Warum wurde Verena Becker nie angeklagt, 1977 an der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback beteiligt gewesen zu sein? Obgleich die die Tatwaffe bei ihr gefunden wurde. Auch von einem Alibi für den Tattag ist nichts bekannt. Hat Becker vielleicht gleichzeitig für den Verfassungsschutz gearbeitet? In seinem Buch „Verena Becker und der Verfassungsschutz“ untersucht Wolfgang Kraushaar die Hintergründe und Motive, die für eine solche Zusammenarbeit sprechen. Lesen Sie hier einen Auszug.
Die Verdachtsmomente
Die Widersprüche, Unterlassungen und Fragwürdigkeiten, die im Laufe der letzten drei Jahre im Fall Buback/Becker aufgetaucht sind, muten zahllos an. Insbesondere das Schuldenkonto, das auf Verena Becker lastet, ist enorm angewachsen. Um im Dickicht der Be- und Zuschreibungen nicht den Überblick zu verlieren, empfiehlt es sich, die einzelnen Verdachtsmomente, die für ihre unmittelbare Tatbeteiligung und eine Deckung ihrer Person von staatlicher Seite sprechen, aufzulisten und kritisch zu überprüfen.
1. Der Verzicht auf eine Anklageerhebung gegen Becker im Mordfall Buback
Der wichtigste Punkt für den Verdacht einer Deckung ist nach wie vor die Tatsache, dass trotz schwerwiegender Verdachtsmomente weder gegen sie noch gegen Sonnenberg Anklage wegen der Ermordung des Generalbundesanwalts erhoben worden ist und wohl auch nicht werden wird. Vier Wochen nach einem spektakulären Anschlag wie dem Karlsruher Attentat mit der Tatwaffe auftauchen zu können, ohne sich danach auf der Anklagebank wiederzufinden, das muss schon Gründe haben. Becker hätte lediglich einmal gefragt werden müssen – was schon bei einer wegen eines geringfügigeren Delikts als eines Mordanschlages Verdächtigten die Regel ist -, ob sie für den Morgen des 7. April 1977 ein Alibi hat. Das scheint nicht geschehen zu sein. Und falls doch, dann ist die Antwort darauf vorenthalten worden. Die Vermutung, dass es eine schützende Hand für sie gegeben haben muss, steht nach wie vor im Raum.
Für die Aussetzung ihrer Strafverfolgung könnte es sogar eine rechtliche Grundlage gegeben haben. Denn es existieren geheim gehaltene »Zusammenarbeitsrichtlinien« für die Kooperation zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft auf der einen und den Geheimdiensten auf der anderen Seite. In § 14 dieser als »Verschlußsache« firmierenden und »Nur für den Dienstgebrauch« gedachten Anweisungen heißt es: »Die Strafverfolgungsbehörden beachten unter Berücksichtigung der Belange des Verfahrens das Sicherheitsinteresse der Verfassungsschutzbehörden, des Bundesnachrichtendienstes und des Militärischen Abschirmdienstes. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass ein Beschuldigter, Zeuge oder sonst am Verfahren Beteiligter geheimer Mitarbeiter der genannten Behörden ist oder war.«
Ein anderes immer wieder zu hörendes Argument lautet, dass es aus Gründen der Zeitökonomie im Fall des Buback-Attentates nicht zu einem Prozess gegen Becker gekommen sei. Im Jahre 1977 hätten sich die Ereignisse regelrecht überschlagen, und am Ende sei man froh gewesen, sie überhaupt in diesem Jahr noch verurteilt zu haben. Ganz unzweifelhaft hat die Herausforderung der RAF, die mit dem Racheakt gegen den Generalbundesanwalt begann, der Ermordung des Bankiers Ponto weiterging und mit der Entführung und Ermordung von Arbeitgeberpräsident Schleyer im sogenannten Deutschen Herbst kulminierte, zu einer Krise der Inneren Sicherheit geführt. Und in der Tat hatte es damals vor dem Hintergrund des Stammheimer Hauptverfahrens gegen die RAF, das durch die Blockadehaltung der Angeklagten, dem Ungeschick des Gerichtsvorsitzenden und eine Antragsflut der Verteidigung ein ums andere Mal ausgebremst worden war, eine Debatte über mögliche Schritte zu einer Beschleunigung in der juristischen Bewältigung des RAF-Terrorismus gegeben. Überlegungen zur Zeitökonomie waren also keineswegs an den Haaren herbeigezogen und besaßen durchaus einen Stellenwert. Dennoch muss dieser Gedanke im Zusammenhang mit dem Mordanschlag auf Siegfried Buback und seine beiden Begleiter abwegig und eher wie ein Ablenkungsmanöver erscheinen. Allein der abstrakte Gedanke, die Aufklärung des Attentates auf den höchsten Staatsanwalt der Republik und die Verfolgung der Täter aus utilitaristischen Beweggründen opfern zu wollen, mutet verdächtig an – zumal wenn er von Vertretern des Staates und der Justiz geäußert wird, die ansonsten nichts unversucht lassen, um ihre Loyalität dem Rechtsstaat gegenüber unter Beweis zu stellen. Wie eigentlich hätte die Bekämpfung des Terrorismus weiter gerechtfertigt werden sollen, wenn gerade die Strafverfolgung im Falle des ermordeten Generalbundesanwalts auf eine nicht nachvollziehbare Weise außer Kraft gesetzt worden wäre?
