet war die symbolische Andeutung ihres Zustands durch das Jesus-Monogramm IHS, das auf ihrem Kleid in Brusthöhe angebracht war. Bei den drei Buchstaben handelt es sich um die griechische Abkürzung für Iäsoûs (Jesus). Auf manchen Bildern, welche Maria beim Besuch ihrer ebenfalls schwangeren Verwandten Elisabet zeigen, wurde das Monogramm häufig durch das Jesuskind (und bei Elisabet gelegentlich durch den Johannesknaben) ersetzt. Ein bekanntes Beispiel dafür bildet das Fresko eines anonymen Meisters aus dem 14. Jahrhundert in der Kirche Sogn Gieri im graubündnerischen Rhäzüns.
Bigotte Kleriker bezeichneten derartige Gemälde später als abgeschmackte Machwerke. Aktenkundig ist, dass 1783 in dem damals noch zur Erzdiözese Salzburg gehörenden Teisendorf auf Geheiss des päpstlichen Gesandten «das neben dem Hochaltar auf der Evangelienseite hängende sehr unschickliche Bild, die schwangere Muttergottes darstellend», entfernt werden musste. In einer Zeit, da die sichtbare Schwangerschaft Marias immer mehr als Ärgernis empfunden wurde, verfielen kirchliche Zensoren gar auf die Idee, diesbezügliche Statuen mit einem Überwurf zu bekleiden.
Schreinmadonnen
Seit dem 13. Jahrhundert inspirierte das Motiv der schwangeren Maria die Bildschnitzer zur Schaffung aufklappbarer Madonnenstatuen, in denen das Jesuskind wie in einem Tabernakel eingeschlossen ist. Manche dieser sogenannten Schreinmadonnen bargen in ihrem Inneren einen Gnadenstuhl, der in der Regel drei Elemente umfasste, nämlich den Heiligen Geist (meist symbolisiert durch eine Taube), Gottvater auf dem himmlischen Thron und ein Kruzifix, das Gottvater in seinen Händen hält. Solche Bildwerke waren gemäss manchen Theologen eindeutig häretisch. Ihrer Ansicht nach leisteten sie der falschen Vorstellung Vorschub, Maria habe die Trinität geboren.
Gegen diese Art von Schnitzereien erhob der berühmte Pariser Gottesgelehrte und Mystiker Johannes Gerson (1363–1429) nicht nur die Stimme, sondern auch den Hammer. Jedenfalls wird ihm nachgesagt, dass er eine solche Statue eigenhändig zerstörte. Verbürgt ist, dass er in einer Weihnachtspredigt heftig gegen diese Schreinmadonnen zu Felde zog: «Man muss sich, so gut es nur eben geht, davor hüten, die Geschichte der Heiligen Schrift bildlich falsch darzustellen. Dies sage ich teilweise wegen eines Bildes, das sich bei den Karmelitern befindet, und auch anderer ähnlicher Bilder wegen, die in ihrem Bauch eine Darstellung der Dreifaltigkeit zeigen oder auch Szenen davon, wie die ganze Trinität Fleischesgestalt in der Jungfrau angenommen hat. Und was noch sonderbarer ist: Es gibt im Innern von Schreinfiguren gemalte Höllendarstellungen, und ich sehe nicht, zu welchem Zweck man solche Arbeiten ausführt; denn meiner Ansicht nach wohnt diesen Bildern weder Schönheit noch Frömmigkeit inne; und dies muss zwangsläufig Irrtümer und Verachtung oder Unfrömmigkeit hervorrufen.» 1745 verbot Papst Benedikt XIV. die Anfertigung von Schreinmadonnen, die eine Dreifaltigkeitsdarstellung in ihrem Innern bargen.
Maria als Wöchnerin
Ein weiteres Ärgernis für die Klerisei waren auch jene Marienbilder, welche Jesu Mutter im Wochenbett zeigen. Im 4. und 5. Jahrhundert hatten die byzantinischen Künstler keinerlei Hemmungen, Maria als erholungsbedürftige Wöchnerin darzustellen. In der abendländischen Kunst hingegen erscheint dieses Motiv erst etwa ums 9. Jahrhundert. Im Spätmittelalter treten auf den entsprechenden Bildern häufig Aufwärterinnen mit Waschbecken und Wasserzuber in Erscheinung, welche sich um die Wöchnerin und ihr Kind kümmern.
Seit dem 16. Jahrhundert war auch diese Szenerie den christlichen Schriftgelehrten plötzlich ein Dorn im Auge. Inzwischen vertraten viele von ihnen die Ansicht, dass die Mutter Jesu ohne Schmerzen niedergekommen sei. Eine Maria, die sich von den Geburtswehen erholte, passte nicht zu solch spiritualisierenden Vorstellungen. So verurteilte der Löwener Theologieprofessor Johannes Molanus (1533–1585) Darstellungen einer durch die Entbindung geschwächten Maria, die von Hebammen mit Suppen aufgepäppelt wird. Vielmehr gezieme es sich, die Gottesmutter in andächtiger Haltung ins Bild zu setzen. Seither kniet Maria auf den meisten Darstellungen der Geburt Jesu anbetend vor dem Krippenkind.
Der Autor Prof. Josef Imbach war von 1975 bis 2002 Ordinarius für Fundamentaltheologie und Grenzfragen zwischen Literatur und Theologie an der päpstlichen theologischen Fakultät S. Bonaventura in Rom. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2010 hatte er einen Lehrauftrag in Basel.