Die gedrängte Sichtweise auf völlig verschiedene Filme, wie sie ein Filmfestival mit sich bringt, lässt gelegentlich merkwürdige Koinzidenzen hervortreten.
So fiel auf diesem Festival auf, dass in 5 der 30 Filme, die im Mannheimer Stadthaus (wie immer) und erstmals in Zelten des Heidelberger Schlossgartens während rund 11 Tagen liefen, extrem große Männer über die Leinwand spazierten.
Schauspieler, die an oder über 2 Meter heranreichen, haben es im Kino “normalerweise” schwerer als zu klein geratene, deren mindere Statur man trickreich vergrößern kann, während die hoch Aufgeschossenen ihre körperlichen Extremitäten auch nicht in amerikanischen Einstellungen oder Nahaufnahmen verschwinden lassen können. Ihre Größe ist & bleibt auffällig, fällt buchstäblich aus dem Rahmen des Üblichen – umso mehr, als Kleinwüchsigkeit eher “normal” ist unter Filmschauspielern (gerade auch Hollywoods) – was die Zuschauer oft erst bemerken, wenn sie den “Star“ einmal in der empirischen Realität zu sehen bekommen.
Auffällig war weiterhin, wie dominant laut die Musik als Windmaschine melodramatischer Gefühlswelten in vielen Filmen heute ist – als müssten die Zuschauer mit dem “richtigen” Emotionsschaum eingeseift werden, damit sie mitempfinden können, was von der visuellen Montage vernachlässigt wurde. Womöglich muss man von einer Infantilisierung der kinematographischen Wahrnehmung sprechen, die umso brutaler auftritt, je abgestumpfter & differenzierungsunfähiger die am Gängelband der Musik geführten Zuschauer zu sein scheinen.
Manchmal hätte man sich deshalb musikalische Askese gewünscht – nicht unbedingt so entschieden (aber notwendigerweise) wie in Michela Occhipintis “Letters from the Desert”. Die italienische Regisseurin hat ihren semidokumentarischen Film ganz auf Bilder & Naturtöne der nordindischen Wüste aufgebaut. Dort ist das Revier eines Briefträgers, der seit zwanzig Jahren mit Fahrrad & zu Fuß die Briefe und Nachrichten aus der lauten Hochgeschwindigkeitswelt der Metropolen, wohin manche Kinder & Verwandte auf der Arbeitssuche ausgewandert sind und wo die Bürokraten über Witwenrenten entscheiden, den in Armut und Abgeschiedenheit Gebliebenen auf dem Lande, in & am Rande der Wüste, zuträgt. Manchen Analphabeten muss er auch die Briefe vorlesen, bei erkennbaren Traueranzeigen spendet er Trost – kurzum: wenn er auf seinen weiten, einsamen, beschwerlichen Wegen seine menschlichen Ziele erreicht, ist er der Anteil nehmende Bote des Schicksals.
Michela Occhipintis “Lobpreis der Langsamkeit” (so der übersetzte Originaltitel) ist in Bild, Montage & Ton ein zarter Nachruf auf das unaufhaltsame Verschwinden dieser archaischen Kommunikation, auf die fragile Schatten der am Wegrand errichteten Funkmasten fallen, den Vorboten der Handy-Zukunft, die selbst in dieser Wüste schon begonnen hat, während die nachlassende Briefpost ihren stempelnden Postmeister & dessen austragenden Boten um ihr täglich Brot bringen wirde.
Die Vergänglichkeit der Welt
Eine sehr persönliche Reflexion über “Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit” (Clemens Brentano) hat die niederländische Dokumentaristin Digna Sinke mit ihrer Langzeitbeobachtung Weemoed & Wildernis in Heidelberg/Mannheim gezeigt.
