Gibt es heute eine gefährlichere Ressource als die Religion? Zu Beginn unseres Jahrhunderts zeigt sich: Das ist nicht länger ein weiches Thema für viele, das ist ein harter Stoff für alle. Hinter dem Rohstoff Seelenheil versacken Rohstoffe wie Öl und Gold. Was Wunder, daß allüberall in der Welt der neue Atheismus, der „new atheism“, boomt.
Unter diesem Sammelnamen blüht zur Zeit ein säkularer Fundamentalismus auf, dessen philosophische Sterne Richard Dawkins oder Daniel Dennett heißen, der aber auch etliche Sternchen zu einer Massenbewegung eint. Das Wort „Heidentum“ schien aus dem Sprachgebrauch ja schon fast ausgeschieden, nachdem es auch im Katholizismus durch den Begriff des „anonymen Christentums“ ersetzt worden war.
Intellektuelle Substanz vergleichsweise dürftig
Die neuen Atheisten sind es satt, alle möglichen politischen Fragen mit dem Seelenheil kurzgeschlossen zu sehen. Nachdem Religion unterm Schutz und Schirm von Ex-Präsident Bush ein politischer Brüh-Würfel geworden ist, mit dem sich legislative Süppchen haben und auch künftig werden kochen lassen – das der Kreationisten ebenso wie das des Irak-Kriegs -, will man nun transzendentale Abspeckung total.
Schon das Adjektiv „neu“ zeigt freilich an, daß der Atheismus, um den es dabei geht, eine antiquierte Sache ist. Das ist natürlich nicht die Schuld des Heidentums, das sich ebensowenig neu erfinden läßt wie der Gottesglaube. Gleichwohl ist, sieht man recht, die intellektuelle Substanz der „new atheism“-Bewegung noch vergleichsweise dürftig, sie steht jedenfalls in keinem Verhältnis zu ihrer rhetorischen Verve und insgesamt weit hinter der Brillanz und Sorgfalt der historischen Religionskritik zurück, wie sie ein Feuerbach, Nietzsche oder Freud betrieben.
„Kein Respekt für religiöse Gefühle“
Brillant und sorgfältig will man in dieser ersten Phase der neuen Religionskritik auch gar nicht sein. Mit Parolen wie „Kein Respekt für religiöse Gefühle“ geht es eher darum, Fundamentales zu leisten, plakativ Widerspruch einzulegen gegen Gesellschaftskonzepte, in der einer Religion schon qua Religion Respekt zu zollen ist, unabhängig davon, wie die Menschenrechte in ihr wegkommen.
Klar ist, daß die Stoßrichtung nicht etwa nur gegen evangelikale Politsysteme wie hierzulande mittlerweile auch die des ehemaligen Theologieprofessoren aus Heidelberg, der erst mal zum (naja, er war in der SPD) „Genossen Bischof“ gekürt worden war, zum Ratspräsidenten der Evangelischen Kirche Deutschland aufstiegt und mittlerweile zu den Evangelikalen des Landes mutiert ist, sondern auch gegen die diversen Spielarten des Islamismus geht – ein Umstand, der aus den neuen Atheisten selbst wieder eine anschlußfähige politische Kraft macht. Ob dies so sein werden wird, also in einem bislang (sieht man vom derzeitigen Bundespräsident mal ab) transzendental eher unbefleckten Politikbetrieb, bleibt abzuwarten.
Zu den Quellen des Islams
So oder so läßt sich die neue atheistische Bewegung Amerikas als ein weiteres Symptom für den weltanschaulichen Unterscheidungsdruck lesen, den die digitale Globalisierung mit ihrem Zusammenrücken der Religionen erzeugt. Ein Unterscheidungsdruck, unter dem naturgemäß nicht nur die Religionskritik, sondern auch die Religionen selbst in vermehrtem Maße stehen.
In diesem Sinne wird die Radikalisierung des Islams von dem französischen Islamwissenschaftler Olivier Roy nicht etwa als ein islamischer Weg vom Westen weg, sondern im Gegenteil als ein islamischer Weg zum Westen hin verstanden. Roy analysiert den Islamismus nicht zuerst als Rückkehr zu den Quellen des Islams, wie es der islamistischen Selbstdarstellung entspricht, sondern soziologisch stichhaltiger als Antwort auf den nivellierenden Prozeß der Globalisierung.
Wir kommen alle in den Himmel
Und das Christentum? Im Kräftefeld rivalisierender Heilsanstalten mag dem Katholizismus, wie kulturprotestantische Analyse vermutet, sein ikonographisches Potential zugute kommen. Aber schöne Papstbilder machen noch keine Kirchen voll, wenn man die entsprechenden Statistiken zur Kenntnis nimmt.
Ohnehin schien sich der Katholizismus selbst um ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal gebracht zu haben, als er die Kategorie des Seelenheils, die auch der gemäßigte Islam für vordringlich erklärt, systematisch in den Hintergrund treten ließ, ja ausrangierte. Wir kommen alle in den Himmel – das ist die populäre Version der Heilsgewißheit, die Wortführer des Katholizismus in der Annahme vertraten, ihre Kirche könne im Handumdrehen eine Religion für alle werden – für Andersgläubige ebenso wie für Ungläubige.
Jesus lebt. Jesus ist auch für Dich gestorben …
Doch schien die Vereinnahmungsstrategie nicht aufgehen zu wollen: Die Heiden wollten lieber Heiden bleiben, denn in der vatikanischen Statistik als anonyme Christen geführt zu werden. Und die Christen selbst, entlastet vom Druck des Seelenheils, rückten in die Rolle der eifrigen Religionsmoderatoren, die den einen Gott für alle propagierten, auf welchem Wege auch immer man ihm folge: auf christlichem, islamischem oder atheistischem.
Doch mit dieser harmonischen Formel wurde das Christentum keine Religion für alle, sondern blieb statistisch eine Religion für viele und eigentlich für immer weniger. Jetzt zieht die katholische Kirche die Konsequenz und will ihre Meßbücher ändern. Dort soll es in den Landessprachen bald nicht länger heißen, daß Christus „für alle“ gestorben sei, sondern – getreu der lateinischen Vorlage – nur noch „für viele“.
Das Seelenheil dürfe man sich nicht als eine mechanistische Angelegenheit vorstellen, heißt es zur Begründung.
Was Christus allen verdient habe, müsse gleichwohl einzeln gewollt werden. So begegnet man dem geschäftsschädigenden Image, im Vergleich zu anderen Religionen eine harmlose Religion zu sein und noch dem Atheismus zuzublinzeln. Der Katholizismus ist, wie es scheint, nicht so ungefährlich, wie er oft tut. Ihm geht es wieder um etwas. Mit Benedikt kommt: „Die Neue Zeit!
Jürgen Gottschling