2. Beckers Herausnahme aus der Fahndung
Sichtbar könnte eine schützende Hand bereits im April 1977 kurz nach dem Karlsruher Anschlag geworden sein. Für die überraschende Wendung, die damals bei der Fahndung nach den mutmaßlichen Tätern eingetreten ist, hätte ein Hitchcock-Film Pate stehen können. Titel: »Eine Dame verschwindet«. Zunächst wird am Abend des Buback-Attentates in der Tagesschau das Bild eines Zeugen eingeblendet. Es handelt sich dabei um einen Autofahrer, der von einem auf der Nebenspur an der Ampel haltenden Pkw aus das Verbrechen verfolgt hat. Der Nachrichtensprecher erklärt dazu: »Dieser unmittelbare Zeuge des Überfalls auf Buback, ein Jugoslawe, berichtete, dass der Beifahrer auf dem Motorrad möglicherweise eine Frau gewesen sei.« Einen Tag später jedoch ändert sich das schlagartig. Am Karfreitag, dem 8. April, werden in der Tagesschau plötzlich drei Männer als Tatverdächtige präsentiert und sogar deren Namen genannt: »Bei der Fahndung nach den Mördern des Generalbundesanwalts Buback und seines Fahrers Göbel gibt es möglicherweise eine erste heiße Spur. Das BKA in Wiesbaden sucht aufgrund von Zeugenaussagen den der Tat dringend verdächtigen terroristischen Gewalttäter Günter Sonnenberg. Sonnenberg ist 22 Jahre alt. Außer ihm wird nach dem 24-jährigen Christian Klar und dem 25-jährigen Knut Folkerts gefahndet.« Zu sehen sind Porträtaufnahmen der drei Männer. Im Anschluss daran wird der Leiter der Abteilung Terrorismus im Bundeskriminalamt Gerhard Boeden interviewt.
Auf die Frage des ARD-Reporters, warum plötzlich nicht mehr nach einer weiblichen Mittäterin gesucht werde, antwortet der BKA-Beamte lapidar: »Nun, wenn Sie sich die Fahndungsfotos ansehen, dann kann man nicht ausschließen, dass einer der drei Beteiligten so aussieht, wie auch eine Frau aussehen kann.« Da Sonnenberg und Folkerts als Bartträger abgebildet werden, im Gegensatz dazu Klar keinen Bart trägt und eher feminin wirkt, dürfte Boeden wohl Letzteren gemeint haben. Durch Boedens Auftritt entsteht in der Öffentlichkeit ein prekärer Eindruck: »Das Verbrechen erschien somit am Tag danach bereits aufgeklärt, es galt nur noch, die nun bekannten Täter zu ergreifen.« Das war eine völlig trügerische Erfolgsmeldung. Es wurde der Eindruck vermittelt, als habe man genaue Kenntnisse von der Tat und brauche nur noch auf Hinweise aus der Bevölkerung zu warten, um die Täter in Gewahrsam zu nehmen.
Währenddessen fahndet die BKA-Zentrale in Wiesbaden aber nach einem etwas anders zusammengesetzten Trio – nach Sonnenberg, Klar und Becker. Der Leiter der Sonderkommission Buback beim BKA, Rainer Hofmeyer, hat das jedenfalls in einem im Juni 2008 vom SWR ausgestrahlten Rundfunkfeature klipp und klar festgestellt. Auf die Frage, nach welchen Personen gefahndet worden sei, antwortete er: »Günter Sonnenberg, Verena Becker, Christian Klar – diese Namen waren alle in unserem Zielspektrum.« Ganz offensichtlich hat sich die Abteilung Terrorismus des BKA in Bonn-Bad Godesberg also anders orientiert als die Zentrale des BKA in Wiesbaden. Dieser eklatante Widerspruch tritt auch in einem anderen Dokument zutage. Am selben Tag, an dem Boeden sein fragwürdiges Tagesschau-Interview gegeben hat, am 8. April 1977, taucht in der täglichen Lagemeldung des Bundeskriminalamtes die Zeugenaussage des Jugoslawen auf, der den Ablauf der Tat aus unmittelbarer Nähe verfolgen konnte. Darin heißt es: »[…] der Beifahrer, möglicherweise eine Frau, schoß mit einer automatischen Schnellfeuerwaffe.« In keinem anderen Punkt als der Geschlechterfrage verrät sich stärker die Diskrepanz zwischen der BKA-Zentrale und der BKA-Abteilung TE. Warum Boedens »falsche Weichenstellung mit langfristiger Wirkung« (Michael Buback) erfolgt ist, bleibt schleierhaft. Was also könnte ihn bewogen haben, Verena Becker aus der Schusslinie herauszunehmen? Gab es spezifische Verbindungen der 1975 zur Bekämpfung des RAF-Terrorismus gegründeten Abteilung TE zum Verfassungsschutz oder einem anderen Geheimdienst? Der BKA-Mann, der 1987 selbst Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz wurde und im Mai 2010 verstorben ist, hat sich nach seiner Versetzung in den Ruhestand nie zu dieser oder anderen Fragen öffentlich geäußert.
Angeklagt und verurteilt wurde dann jedoch nicht das von Boeden genannte Trio Sonnenberg, Klar und Folkerts, sondern ein anderes. Ebenso wenig wie Becker ist auch Sonnenberg vor ein ordentliches Gericht gestellt worden. Dritte im Bunde der Angeklagten wurde – wie durch eine Wunderhand gelenkt – Brigitte Mohnhaupt. Sie galt ja als die Figur, an die die RAF-Spitze zu Beginn des Jahres 1977 die Führungsrolle delegiert hatte. Gegen sie aber lagen keinerlei Indizien vor, die auf eine konkrete Beteiligung an den Karlsruher Verbrechen hätten hinweisen können. Sie konnte daher im Fall Buback auch nur als »Rädelsführerin« verurteilt werden. Die Verdachtsmomente gegen Sonnenberg und Becker waren ungleich höher als gegen diejenigen, die schließlich verurteilt wurden.
