Bürger haben Probleme, wenn sich Politik schlecht erklärt. Suttgart21, Stadthallenerweiterung, Tunnel und überhaupt … Versuch einer Versachlichung.
Betroffenheit – zumal wenn sie sehr persönlich erlebt wird, ist sehr im Schwange, seit niemanden mehr irgendetwas angeht. Rückgängig machen will Betroffenheitsphilosophie diese Entwicklung – und dazu sind ihr alle Mittel recht.
Wie viel aber tragen solche örtlichen Bewegungen zur Demokratie und zur Krisenbewältigung bei?
Haben Krisen einen globalen Hintergrund, machen sich bei den Bürgern Gefühle von Ohnmacht breit, die Gegenbewegung dazu liegt auf der Hand: die Besinnung auf kleine Einheiten, auf die eigene Kommune, in Großstädten auf noch kleinere Einheiten, auf das eigene Stadtviertel, auf den eigenen Kiez. Solche kleine Einheiten sind überschaubar und erlauben ein dichtes Netz von persönlichen Beziehungen und zu diesem Vorteil der Identifikation kommt ganz erheblich als besonders greifbar in der direkten Demokratie noch die Mitwirkung hinzu.
So wird Partizipation nicht nur erleichtert, sondern der Bürgernähe wegen die Politik auch stimuliert.
Lokale Demokratiebewegungen entstehen in der Regel aus Betroffenheit, zweifelsohne entstehen sie oft guter Gründe wegen, die sie auf ihrer Seite wissen, zu wissen glauben, oder – was Wunder – oft genug auch aus ganz persönlichem betroffen sein! Zunächst aber sind sie zu allererst Ausdruck eines „Kampfes um Anerkennung“ in dem sich Misstrauen gegen «die da oben» ausspricht, oft aber – das sei gerne eingeräumt – auch eine neue Verantwortungsbereitschaft zeigt. Nicht zuletzt erleichtern lokale Bewegungen die Integration: Man kann seine Nachbarn und seine Berufskollegen leichter kennen lernen.
Nicht zuletzt nämlich haben auch lokale Demokratiebewegungen eine Kehrseite: Stossen sie nicht auf überwältigende Zustimmung, so laufen sie Gefahr, die Kommune zu spalten. Ohnehin wird die Funktionsweise der Politik nicht außer Kraft gesetzt. Gegen jene Auseinandersetzung um Aufmerksamkeit und Einfluss, bei der man Mitstreiter, Koalitionäre, sucht, aber auch Gegner findet, bei der man Kompromisse braucht und dabei nicht immer nur faire Mittel einsetzt, sind lokale Demokratiebewegungen nicht gefeit. – Der Politikverdrossenheit, die sich auch in direktdemokratisch geprägten Gemeinwesen breitmachen kann, arbeiten lokale Demokratiebewegungen freilich entgegen und stärken zumindest auf dieser Ebene das Vertrauen in die Demokratie. Dabei ist ein mehrfach funktionaler Mehrwert zu verzeichnen: Werden die lokalen Bewegungen in den Entscheidungsprozess eingebunden, so erhält dieser eine größere Legitimation. Überdies wird die Politik von einer Überverantwortung entlastet. In einer direkten Demokratie erweitert sich zudem die eindimensionale, auf die Wahl von Abgeordneten eingeschränkte Legitimation von unten nach oben zu einem mehrdimensionalen, vor allem auch Sachgeschäfte einschließenden Prozess.
Gleichwohl gibt es auch hier das Andererseits: Rundum bürgernäher jedenfalls sind lokale Bewegungen nicht. Es beginnt damit, dass die Interessen und Sorgen der Bürger meist selektiv aufgegriffen werden. Aber, selbst wenn die lokalen Bewegungen nicht selektiv agieren, dürfen sie eines nicht vergessen: Wir alle sind schon lange nicht mehr nur lokale, sondern auch überlokale Bürger, Bürger nämlich eines Bundeslandes, Bürger eines Staates, vielerorts Bürger der Europäischen Union, nicht zuletzt Bürger der gemeinsamen Welt, also Weltbürger- was keineswegs so trivial ist, wie es zunächst einmal scheinen mag. Wir schicken unsere Kinder zwar immer noch überwiegend in die dafür zuständige Schule im Stadtteil, jedoch wird Schulpolitik auf Landesebene betrieben. Oder: Wir arbeiten vielleicht in einem nahe gelegenen mittelständischen Betrieb; dessen Absatzchancen entscheiden sich aber in der Ferne, etwa in den USA oder in China. Für die politischen Rahmenbedingungen dieses überlokalen Bürger-Seins sind keine lokalen Einheiten, sondern überlokale zuständig, bis hin zu globalen Institutionen wie der Welthandelsorganisation. Infolgedessen können lokale Demokratiebewegungen globale Krisen kaum steuern.
