Hallo, Christen, Islamisten und andere Fundamentalisten
Das Paradox der Toleranz ist offenkundig unter „Entschuldigern und Toleranz unter allen Umständen Predigern“ wohl noch weniger als nicht bekannt: Uneingeschränkte Toleranz führt notwendig unweigerlich zum Verschwinden der Toleranz.
Der dänische Mohammed-Karikaturist Kurt Westergaard erhält in diesem Jahr den Medienpreis der Potsdamer Journalistenvereinigung M100. «Westergaard ist zum Symbol der Presse- und Meinungsfreiheit geworden», sagte Potsdams Oberbürgermeister Jann Jacobs (SPD) am Montag. Der 75-Jährige werde für sein unbeugsames Eintreten dieser demokratischen Werte geehrt und dafür, dass er sie trotz Gewalt- und Todesdrohungen verteidige. Die undotierte Auszeichnung wird am Mittwoch (8. September) in Potsdam im Rahmen des M100 Sanssouci Colloquiums verliehen. Westergaard wird nach Angaben der Veranstalter trotz Sicherheitsrisiko anwesend sein. Und das ist auch gut so:

Nein, das ist eine andere Karrikatur; jedoch haben wir auch hierzulande - gegen den (sog. Gotteslästerungsparagraphen) § 166 StGB noch lange nach der Aufklärung - für Meinungs- und Pressefreiheit gekämpft. Weil dem so ist, finden Sie am Artikel-Ende einen Link auf eine Rundschau-Seite, wo (unter anderem) die inkriminierten Karrikaturen auch anzusehen sind! Spere aude …
Wenn wir nämlich die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe intoleranter Hassprediger zu verteidigen, dann werden wir, dann werden die Toleranten vernichtet werden. Und die Toleranz mit ihnen. Das ist ebenso eindeutig wie unerfreulich. Unerfreulich schon allein deshalb, weil wir so von Intoleranten um der Toleranz willen gezwungen werden, intolerant zu sein.
Natürlich wünschen wir nicht gesagt zu haben, man müsse unbedingt und auf jeden Fall intoleranten Menschen – wie das Fundamentalisten jedweder Coleur, egal ob Christen oder Islamisten, nun einmal per se sind – mit Intoleranz begegnen. Jedoch haben jene diese Einschränkung dann verspielt, denen man mit rationalen Argumenten nicht mehr begegnenkann, und sie so (und wäre es durch die öffentliche Meinung) in Schranken gehalten werden können. Dann nämlich, d a n n muss ihnen entgegnet werden, wäre ihre Unterdrückung mehr als selbsterhaltend vernünftig.
Wir müssen uns das Recht nehmen dürfen, gewaltsamer Intoleranz – gesetzt den Fall, sie wäre anders nicht zu unterdrücken – mit (es gibt sie schließlich) konsequent angewendeten Gesetzen zu begegnen; hatten wir nicht gerade wieder einmal das Missvergnügen, mitansehen zu müssen, dass Vertreter der Intoleranz die Ebene rationaler Diskussion (bewusst) verlassen ? Das sich von (oft dümmlichen, aber sachlich nachvollziehbaren) Karrikaturen distanzierende Gehabe ist so feige, wie die Entschuldigung des Papstes beim randalierenden islamischen Pöbel. Jenem wurde von islamischen Würdenträgern verboten, auf rationale Argumente – die sie ein Täuschungsmanöver nennen – zu hören; stattdessen wurde den auf der Straße herumpöbelnden „Gläubigen“ (mehr als deutlich durchschaubar) Weisung gegeben, Argumente mit Fäusten und Pistolen, mit der Ermordung einer „Ungläubigen“ Nonne, mit dem Zerstören von „Andersgläubigen Gotteshäusern“, mit dem Verbrennen von Fahnen und Benedikt nachempfundenen Puppen (das sollte mal wer mit einer Mohammed Puppe tun) zu beantworten. Hören wir auf, dem mit Toleranz oder