Der Grund für die Herausnahme Sonnenbergs könnte darin gelegen haben, dass sein Erscheinen auf der Anklagebank unweigerlich die Frage nach sich gezogen hätte, warum dort nicht auch Verena Becker hatte Platz nehmen müssen. Schließlich waren sie zusammen in der Nähe von Singen mit der Tatwaffe des Buback-Mordes in einer sie kompromittierenden Situation verhaftet worden. Zu Sonnenberg heißt es am Rand der Urteilsbegründung im Fall Mohnhaupt/Klar, dass die Bundesanwaltschaft im Hinblick auf dessen Beteiligung am Anschlag auf Generalbundesanwalt Buback und seinen Begleitern am 15. Januar 1982 mit einer Verfügung »von der Verfolgung abgesehen« hätte. Eine explizite Begründung wird dafür nicht angegeben. Es heißt lediglich, die Bundesanwaltschaft habe sich dabei auf § 154 Abs. 1 der Strafprozessordnung bezogen. Es heißt dort: »Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen, 1. wenn die Strafe oder die Maßregel der Besserung und Sicherung, zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten wegen einer anderen Tat rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt.«
Die Ansicht, dass es sich stattdessen bei Becker und Sonnenberg um die mutmaßlichen Buback-Attentäter gehandelt haben könnte, hatte sich nach Singen noch länger in der Presse gehalten. Kurz nachdem Bubacks Nachfolger Kurt Rebmann von Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel im Sommer 1977 in sein neues Amt eingeführt worden war, ließ es sich ein Journalist der Frankfurter Rundschau nicht entgehen, ihn darauf anzusprechen, warum in der Anklageschrift gegen Günter Sonnenberg nicht davon die Rede sei, dass er am Mord an Generalbundesanwalt Buback beteiligt gewesen wäre. Rebmann antwortete abwiegelnd, jedoch nicht ohne die RAF-Frau als Erste zu nennen: »Nun, die Anklage gegen Becker und Sonnenberg bezieht sich nur auf die beiden versuchten Morde in Singen. Das ist ein abgrenzbarer Tatkomplex. Ich halte es für richtig, einen klar abgrenzbaren Sachverhalt schnell anzuklagen, damit die Strafe der Tat möglichst schnell auf dem Fuß folgt. Das braucht man auch zur rechtlichen Befriedigung der Bürger. Die Frage, ob Sonnenberg und Becker im Falle Buback Mittäter waren oder die Alleintäter waren, wird weiterhin geprüft.« Der Journalist Werner Hill lässt jedoch keineswegs locker und hakt noch einmal nach: »Aber das ist natürlich etwas unbefriedigend, weil man doch die beiden praktisch schon als Täter angesehen hat und die Öffentlichkeit jetzt von einer Anklageschrift hört, in der dieser eigentliche Vorwurf nicht enthalten ist.« Rebmann, erneut abwiegelnd: »Nun, ich könnte mir denken, daß die Ermittlungen im Falle Buback eben noch gewisse Schwierigkeiten machen. Wahrscheinlich ist die Beweislage noch nicht so weit geklärt, daß Anklage erhoben werden kann gegen Becker und Sonnenberg.« Dieses Argument ist in der Folge immer wieder aufgegriffen worden. Angeblich habe es der Anklage gegen Sonnenberg und Becker an stichhaltigen Beweisen gefehlt. Das jedoch ist angesichts der unmittelbar nach dem Attentat vorliegenden Indizien über Tatverdächtige und Zusammenhänge fadenscheinig, wie inzwischen insbesondere durch das BKA-Schaubild bekannt gemacht und auch hier noch einmal ausgeführt worden ist.
3. Der Verdacht der Unterdrückung von Beweismitteln
Die Nichtberücksichtigung von Zeugenaussagen, in denen es um eine zierliche, möglicherweise weibliche Person ging, die beim Attentat vom Soziussitz aus die tödlichen Schüsse abgegeben hat, sind inzwischen so zahlreich, dass es überflüssig ist, sie an dieser Stelle noch einmal der Reihe nach zu rekonstruieren. Michael Buback, der einen enormen Aufwand betrieben hat, um derartige verloren gegangene oder vielleicht absichtlich unterdrückte Aussagen zusammenzustellen, spricht inzwischen von nicht weniger als 21 Zeugen, die diesbezügliche Aussagen gemacht haben sollen, die jedoch nicht weiter verwendet bzw. ignoriert worden sind. Zwei davon haben ihre Beobachtungen von einem Auto aus gemacht und von den 19 weiteren sind elf am Tattag und die anderen zuvor erfolgt.
Zur Unbrauchbarkeit der vom BKA festgestellten Haarspur: In einem der beiden Motorradhelme, die das Täterpaar auf der Suzuki getragen hatte und die zusammen mit der Maschine in der Brückenpfeilerkammer unter der Autobahnbrücke Wolfartsweier gefunden worden waren, fand sich eine Haarspitze, die mit jenen Haaren identisch war, die aus Beckers Haarbürste stammten, die nach der Festnahme in Singen gesichert worden war. Diese Spur wäre von zentraler Bedeutung gewesen, weil sie Beckers Identität mit jener Person auf dem Soziussitz der Suzuki hätte nachweisen können. Im Schaubild des BKA wird das deshalb auch festgehalten. Durch eine DNA-Analyse, wie sie ja inzwischen auch im Falle der von Becker zugeklebten Bekennerschreiben nachgeholt worden ist, hätte man klären können, ob es sich dabei um einen unumstößlichen Beweis handelt. Doch später soll sich herausgestellt haben, dass diese Haarspitze unbrauchbar geworden sei. Warum aber?
