Bald ist er 76 Jahre alt, aber Leonard Cohen kann und will es nicht lassen, er spielt noch immer;  im September kam sein neues Livealbum in die Plattenläden. Bei seinem Konzert in Stuttgart bereitete er sich und seinen Fans ein großes Fest. Fritz Feder war für uns dabei …

Was für eine Energie, Friedfertigkeit und Heiterkeit strahlt dieser eher schmächtig wirkende Mann aus. Mit buddhistisch nach vorne gefalteten Händen verneigt er sich immer wieder vor seinen Mitspielern und dem Publikum. Zieht den Hut selbstironisch hoch, um sein Alter qua Haarfarbe zu demonstrieren: 76. Man denkt, das Konzert ist jetzt zu Ende, aber dann singt und spielt dieser Poet, dieser Singer Songwriter, der schon 1967 bei einem Auftritt auf dem Newport Folkfestival bekannt wurde („Suzanne“), nochmal über fast ein Drittel der Länge des Hauptkonzerts seine vom Publikum frenetisch gefeierten Zugaben, darunter das unsterbliche So Long, Marianne. Am Ende hat er in fast vier Stunden einen großen Teil seines Repertoires präsentiert.

Leonard Cohen in Stuttgart. Foto: Janine Feder

Leonard Cohen und sein Auftritt in der Stuttgarter Hans Martin Schleyer-Halle vor etwa 8.500 Zuschauern, einem kenntnisreichen Publikum gemischt aus alt, sehr alt und jung. Man kennt die lyrischen Texte und sang die Refrains mit: First We Take Manhattan, Bird On The Wire, Joan of Arc, Tower of Song, Sisters of Mercy…und und und…natürlich der Ohrwurm Hallelujah, der von unzähligen jungen Sängern und Sängerinnen gecovert und auch durch den mitreißenden  Film „Die fetten Jahre sind vorbei“ bekannt wurde. Cohen bietet uns Texte an, die man genauer zur Kenntnis nehmen sollte. Und er singt sie mit seinem sonoren Bass so klar und verständlich, dass auch ein Günther Oettinger sie verstehen könnte. Der tiefere Gehalt seiner psychedelischen Lyrik voller Farben allerdings ist nur mit Gefühl zu erfassen. Es sind intime und sensible Botschaften aus einer besseren Welt, mit denen sich nur der anfreunden kann, für den das schöne Wort Utopie (griechisch für Ou Topos = Nicht-Ort (im Sinne von Noch-Nicht-Ort) noch einen Platz im Hirnlexikon hat. Cohen ist kein banaler politischer Botschafter, sondern einer, der mit seinen Liedern eine konkrete Utopie, das Schöne und Friedfertige, vorlebt und uns dabei enthusiastisch  ins Herz hinein singt. Ein nunmehr alter Mann, der unsere zermürbten Seelen wieder jung und geschmeidig macht. Gäbe es mehr Leute wie ihn, so wäre die Welt wirklich friedfertiger, möchte man denken.

Wir verlassen die Halle, und befinden uns mit Träumen im Kopf wieder in der Realität. Die Massen der Konzert-Besucher mischen sich mit den letzten Scharen abgehender dirndl- und lederhosen-bewehrter Besucher des nahen Cannstatter Wasen und viele trieb die Frage um, was wohl zeitgleich auf der Riesendemonstration zu Stuttgart 21 an jenem Freitagabend, dem 1. Oktober, passiert sein mochte. Inzwischen weiß man es:  nach der Wasser- und Prügelorgie vom Donnerstag war es diesmal friedlich geblieben. Der Spirit Leonard Cohens mag gewirkt haben. Und in der „Stuttgarter Zeitung“ konnte man tags darauf nachlesen, dass der „Liedflüsterer“ den „Baumschützern“ sein solidarisches Mitgefühl ausgesprochen hatte – eine schöne, knappe Geste an jenem Abend, fern von jeder Plumpheit einer übereilten Fraternisierung:

Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack in everything
That’s how the light gets in.
(Refrain aus Cohens Lied  “Anthem“)

Ein unvergesslicher Abend. Ein zart-kräftiger Hauch von „Anything goes“:  irgendwie eben auch Utopie. „Seid realistisch, fordert das Unmögliche“, so hieß es schon in der Hippie-Zeit. Sie ist nicht zu Ende.  Fritz Feder alias GALAK

Okt. 2010 | Allgemein, Feuilleton | Kommentieren