feigen Entschuldigungen zu begegnen. Nehmen wir im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch, Unduldsame nicht zu dulden. Genau: Ihnen mit Intoleranz zu begegnen. Wir müssen geltend machen dürfen, daß sich Intoleranz predigende Bewegungen (gleich welcher Farbe, ob grün oder schwarz oder braun oder rot, evanglisch, katholisch oder islamisch) nicht mehr in den asylantisch abgesicherten Raum heiliger oder anderer fundamentalistischer Schriften zurückzuziehen in der Lage sind. Wer sich – nicht nur nach dem Karikaturenstreit Intoleranz predigend – auf eine Stufe mit der Aufforderung zu Mord und Totschlag, zu Raub, oder etwa zur Wiedereinführung des Sklavenhandels begibt, hat von uns auch so behandelt zu werden. Es sei aber zu guter Letzt noch Angela Merkel gedacht, die der Preisverleihung an Kurt Westergaard immerhin zumindest diese Würdigung gibt: So kurz nach ihrem Einspruch „gegen das pauschale Urteil von Thilo Sarrazin über die in Deutschland lebenden Muslime“ kommt dieser symbolischen Handlung eine besondere dialektische Geltung zu: Hier halten wir uns – einerseits – von biologistischen Abqualifizierungen fern, dort feiern wir – andererseits – das so hart erworbene Recht auf freie und freche Meinungsäußerung. … So gefällt uns Richtlinienkompetenz.
Jürgen Gottschling
Richtlinienkompetenz? „Reden wir also Klartext“ – der Kanzlerin Rede
Am 9. November 1989 referierte das Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der SED, Günter Schabowski, in einer Pressekonferenz über die Ergebnisse der Sitzung des Zentralkomitees. Anschließend stellte ein Journalist der italienischen Nachrichtenagentur Ansa eine Frage nach dem neuen Reisegesetz. Schabowski antwortete ausführlich und endete mit dem Satz: „Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“ Ein westdeutscher Reporter hakte nach und fragte, ab wann das neue Gesetz gelte. Es folgte ein Halbsatz – ich zitiere wieder Schabowski: „Das trifft nach meiner Kenntnis… ist das sofort, unverzüglich.“ Die Folgen sind bekannt: Zehntausende strömten zu den Berliner Grenzübergängen. Kurz vor Mitternacht wurden sie geöffnet. Die Mauer war gefallen – eben unverzüglich.
Später jedoch stellte sich heraus, dass die Antwort Schabowskis ein Versehen war. Er hätte so noch gar nicht sprechen dürfen. Es sollte nicht unverzüglich sein, sondern erst am nächsten Tag in Kraft treten. Die Entscheidung hatte also gleichsam eine Sperrfrist. Das hatte Schabowski übersehen. Ein Versehen, das die Welt veränderte.
Die Wirkung der präzisen Frage zum richtigen Zeitpunkt, die Freiheit, sie stellen zu können, und zuerst und vor allem die Freiheit, über die Antwort zu berichten, und zwar ungekürzt, unverändert, unverzüglich – welch hohes Gut! Niemals dürfen wir dieses hohe Gut als selbstverständlich ansehen, auch bei Themen nicht, die nicht sofort die Welt verändern, sondern Fragen des Alltags berühren.
Umso wichtiger, dass sich Ihre Konferenz in diesem Jahr mit dem Thema „Pressefreiheit in Europa“ beschäftigt. Keine Angst – meine Rede wird keine Sonntagsrede. Ich glaube, das wäre Zeitverschwendung und auch nicht angemessen, noch dazu in Anwesenheit des heutigen Preisträgers Kurt Westergaard, der für das Zeichnen und Veröffentlichen von Karikaturen seit 2005 um sein Leben bangen muss. Das Gegenteil soll also der Fall sein. Reden wir also Klartext.