Bemerkenswert ist auch, dass die Bundesanwaltschaft zu dem Schluss gelangt ist, der in Singen sichergestellte Suzuki-Schraubendreher könne nicht mit dem des Tatmotorrads identisch sein. Die von Gerhard Boeden geleitete Abteilung Terrorismus des Bundeskriminalamtes hatte im August 1977 überraschenderweise eine Nachermittlung in Gang gesetzt. Der Geschäftsführer des Düsseldorfer Motorradgeschäftes, in dem am 2. April 1977 mit Sonnenberg der Mietvertrag für das Tatmotorrad abgeschlossen worden war, hatte in einer merkwürdig anmutenden Erklärung die Nichtidentität des Schraubendrehers festgestellt. Durch diese mit besonderem Aufwand betriebene Zeugenaussage konnte eine wichtige Verknüpfung außer Kraft gesetzt werden. Michael Buback hat diesen Vorgang akribisch untersucht und im Anschluss daran deutlich gemacht, dass ihn dieser Schachzug nicht überzeugt, sondern eher noch misstrauischer gemacht habe. Wer hat eigentlich, so ist zu fragen, den Auftrag zu dieser Nachermittlung erteilt?
Es gibt jedoch andererseits keinen Automatismus, um vom zeitweiligen Besitz einer Tatwaffe auch auf ihre Verwendung zur Begehung einer Tat durch dieselbe Person zu schließen. Die Vielzahl der Augenzeugenberichte hat aber das Profil der für die Abgabe der tödlichen Schüsse infrage kommenden Person zu einer kleinen, wahrscheinlich weiblichen Verdächtigen verdichtet. Innerhalb der RAF sind Anfang 1977 eine ganze Reihe von Frauen bei Gewaltaktionen in Erscheinung getreten, die den Zeugenbeschreibungen in ihrer Körpergröße entsprechen könnten. Dazu zählt etwa auch die 1,59 Meter große, im Dezember 1975 an der Geiselnahme der OPEC-Konferenz in Wien beteiligte Gabriele Kröcher-Tiedemann. Die 1995 einem Krebsleiden erlegene Terroristin war 1975 mit Becker zusammen freigepresst worden, ebenfalls in den Südjemen geflogen, um sich in einem Trainingslager von Haddads PFLP ausbilden zu lassen, und galt als geübte Schützin. Der ominöse Koffer, der von Becker vor dem Antritt ihrer Zugreise zum Hohentwiel nach Zürich abgeschickt worden war, könnte für sie gedacht gewesen sein. Denn genau zu dieser Zeit hielt sich Kröcher-Tiedemann in der Schweizer Metropole auf. Sie hätte einen Monat zuvor also durchaus auch in Karlsruhe zum Einsatz gekommen sein können. In der konkreten Frage nach der mutmaßlichen Todesschützin dürfte es jedenfalls immer noch einen nicht ganz unerheblichen Spielraum geben.
Warum hat mit Kay Nehm Rebmanns Nachfolger als Generalbundesanwalt 1994 das Bundeskriminalamt angewiesen, »die Spurenakten zum Mordfall Buback zu vernichten«? Angeblich aus Platzgründen. Angesichts der seit Langem zur Verfügung stehenden Möglichkeit, umfangreiche Aktenbestände auf Mikrofilm zu sichern, wirkt das jedoch wie vorgeschoben. Damit lassen sich all jene Spuren, die im Ermittlungsverfahren eine Rolle gespielt haben, nicht mehr rekonstruieren. Das ist in einem Fall, in dem es um dreifachen Mord geht und der nicht verjährt, unverantwortlich und verdächtig zugleich.
Warum ist Verena Beckers Tagebuch, das nach der Schießerei bei Singen in ihrem Gepäck aufgefunden wurde, unter Verschluss gehalten und in ihrem Prozess vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht nicht verwendet worden? Michael Buback erfuhr von dessen Existenz erst auf Umwegen und eher zufällig im September 2008. Mit einem ersten Versuch, sich bei der Bundesanwaltschaft Gewissheit darüber zu verschaffen, war er noch ins Leere gestoßen. Bundesanwalt Walter Hemberger hatte ihm geantwortet, er hätte zwar schon einmal davon gehört, bei Nachfragen unter seinen Kollegen jedoch dafür keine Bestätigung bekommen können. Erst in einem zweiten Anlauf stellte sich im Februar 2009 heraus, dass bei einer »Nachschau« unter den Sachakten des Ermittlungsverfahrens gegen Verena Becker die Kopie eines Notizbuchs gefunden worden wäre, das mit hoher Wahrscheinlichkeit Becker zuzuordnen sei. Warum aber ist dieses bedeutende Dokument nicht von Bundesanwalt Joachim Lampe, der in dem Stammheimer Gerichtsverfahren die Anklage gegen Becker vertreten hat, eingebracht worden?
Und warum fehlen in dem Notizbuch bzw. in der Kopie des Notizbuches die Seiten vom 15. Februar bis zum 8. April? Sie sind herausgerissen worden. Unklar ist allerdings, wann und von wem. Noch vor der Festnahme am 3. Mai in Singen oder erst im Anschluss daran? Wenn dies danach geschehen sein sollte, dann wäre das ein eindeutiger Hinweis auf einen Vertuschungsversuch. Gerade diese Aufzeichnungen, von denen die meisten verschlüsselt waren, hätten für die Aufklärung des Buback-Attentates von höchster Bedeutung sein können. Sollte sie selbst, was nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, die Seiten aus Sicherheitsgründen herausgerissen haben? Gegen diese Vermutung spricht allerdings, dass sie das Kalendarium überhaupt weiter bei sich hatte. Sehr viel wahrscheinlicher ist die Annahme, dass jemand die fehlenden Seiten nach ihrer Festnahme entfernt hat, um Spuren und damit mögliche Indizien für ihre unmittelbare Tatbeteiligung zu vernichten. Die Tatsache, dass sich erst nach drei Jahrzehnten und nur mit großer Mühe ein Existenzbeweis für Beckers Aufzeichnungen erbringen ließ, verstärkt die Verdachtsmomente erheblich.