Von sieben Fixpunkten aus verfolgt sie, wie eine einst dem Meer abgerungene Insel in der Maas-Mündung, auf der sie 1949 geboren, & großgeworden ist & auf der ihr Lebenspartner lebte, der während der mehr als ein Dutzend Jahre der Dokumentation gestorben ist, systematisch wieder “ausgewildert” & damit verändert wird, um heute – nachdem auch die letzten Bauern sich zur Umsiedlung bereit erklärt haben – als ein nur noch teilweise zur touristischen Besichtigung des Lebens von Vögeln und dort lebenden Wildrindern nutzbarer Erholungsort fortzudauern. Digna Sinkes Film verbindet menschliche Ordnung & künstliches Chaos, Erinnerung & Zeugenschaft, Trauer & Abschied zu einem bewegenden poetischen Essay über die Vergänglichkeit alles Irdischen, indem sie dem Einst ihr aus persönlichsten Reminiszenzen & dokumentarischen Notaten ein Andenken bewahrt.
Nicht so fern wie andere Beiträge des Wettbewerbs stand diesen beiden hervorragenden kinematographischen “Begleitmusiken” des Festivals der fast zweistündige estnische Spielfilm Paeva Lopus (Wenn der Tag vorüber ist). Die einunddreißigjährige Finnin Maiju Ingman, die in Tallin Filmregie studiert hat, legte damit ihren zweiten Film vor. Es ist eine schwerblütige, gelegentlich burleske, immer aber lakonische Tragikomödie über Stadt & Land, Familienbande & Liebeswirren, Emanzipation und Regression, Sprachlosigkeit und Poesie.
Der in der Stadt als Autor eines Buches gescheiterte, mit Schulden belastete Peteri kehrt zu seinem Bruder Jacobi auf dem gerade zum Frühling erwachten Land zurück, in dem einige heruntergekommene, entfernt von einander liegende Hütten & Scheunen sich zu einem Dorf gruppieren, dessen korrupter Bürgermeister von einem empörten Alten durch einen gezielten Gewehrschuss “klinisch sauber” um sein Gemächte gebracht wird. Der sprachlose Jacobi, der die gerade gestorbene Katze beerdigen will, kann der dort aufgewachsenen Lehrerin seine Liebe nicht erklären, während deren verspätetes Liebesgeständnis für seinen Bruder Peteri von diesem verspielt wird. Wenn dieser Tag vorüber ist – wobei die imaginierte Zeit des Films über die Jahreszeiten dauert – ist eine ebenso skurrile wie hintergründige Komödie der Irrungen an uns vorbei gezogen – als habe der große tschechische Erfinder der “Bafler”, nämlich Bohumil Hrabal postum auf estnisch-finnisch weiter gedichtet.
Hrabal? Könnte nicht auch seiner Phantasie eine Figur entsprungen sein, wie sie der chinesische Regisseur Zhao Dayong in seinem episodischen Stadtporträt The High Life uns vor Augen stellt? Nämlich einen Gefängniswärter, der die Gefangenen dazu verdonnert, seine schwülstig die Korruption anklagenden Gedichte vorzulesen, um die bei einer Razzia gefassten Sträflinge “sittlich” zu bessern? Wer sich verweigert, wird mit Einzelhaft bestraft.
Obwohl der Dokumentarist Zhao Dayong ein Mosaik von randständigen, kriminellen Lebensgeschichten aus einer chinesischen Metropole im brutalen gesellschaftlichen Umbruch zusammensetzt, unterscheidet sich sein Film vom neorealistischen Erzählfluss durch die strenge Kadrierung seiner Einstellungen, die den sensiblen Kunstverstand des Regisseurs zeigen, der die Phantasie der Zuschauer einfordert. So wird z.B. die Vergewaltigung eines Landmädchens allein akustisch auf der Miene ihres passiven Liebhabers gespiegelt. Die internationale Jury mit dem Schweizer Filmmacher Clemens Klopfenstein an der Spitze hat Zhao Dayongs The High Life den R. W. Fassbinder-Preis zugesprochen, weil er “von der allerersten Einstellung an seine Fähigkeit zeigt, auf visuell innovative Weise Geschichten zu erzählen”. Auch die “FIPRESCI” (die internationale Kritiker-Vereinigung) vergab ihren Preis an The High Life. Abschied vom Aufstieg.
Die Argentinierin Sabrina Farji hat sich dem virulenten gesellschaftlichen Thema der “verschwundenen Kinder” auf eine bizarr-exzentrische Weise genähert. Es geht um das Schicksal der während der Juntadiktatur (1976/83) ihren ermordeten Eltern entwendeten und deren Mördern übergebenen Kindern. Ihre Heldinnen Eva & Lola gehören zu dieser Generation, die jetzt erst erfährt, dass sie Waisen sind – in den Händen von Verbrechern, die ihre Eltern zu sein schienen.