Noch eine Sperrfrist eine, die mit zu einer Diskussion gehört, die die letzten zwei Wochen bestimmt hat: Der „Spiegel“ und die „Bild“-Zeitung veröffentlichten als Vorabdrucke zeitgleich Ausschnitte aus dem Buch „Deutschland schafft sich ab“. Für Rezensionen durch Journalisten, die das Buch vor dem offiziellen Erscheinungstermin erhielten, habe, so heißt es, eine Sperrfrist von mehreren Tagen nach Erscheinen der Vorabauszüge in „Spiegel“ und „Bild“ gegolten. Die vorab gedruckten Buchauszüge jedenfalls lösten eine große öffentliche Diskussion aus.
In den Tagen nach den auszugsweisen Vorabdrucken schießt das Buch auf Platz 1 der Bestsellerlisten. Ungezählte Talkshows beschäftigen sich mit seinen Analysen und Thesen. Aussagen zum Beispiel von mir münden in eine Debatte, eine breite Debatte, um Artikel 5 unseres Grundgesetzes. Er lautet: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ – So weit Artikel 5.
Er ist es wert, gerade bei einer solchen Tagung zum Thema „Freiheit und Pressefreiheit“ in Gänze vorgetragen zu werden. Er ist das auch wert, weil er neben Artikel 1 zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen, Artikel 2 zur freien Entfaltung der Persönlichkeit, Artikel 3 zur Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und Artikel 4 zur Freiheit des Glaubens für mich zu den größten Schätzen unserer Gesellschaft gehört.
Die „Bild“-Zeitung machte letzten Samstag unter Bezug auf diese Debatte auf Seite 1 mit den Schlagzeilen auf: „Bild kämpft für Meinungsfreiheit. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“. Nebenbei: Wenn ich mir „Bild“ hier gerade rauspicke, dann erstens nur stellvertretend für viele andere Medien mit ähnlicher oder gleicher Stoßrichtung, und zweitens weil ich überzeugt bin, dass „Bild“ das aushalten kann.
Also weiter: Auf Seite 2 schrieb „Bild am Samstag“ dann: „Neun unbequeme Meinungen und die Fakten. Diese Sätze muss man sagen dürfen, weil….“ Es geht um Sätze wie diese: „Ich will mich nicht dafür entschuldigen müssen, Deutscher zu sein; wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein; auf den Schulhöfen muss Deutsch gesprochen werden; Kinderschänder gehören für immer weggesperrt.“ Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass Sätze zu biologistischen oder vererbungstheoretischen Fragen in dem Artikel zur Verteidigung der Meinungsfreiheit nicht auftauchten. Aber das sei nur am Rande bemerkt.
Ich weiß, Zeitungen drucken solche Seiten nicht aus dem hohlen Bauch heraus. Ich weiß, dass diese Seiten zu einem großen Teil das widerspiegeln, was die Redaktionen in großer Zahl an Zuschriften erreicht – wie gesagt, wahrlich nicht nur eine Zeitung, die „Bild“-Zeitung.
In allen Medien ging es schnell um die Frage, was man in Deutschland sagen darf und was nicht. Das Thema Sarrazin ist aber gerade kein Thema der Gefährdung der Meinungsfreiheit, sondern es geht darum, ob und gegebenenfalls welche Folgen zum Beispiel ein Buch für einen Autor in einer besonders wichtigen öffentlich-rechtlichen Institution haben kann oder nicht.
Meine Damen und Herren, es versteht sich von selbst, dass ich zu den rechtlichen Fragen dieses konkreten Falls hier keine Stellung nehme, und das ist auch für unser Thema gar nicht nötig. Denn wir können das aus eigenem Erleben diskutieren, auch aus dem Bereich der Medien zum Beispiel. Denn in der Unternehmenssatzung eines großen deutschen Verlags werden in fünf gesellschaftspolitische Unternehmensgrundsätze genannt, unter anderem zur Förderung der europäischen Einigung, zur Sicherung des Existenzrechts Israels oder zur Verteidigung der sozialen Marktwirtschaft, um drei von ihnen zu nennen. Ein Problem mit der Meinungsfreiheit? Natürlich nicht, vermute ich.