Warum bleibt eigentlich auch Beckers Begnadigungsakte verschwunden? Aus den Unterlagen müsste ersichtlich sein, mit welchen Argumenten sich Generalbundesanwalt Rebmann am 22. Juli 1989 für eine Begnadigung Beckers eingesetzt hat. Und vielleicht sogar, welche Faktoren seitens der zuvor an der Beratung beteiligten Behörden – der Bundesanwaltschaft, dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst – Berücksichtigung gefunden haben.
4. Die Herausnahme von Verena Becker aus den verschiedenen von der Bundesanwaltschaft verfassten Anklageschriften
Michael Buback hat bereits in der ersten Fassung seines Buches moniert, dass Verena Becker in einem Abschnitt der Anklageschrift gegen Knut Folkerts zwar noch aufgeführt wird, im Gegensatz dazu jedoch in der Anklageschrift gegen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar vollständig fehlt. Es handelt sich um die »Ermittlungen zur Tatwaffe«. Während bei Folkerts noch von der »Festnahme von Günter Sonnenberg und Verena Becker« die Rede ist, wird in der Anklage der beiden anderen nur noch von der »Festnahme von Günter Sonnenberg« gesprochen. Kann man die Eliminierung einer Tatverdächtigen in einer Anklageschrift noch mit Zufall erklären?
Die Meldung, dass Becker hochgradig verdächtig war, an dem Kölner Banküberfall vom 12. April 1977 und auch an dem in Düsseldorf vom 15. April beteiligt gewesen zu sein, wird weder bei den Ermittlungen noch bei den Gerichtsverfahren berücksichtigt. Das ist umso erstaunlicher, als die Bundesanwaltschaft davon informiert gewesen ist. Michael Buback hat überdies darauf hingewiesen, dass die Aktenzeichen – »1 BJs 26/77« (Attentat) und »BJs 27/77« (Banküberfall) sogar unmittelbar aufeinander gefolgt sind. Das zu übersehen, kann kein Zufall gewesen sein.
5. Der Verdacht der Manipulation einer Verfassungsschutzakte
Am heftigsten umkämpft war die Verfassungsschutzakte, in der sich das Protokoll der von Becker dem BfV gegenüber gemachten Aussagen befinden sollen. Inzwischen sind Zweifel aufgetaucht, was den Inhalt des nach wie vor als geheim eingestuften Dokuments anbetrifft. Denn im entscheidenden Punkt ist ein klärungsbedürftiger Widerspruch aufgetreten. Die Akte besteht – wie bereits erwähnt – aus zwei verschiedenen Teilen, einem 227 Seiten umfassenden Operativvermerk, in dem die bei der Vernehmung der Quelle gemachten Aussagen enthalten sind, und einem dazugehörigen 82-seitigen Auswertevermerk, der auf der Grundlage des ersten Dokuments vom BfV in Köln angefertigt worden ist. Die von Becker angeblich zum Karlsruher Attentat abgegebene zentrale Information, dass Sonnenberg das Motorrad gelenkt, Wisniewski geschossen und Klar im Wagen auf die flüchtenden Täter gewartet habe, taucht im Operativvermerk, also dem eigentlichen Vernehmungsprotokoll, überhaupt nicht auf. Das jedenfalls ist Michael Buback und seiner Frau, denen ja eine Einsicht in das Geheimdokument gewährt worden ist, bei ihrer Lektüre aufgefallen.
Die Frage ist nun, wie kommt eine solche Aussage in eine Auswertung, den sogenannten Aussagevermerk, überhaupt hinein? Gab es noch eine andere, zusätzliche Grundlage für die Auswertung, oder aber ist diese Aussage »erfunden« worden, um die Tatverdächtige zu schützen? Die erste Möglichkeit würde der vom damaligen Bundesinnenminister Schäuble dem Sohn des Attentatsopfers im Juli 2007 gegebenen Zusicherung widersprechen, dass die Generalbundesanwältin über die Ergebnisse der von Becker gegebenen Auskünfte »umfassend« in Kenntnis gesetzt worden sei. Danach könne, so schlussfolgert Michael Buback, die dem Generalbundesanwalt übergebene Verfassungsschutzakte eigentlich nicht unvollständig sein. Demnach dürfte Becker bei ihrer Befragung gar keine Aussage über die Karlsruher Täter gemacht haben.