Alltäglichkeit der Gewalt in Ehe & Schule
Didaktischer geht der Däne Kaspar Munk in seinem Schülerfilm Hold om mig (Halt mich fest) vor, wenn er das Pubertäts-Drama des alltäglichen Bashings und Mobbings in einer Schule bis zum selbstmörderischen Ende eines scheinvergewaltigten Mädchens entfaltet. Als eindringliches Spiegelbild über den unmerklichen Fortschritt von spielerischem Necken zur Euphorie der nackten Gewalt im schulischen Alltag könnte Hold om mig Nachdenklichkeit provozieren – wenn man ihn Schulklassen zugänglich machte.
In zwei Arbeiten rückte die eheliche Gewalt von Männern in den Mittelpunkt. Der kanadische 2 fois une femme von Francois Deslisle plädiert für die radikale Flucht und zum Identitätswechsel der gepeinigten Ehefrau mithilfe einer Selbsthilfeorganisation, führt aber auch die Probleme einer solchen klandestinen Existenz vor Augen. In dem englischen Melodrama Just Inès von Marcel Grant prügelt ein Mann – gerade aus den Armen seiner Geliebten nachhause gekommen – seine Frau fast zutode, als sie ihm gesteht, ihn verlassen zu wollen. Nach seinem Gefängnisaufenthalt & der Scheidung zieht er als arbeitsloser, gleichwohl reicher Single in ein Appartementhaus, wo er sich bald in seine geheimnisvolle, oft weinende Wohnungsnachbarin verliebt und ihr in die Gascogne auf einen idyllischen Bauernhof nachreist, wohin sie vor der neuen Liebe geflüchtet war.
Der außergewöhnlichste Spielfilm im Wettbewerb des 59. Internationalen Filmfestivals Mannheim/Heidelberg kam von einer kanadischen Schriftstellerin, Schauspielerin und Filmregisseurin, die 1973 zwar in Indien geboren wurde, aber aus Afghanistan stammt, in Kabul aufgewachsen und mit der Machtübernahme der Taliban mit ihrer Familie erst nach Pakistan und später nach Kanada emigriert ist, und als Hauptdarstellerin in Mohsen Makmalbafs Kandahar weltberühmt wurde: Nelofer Pazira.
Nun hat sie selbst die Regie in ihrem Spielfilmdebüt Act of Dishonour (Unehrenhaftes Verhalten) übernommen und spielt darin eine kanadische Afghanin, die einem westlichen Filmteam als Dolmetscherin für einen Film dient, der in einem abgelegenen Dorf Afghanistans gedreht wird. Unsensibel für die zwei Kulturen, die hierbei in eine prekäre Beziehung geraten, verführt ausgerechnet die Dolmetscherin eine junge Frau dazu, Haus & Hof für einen Augenblick zu verlassen, was in der afghanischen Dorfgesellschaft absolut verboten ist. Verführt zu diesem für ihre Familie, das Dorf und ihren sehnsüchtig erwarteten Bräutigam unverzeihlichen act of dishonour wurde die Fünfzehnjährige durch das (uneingelöste) Versprechen der Dolmetscherin, ihr eine Burka zu schenken, wenn sie in dem Film mitspielt. Während das Filmteam den Drehort verlässt, geht sein Opfer durch die Strassen des Dorfes der rituellen Sühne für sein entehrendes Verhalten in der Wüste entgegen.
Auf mehreren erzählerischen Ebenen facettiert Nelofer Pazira die schmerzlich-paradoxe Begegnung einer traditionellen archaischen Dorfmoral mit den aus unachtsamer Respektlosigkeit brutal auftretenden “westlichen” Handlungsweisen. Diesen Grundkonflikt der augenblicklichen afghanischen Situation am Beispiel einer Film-im-Film-Produktion und unter weiblichem Blickwechsel aufleuchten zu lassen, beweist den selbstkritischen Mut und das geistige Risiko, das Nelofer Pazira mit Act of Dishonour eingegangen ist. Der “Internationalen Jury” war das leider nur eine “Lobende Erwähnung” wert. ws