Der heutige Tag kann uns für unser Thema „Pressefreiheit in Europa“ da bin ich sicher Orientierung geben. Bei dem Mann, den Sie heute auszeichnen, dem dänischen Zeichner und Karikaturisten Kurt Westergaard, geht es um die Meinungs- und Pressefreiheit. Bei ihm geht es darum, ob er in einer westlichen Gesellschaft mit ihren Werten seine Mohammed-Karikaturen in einer Zeitung veröffentlichen darf, ja oder nein, egal ob wir seine Karikaturen geschmackvoll finden oder nicht, ob wir sie für nötig und hilfreich halten oder eben nicht. Darf er das? Ja, er darf.
Er ist ein Zeichner, wie es in Europa viele gibt. Europa ist ein Ort, in dem ein Zeichner so etwas zeichnen darf. Das ist im Übrigen kein Widerspruch dazu, dass Europa auch ein Ort ist, in dem die Freiheit des Glaubens und der Religion, der Respekt vor Glaube und Religion ein hohes Gut ist. Wenn ein fundamentalistischer evangelikaler Pastor in Amerika am 11. September den Koran verbrennen will, so finde ich das deshalb kurz gesagt schlicht respektlos, sogar abstoßend und einfach falsch.
In der Diskussion um die Veröffentlichung der sogenannten Mohammed-Karikaturen geht es also genau darum, ob wir in Europa mit unseren Werten Sie haben die von mir genannten ersten 5Artikel unseres Grundgesetzes sicher noch im Ohr aus Angst vor Gewalt und Massendemonstrationen davon absehen, die Zeichnungen dieses Karikaturisten zu veröffentlichen oder nicht, ob sie auch in anderen Zeitungen nachgedruckt werden oder nicht und, wenn nein, warum nicht.
Denen, die das seinerzeit aus welchen Gründen auch immer nicht gemacht haben, werfe ich nichts vor. Jeden Tag stehen Sie bei Ihrer Berichterstattung vor Abwägungsfragen, sie gehören zur Verantwortung der Medien in Ausübung ihrer Pressefreiheit ganz selbstverständlich dazu.
Ich kenne solche Abwägungsfragen auch selbst: Soll die deutsche Bundeskanzlerin die Hauptrede anlässlich dieser Veranstaltung halten? Soll sie den Dalai Lama empfangen? Soll sie Briefe, die sie zum Beispiel von „Reporter ohne Grenzen“ bekommt, ernst nehmen und den neuen ukrainischen Präsidenten bei seinem ersten Besuch in Berlin auf die Einschränkungen der Pressefreiheit in seinem Land ansprechen oder damit besser bis zur zweiten Begegnung warten?
Wie also verhält es sich mit den Werten und den Interessen, den politischen wie wirtschaftlichen, die für unser Land wichtig sind – für Sie wie für mich? Ich habe für mich die genannten drei Fragen drei Mal mit Ja beantwortet, und zwar aus einem einzigen Grund, der mich seit Beginn meiner politischen Arbeit leitet: Deutsche Politik vertritt ihre Interessen wertegebunden, nach innen wie nach außen. Werte und Interessen gehören zusammen. Wer einen Gegensatz aufmacht, hat sich bereits aufs Glatteis führen lassen.
Also: Es sind Abwägungsprozesse. Aber die Arbeit eines Zeichners und die Folgen, die sie für ihn und seine Familie bis heute hat, sie sollten uns mahnen, stets sorgsam mit unseren Einordnungen umzugehen, wie hoch die Zahl von Zuschriften und die Heftigkeit einer Diskussion zu welchem Thema auch immer sein mögen. Das kann nicht das alleinige Entscheidungskriterium sein.
Ja, geben wir den Menschen eine Stimme – in politischen Parteien genauso wie in den Medien. Aber überzeugen wir sie gleichzeitig, dass es in unserem Land am wenigsten darum geht, was gesagt werden darf.