Die zweite Möglichkeit wäre ein Manipulationsversuch mit weitreichenden Folgen. Worin diese bestanden haben könnten, hat Michael Buback in einem Interview bereits zum Ausdruck gebracht: »Diese Ergänzung war günstig für Verena Becker, denn, wenn drei Männer die Tat verübten, wie es im Behördenzeugnis steht, käme sie ja nicht als unmittelbare Mittäterin in Betracht. Zudem kann man aufgrund der Tatsache, dass sie eine Aussage über die Täter gemacht hat, argumentieren, sie stehe jetzt auf der richtigen Seite und unterstütze die Ermittler, sodass man ihr eher Vorteile wie Hafterleichterung, Bezahlung und frühe Gnadenwürdigkeit gewähren könnte.« Dies ist natürlich nur eine Vermutung. Aber ohne plausibel erscheinende Vermutungen lässt sich in einem Fall, in dem von staatlicher Seite ein ums andere Mal »gemauert« worden ist, kein Erkenntnisgewinn erzielen. Unabhängig davon, welche der beiden Varianten zutrifft, zeigt sich jedoch wieder einmal, dass sich auch bei der einzig vorliegenden Aussage der Tatverdächtigen, zu der es ohnehin einen nur sehr eingeschränkten Zugang gibt, die Hoffnung auf eine Klärung der in den Tatvorgang Involvierten bereits im ersten Ansatz zu verflüchtigen scheint.
Teil 3
6. Der unterschiedliche Einsatz der Gegenüberstellung
Die kriminalistische Praxis, Tatverdächtige Zeugen gegenüberzustellen, ist nicht zu Unrecht als ein problematisches Verfahren kritisiert worden, deren Ergebnisse zumindest mit Skepsis behandelt werden müssen. Besonders in einem Fall, in dem sich wie in Karlsruhe die beiden Täter unter ihrer Motorradmontur und den dazugehörigen, mit Klappvisieren ausgestatteten Helmen nur zu gut verstecken konnten. Aus diesem Grund ist immer wieder behauptet worden, es wäre völlig nutzlos gewesen, eine Gegenüberstellung Verena Beckers mit Augenzeugen des Karlsruher Attentates herbeizuführen. Selbst wenn es zu einer Identifikation gekommen wäre, so hätte sie doch als problematisch erscheinen müssen. Da Gesicht und Frisur durch den Helm verdeckt waren, hätte man sich nur auf die Körpergröße, das Körperprofil oder -volumen und die Bewegungseigenschaften des oder der Verdächtigen konzentrieren können.
Warum ist aber – so muss gefragt werden – im Gegensatz zu Becker eine Gegenüberstellung mit Knut Folkerts erfolgt? Bei beiden wäre es ja, was in der Tat von vornherein zweifelhaft war, nur in der auf dem Motorrad getragenen Kleidung und mit aufgesetzten Helmen, also in der entsprechenden Tarnung, möglich gewesen. Die Zeugin Edith Neukirch hatte man zusammen mit anderen Zeugen sogar in einem Bus nach Utrecht gefahren, um Folkerts dort zu identifizieren. Der offiziell als Buback-Attentäter Verdächtigte war in der niederländischen Stadt am 22. September 1977 verhaftet worden, nachdem er zuvor einen Polizisten erschossen und einen anderen schwer verletzt hatte. Sollte das vielleicht etwas damit zu tun haben, dass man bei dem von Boeden präsentierten Verdächtigen eine entsprechende Wiedererkennung auf jeden Fall erreichen, im Falle Becker hingegen nach Möglichkeit vermeiden wollte? Diese Form der Ungleichbehandlung sticht jedenfalls ins Auge. Dass die Zeugin Neukirch den als tatverdächtig Geltenden nicht »wiedererkannt« hat, so könnte man inzwischen zu sagen geneigt sein, ist ganz logisch gewesen. Denn Folkerts kann es – wenn man Boock und seiner eigenen Erklärung trauen darf – nicht gewesen sein. Und warum hätte eine Zeugin jemanden »wiedererkennen« sollen, den sie am Tatort gar nicht gesehen haben kann?
Der Karlsruher Rechtsanwalt Michael Rosenthal hat auf die grundsätzlichen Schwierigkeiten im Hinblick auf die Identifikation von Tatverdächtigen durch Zeugen bei der Gegenüberstellung aufmerksam gemacht. Der Spiegel hatte ihn 2007 in einem Interview danach gefragt, wie es möglich sein könnte, dass einerseits Folkerts erklärte, sich weder vor noch nach der Tat in Karlsruhe aufgehalten zu haben, er andererseits aber in dieser Zeit von verschiedenen Zeugen in Karlsruhe oder sogar am Tatort gesehen worden sein soll. Rosenthal meint, dass sich »ein systematischer Fehler in die Beweisführung eingeschlichen« haben könnte:
»Die Wiedererkennung durch Zeugen ist […] ein Problem, denn die Erinnerung kann leicht von äußeren Einflüssen überlagert werden. Wenn sich da etwas im Unterbewusstsein verschiebt, etwa indem der Zeuge Fahndungsbilder mit seiner ursprünglichen Wahrnehmung vermischt, kriegt man das nie wieder in den Griff […] Deshalb muss nach heutigem Standard ein Urteil akribisch wiedergeben, wie dieser Prozess der Identifikation abgelaufen ist: Wie war der genaue zeitliche Ablauf der verschiedenen Wahrnehmungen, wie hat der Zeuge zum ersten Mal für sich oder im privaten Kreis die Person identifiziert, wie lief die Identifikation bei der Polizei? Das tut das Urteil aber bei sämtlichen Zeugenaussagen nicht oder allenfalls scheinbar. Man kann den Richtern selbst in diesem Punkt zwar keinen Vorwurf machen: Solche Ausführungen wurden damals noch nicht höchstrichterlich verlangt, auch weil man sich der Probleme im Detail noch nicht voll bewusst war. So kann man aber leider nicht ausschließen, dass in einigen, vielleicht sogar in allen Fällen bei der Wiedererkennung gravierende Fehler unterlaufen sind […] Nehmen wir das Ehepaar, das gesehen haben soll, wie Folkerts mit zwei anderen Männern zwei Tage vor der Tat beim Bahnhof Bietigheim-Bissingen in einen Alfa Romeo, das spätere Fluchtfahrzeug, stieg. Der Mann will Folkerts sowie Günter Sonnenberg und Christian Klar auf den Fahndungsblättern – die genau diese drei zeigten – wiedererkannt haben. Bei einer späteren ›Gegenüberstellung‹, heißt es im Urteil, habe der Zeuge zwar bei Sonnenberg Einschränkungen gemacht, sei sich aber bei Folkerts ›sicher‹ gewesen. Wie man heute weiß, ist dabei der Ablauf entscheidend: Zeigt die Polizei bei einer Gegenüberstellung oder der Identifizierung mit Hilfe von Fotos die Auswahlpersonen gleichzeitig, ist die Gefahr, dass jemand ›falsch‹ wiedererkannt wird, viel höher, als wenn die Personen oder deren Fotos nacheinander präsentiert werden. Dem Gericht hat es aber genügt, wenn die Zeugen selbst meinten, die Fahndungsbilder hätten sie nicht beeinflusst. Da muss man befürchten, dass das nicht optimal lief.«
Danach erscheint es als durchaus denkbar, dass Folkerts, dem ja mit Misstrauen entgegengetreten wird, weil man ihm unterstellt, Aussagen nur aus Eigeninteresse zu machen und deshalb möglicherweise zu lügen, die Wahrheit gesagt hat und sich im Gegensatz dazu alle Zeugen, denen eine unbeteiligte, der Wahrheitsfindung gegenüber eine sehr viel günstigere Rolle zugestanden wird, geirrt haben.