Machtlos sind freilich diese Bewegungen trotzdem nicht. Häufig können sie zwar nur eine indirekte Macht entwickeln, eine Macht aber eben doch: Sie können als Seismografen für Regelungsbedarf oder Fehlentwicklungen auftreten. Sie können sodann als gutes Beispiel auf andere lokale Einheiten überspringen und bald überlokale, gelegentlich regionale, vielleicht sogar globale Wirkungen erzeugen. Insofern verbindet sich lokal-demokratisches Engagement mit einem «ethischen Mehrwert». Schließlich können die übergeordneten Instanzen zu einem Handeln gemäß den lokalen Interessen gedrängt werden.
Ein Beispiel bieten Atomkraftwerke, die man gern in Grenznähe baut. Damit wird ein beträchtlicher Anteil der Gefahren ungefragt ins Nachbarland exportiert, während die (es sei erlaubt, dies auch so zu sehen) Vorteile im eigenen Land bleiben. Hier sind – man muss aber leider den Irrealis verwenden: Hier wären lokale Demokratiebewegungen sinnvoll. Sie könnten nämlich die Regierung drängen, bei entsprechend vehementem Auftreten sogar zwingen, die übliche diplomatische Zurückhaltung aufzugeben und beim Nachbarland kräftig anzuklopfen. Entsprechende Bewegungen gibt es freilich kaum.
Eine weitere Besonderheit lokaler Demokratiebewegungen: Sie sind nicht ausschließlich in ihren Themen höchst selektiv, sondern darüber hinaus zum überwiegenden Teil Protestbewegungen, die auch Protestbewegungen bleiben. Deren Angriffspunkt bilden häufig (Groß)Projekte wie zum Beispiel der Stuttgarter Bahnhof, ein Flughafenaus- oder ein Stadthallen-Anbau, Tunnel oder Kläranlagen und Müllverbrennungsanlagen.
Dazu ist dreierlei zu sagen. Der erste Punkt versteht sich von selbst: Das Recht auf Protest ist für die Demokratie im wörtlichen Sinn essenziell; es ist mit dem Wesen der Demokratie verbunden, daher unveräußerlich.
Der zweite Punkt: Lokale Demokratiebewegungen sind häufig Verhinderungsbewegungen. Der Weg zur konstruktiven Gestaltungsfähigkeit ist weit; häufig ist er auch gar nicht vorgesehen.
Der dritte Punkt: Ein Großteil der Protestbewegungen folgt dem Sankt-Florians-Prinzip. Natürlich wird gewusst, dass es Kläranlagen und – mal wieder nur mal zum Beispiel – eines Tunnels bedarf, um eine Stadt wie Düsseldorf, Köln oder Heidelberg an den Fluss zu bringen und es nicht genügt, den Verkehr anderswohin zu lenken, über Gaiberg vielleicht? Eine Bundesstraße zu sperren und den Verkehr umzuleiten geht schon gar nicht, und das weiß die GAL ganz genau. Und die SPD auch … Nur sollte das gemeinwohlförderliche Projekt nicht das lokale Partikularwohl beeinträchtigen.
Legitimität durch Verfahren
Zweifellos verfügen Demokratien über Ressourcen, mit denen Nicht-Demokratien teils gar nicht, teils schwerlich mithalten können: eine engagierte Bürgerschaft, ein hohes Bildungs- und Ausbildungsniveau, eine politische Ordnung, die ein flexibles Reagieren auf neue Herausforderungen ermöglicht. Auf diese Weise haben im globalen Wettstreit der Systeme die Demokratien einen facettenreichen Wettbewerbsvorsprung. Die aufgeklärt liberale, darüber hinaus partizipative Demokratie erfreut sich eines Vorsprungs in Sachen Legitimität, Wissen und Wirtschaft sowie zusätzlich eines Vorteils in der Sache selbstkritisches Lernen, welche die vorhandenen Defizite an Zukunftsfähigkeit stärker ausgleichen könnte.
Angesichts einer teilweise enormen lokalen Auflehnungsbereitschaft ist nun die letztgenannte Eigenschaft, die selbstkritische Lernbereitschaft, gefordert: Ein Gemeinwesen ist nur dann zukunftsfähig, wenn es noch zu größeren Infrastrukturprojekten fähig ist – und zwar sowohl finanziell, als auch und ganz besonders auch politisch und rechtsstaatlich fähig, weil es nicht an einer Überfülle von gelegentlich kurzsichtigen und eigensüchtigen Einsprachen scheitert. Planungen von zwölf bis fünfzehn und mehr Jahren kann man beileibe nicht als „übereilt“ disqualifizieren. Dort, wo die demokratischen Entscheidungsprozesse stattgefunden haben, wo zudem die rechtsstaatlichen Einspruchsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, sollte man nicht noch weitere Verhinderungsinstrumente einsetzen. – Allerdings könnte es auch sein, dass – wie oft genug – die Politik von Anfang an die Sorgen ihrer Bürger nicht gebührend berücksichtigt, Vorhaben und Entscheidungen nicht „rübergebracht“ – oder, um es mal neudeutsch zu sagen, nicht ordentlich und verstehbar kommuniziert hat.