7. Beckers Hafterleichterungen
Ein anderer gewichtiger Punkt sind Beckers misstrauenerweckende Hafterleichterungen. Wie der Berliner Justizsenator in einer am 8. November 1974 herausgegebenen »Dokumentation über die Haftbedingungen der Untersuchungs- und Strafgefangenen, die sich wegen politisch motivierter Straftaten zur Zeit in Berliner Justizvollzugsanstalten im Untersuchungs- oder Strafhaft befinden« belegt, hatte Verena Becker – wie es in dem sie betreffenden Abschnitt heißt -, bevor sie am 24. Oktober in ein Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten in Moabit überführt wurde, um sie dort künstlich ernähren zu lassen, reichlich Gelegenheit zu Kontakten zu Mitgefangenen der Bewegung 2. Juni und der RAF. Zusammen mit Ingrid Siepmann, Annerose Reiche und fünf weiteren Gefangenen konnte sie einmal wöchentlich zwischen 19.00 und 22.00 Uhr Fernsehsendungen verfolgen. Täglich hatte sie in Moabit die Möglichkeit zu einer gemeinsamen Freistunde mit Ulrike Meinhof, die wegen des Prozesses zur Baader-Befreiung vorübergehend von Stuttgart-Stammheim nach West-Berlin überstellt worden war. In der Vollzugsanstalt für Frauen erhielt sie ebenfalls täglich für eine Stunde Gelegenheit zu einer gemeinsamen Freistunde mit Siepmann und acht anderen weiblichen Gefangenen. Im Abschnitt über Ulrike Meinhof heißt es in der Dokumentation, ihr sei in Moabit »die Freistunde mit einer anderen Gefangenen gestattet« worden. Das kann im Umkehrschluss also nur Verena Becker gewesen sein. Ein solcher Kontakt, so ein ungenannt bleiben wollender Sicherheitsexperte, habe »eigentlich allen Regeln« widersprochen. Warum also ist es Becker ermöglicht worden, sich täglich unkontrolliert mit Ulrike Meinhof zu unterhalten? Hatte sie den Auftrag, die Spitzengenossin der RAF auszuhorchen, um dem Verfassungsschutz (oder der Abteilung Terrorismus des BKA) Informationen über die RAF zu verschaffen?
Eine weitere denkwürdige Hafterleichterung trat drei Jahre später während Beckers zweiter Haftzeit in Kraft. Ende Juni 1977 wurde es Gudrun Ensslin gestattet, ihre Zeit – und zwar Tag wie Nacht – mit Becker, Schmitz und Schubert gemeinsam verbringen zu dürfen. Auch hier drängt sich die Frage auf, ob das eigentliche Interesse darin bestanden haben könnte, dass Becker eine Gelegenheit gegeben werden sollte, die zweite Führungsfrau aus der RAF-Spitze auszuhorchen? Gerade die Tatsache, dass dieser »Umschluss« drei RAF-Gefangenen gleichzeitig eingeräumt wurde, dürfte diesen Schritt weniger verdächtig gemacht haben. Auch die jahrelange Leugnung, dass Becker überhaupt in Stammheim einsaß und dort Kontakt zur Führungsspitze der RAF aufzunehmen in der Lage war, könnte damit in Zusammenhang stehen.
In einem anderen Punkt geht es um eine Lockerung der Haftbedingungen, die allerdings weniger im Interesse der Inhaftierten, sondern ganz in dem einer staatlichen Behörde gelegen haben dürfte. Generalbundesanwalt Rebmanns am 11. Mai 1977 getroffene Entscheidung, es BKA-Beamten der Abteilung Terrorismus »jederzeit« – wie es ausdrücklich heißt – zu gestatten, Verena Becker »zwecks Ermittlungshandlungen auszuführen«, nährt den Verdacht, dass damit eine besondere Zugriffsmöglichkeit auf die RAF-Gefangene ermöglicht werden sollte. Wozu und wohin sollte Becker »ausgeführt« werden? Einer Abteilung des BKA ist damit ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt worden, eine dringend Mordverdächtige der Kontrolle durch die Justiz zu entziehen. Leiter der Abteilung Terrorismus im BKA war jener Beamte, der einen Tag nach dem Karlsruher Attentat für die entscheidende Weichenstellung gesorgt hatte und später zum Präsidenten des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz aufstieg: Gerhard Boeden.
8. Das Verwirrspiel um Beckers Unterbringung in diversen Haftanstalten
Ihre erste Station ist angeblich die Frauenhaftanstalt Frankfurt-Preungesheim. In Wirklichkeit befindet sich Becker jedoch – was vom baden-württembergischen Justizministerium noch 2007 in Abrede gestellt wird – in Stammheim. Im Januar 1981 wird Becker wegen der Nachbehandlung einer Tuberkulose-Erkrankung angeblich in die Justizvollzugsanstalt Kassel verlegt. Doch sie ist keineswegs an Tuberkulose erkrankt und auch nicht von Stammheim nach Kassel verlegt worden. Dort saß sie bereits drei Jahre früher ein, zu Beginn des Jahres 1978. Im September 1981 soll sie außerdem in das bayerische Gefängnis Aichach verlegt worden sein. In Wirklichkeit sitzt sie zu dieser Zeit aber in Köln in einer konspirativen Wohnung und packt über ihre Vergangenheit wie die ihrer Mitkämpfer aus. Insofern spricht alles für eine Inszenierung, mit der das BfV nichts anderes als eine Täuschung der Öffentlichkeit beabsichtigt hat, um seine Kontakte zur RAF-Gefangenen kaschieren zu können.
9. Haftverschonung durch Begnadigung
Der Staat hat Becker gegenüber letztlich in auffälliger Weise Milde walten lassen. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte ihrem Gnadengesuch vom Januar 1989 ein Dreivierteljahr später stattgegeben. Dieses Faktum allein muss noch nicht misstrauisch stimmen. Es ist eher die Art und Weise, wie die Begnadigung zustande gekommen ist. Formal betrachtet war alles in Ordnung. Der Bundespräsident hatte den damaligen Generalbundesanwalt Kurt Rebmann um eine entsprechende Stellungnahme gebeten, und der hat sie dann auch vorgelegt. Diese basierte jedoch auf einer Beratung zwischen Vertretern der Bundesanwaltschaft, dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst. Damit könnten wieder einmal Geheimdienste bei einer Entscheidung, die eine RAF-Gefangene betraf, die zumindest mit dem BfV in Köln kooperiert hatte, die Oberhand gehabt haben. Es ist auffällig, dass das Bundeskriminalamt dabei nicht berücksichtigt worden ist. Vielleicht war das angesichts der Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt mit Gerhard Boeden der ehemalige Leiter der Abteilung Terrorismus im Bundeskriminalamt Präsident des BfV war, auch gar nicht weiter erforderlich.
10. Beckers Beschattung vor ihrer Festnahme in Singen
Wer hat Becker, Sonnenberg und ihre drei Begleiter in der Nacht vom 2. auf den 3. Mai 1977 auf ihrer Reise von Essen in Richtung Süden beschattet? Es können nur staatliche Akteure gewesen sein. Handelte es sich tatsächlich um ein Beobachtungskommando des Bundesnachrichtendienstes? Und falls ja, seit wann waren sie den ursprünglich fünf Personen, wahrscheinlich allesamt Mitglieder der Haag-Gruppe, auf den Fersen? Was war der Auslöser für ihre Beobachtung? Wie lange hat sie gedauert? Und führte sie, wovon auszugehen ist, bis nach Singen? Und was geschah angesichts der sich dort abspielenden Eskalation der Ereignisse? Spielten sich etwa die Entziehung der Festnahme und die anschließende, bis auf die Wiesen der Aach führende Verfolgungsaktion unter Beobachtung eines Geheimdienstes ab?
Nach Angaben eines Journalisten soll es nicht irgendeine Besucherin des Cafe »Hanser« gewesen sein, die misstrauisch wurde und die Polizei alarmiert hat, sondern die Angehörige eines Zielfahndungskommandos des Bundesnachrichtendienstes. Diese Agentin sei zusammen mit einem Kollegen den beiden RAF-Mitgliedern bereits seit längerer Zeit, angeblich seit Beginn des Jahres 1977, auf den Fersen gewesen. Sie sollen sich am frühen Morgen sogar bei der Singener Polizei unter Vorlage ihrer Dienstausweise gemeldet haben. Ihr Plan habe darin bestanden, Becker und Sonnenberg von der Polizei aus dem Cafe herausholen zu lassen, um anschließend einen Zugriff zu starten. Geheimdiensten obliegen bekanntlich keine polizeilichen Befugnisse; ihnen ist es nicht gestattet, Festnahmen durchzuführen. Insofern wären sie auf die Unterstützung der Polizei angewiesen gewesen. »Doch die Singener Polizei«, so ein Beamter, »hat die Sache vermasselt.« Unter den Augen der BND-Agenten sei es dann zu der beinahe tödlich verlaufenen Eskalation gekommen.
Mit freundlicher Genehmigung der Hamburger Edition
Wolfgang Kraushaar: „Verena Becker und der Verfassungsschutz“ Hamburger Edition, Hamburg 2010 203 Seiten, 16 Euro Erscheint am 11. Oktober 2010
Der Autor, geboren 1948, ist Politologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung im Arbeitsbereich „Die Gesellschaft der Bundesrepublik“.
Arbeitsschwerpunkte sind die Untersuchung von Protest und Widerstand in der Geschichte der Bundesrepublik und der DDR (1949 bis 1990); insbesondere 68er-Bewegung, RAF und K-Gruppen; Totalitarismus- und Extremismustheorie; Pop-Kultur und Medientheorie.