Richtige Entscheidungen, Taten statt Worte: Das dagegen führt zum Kern dessen, was notwendig ist, zum Beispiel damit Integration gelingt und nicht scheitert, damit Parallelgesellschaften verhindert und nicht auch noch gefördert werden, damit jugendliche Gewalt eingedämmt und nicht hingenommen wird, damit der Sozialstaat denen hilft, die ihn brauchen, und nicht denen, die ihn missbrauchen, und vieles mehr.
Hier hat die Politik in der Vergangenheit Versäumnisse zu verantworten, da hat sie in den letzten Jahren zum Teil bereits richtige Konsequenzen gezogen, und dort müssen in der Zukunft weitere folgen wahrscheinlich wie so oft in der Demokratie eher mühsam und mit Sicherheit häufig als Kompromiss, und der ist dann ein guter, wenn seine Vorteile die Nachteile überwiegen, und zwar stets nach dem schon benannten Grundsatz: Deutsche Politik vertritt ihre Interessen wertegebunden, nach innen wie nach außen.
Erstens: Freiheit ist nicht bindungslos. Das gilt für unser persönliches Leben, das gilt in der Politik, das gilt für die Verantwortung der Medien, das gilt für uns alle. Freiheit ist stets und für alle mit Verantwortung verbunden. Freiheit steht nie nur für sich. Sie ist eine Medaille mit zwei Seiten: Auf der einen Seite steht die Freiheit von etwas, auf der anderen Seite die Freiheit zu etwas.
Wenn wir also von Freiheit sprechen, dann sprechen wir tatsächlich immer auch von der Freiheit des anderen. Was uns in Deutschland wie Europa auszeichnet, das ist der Umgang mit unserer Vielfalt, unserer Freiheit und der Freiheit der anderen. Wir Deutsche und Europäer haben in unserer Geschichte gelernt, aus der Vielfalt das Meiste zu machen. Die Eigenschaft, die uns dazu befähigt, das ist die Toleranz.
Zweitens: Die Toleranz ist eine anspruchsvolle Tugend. Sie braucht das Herz und den Verstand. Aber sie ist nicht mit Standpunktlosigkeit und Beliebigkeit zu verwechseln. Sie hat niemals das geringste Verständnis für Intoleranz, für Gewalt von Links- und Rechtsextremismus oder für Gewalt im Namen einer Religion. Die Toleranz ist ihr eigener Totengräber, wenn sie sich nicht vor Intoleranz schützt. Religionsfreiheit meint eben nicht, dass im Zweifelsfall die Scharia über dem Grundgesetzt steht. Toleranz meint nicht Wegsehen oder das Messen mit zweierlei Maß. Und Respekt bedeutet nicht Unterwerfung.
Drittens: Freiheit in Verantwortung – das gilt auch für die Wirtschaft. Eine auf Freiheit beruhende soziale Marktwirtschaft bietet die Spielräume, damit Menschen verantwortlich handeln können. Die Lektion, die uns die Finanz- und Wirtschaftskrise schmerzhaft erteilt hat, muss überall ankommen. Seit Ludwig Erhard gilt, dass der Staat der Hüter der Ordnung unserer sozialen Marktwirtschaft ist.
Viertens: „Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.“ Dieser Satz von Perikles ist heute noch genauso aktuell wie im 5. Jahrhundert vor Christus. Freiheit zu leben, erfordert Mut, und zwar jeden Tag aufs Neue, im Kleinen wie im Großen – wenn ein Jugendlicher nicht mehr mitmacht beim Mobbing eines Klassenkameraden und den Ausschluss aus der Gruppe riskiert, wenn ein Manager nicht mehr mitmacht bei unlauteren Unternehmenspraktiken und dafür seine Karriere riskiert, wenn man in einer Diktatur versucht, jeden Tag in den Spiegel schauen zu können; Joachim Gauck und ich wissen, wovon ich rede. Oder sagen wir es mit den Worten Wolf Biermanns, der einmal die sogenannten aufmüpfigen Angsthasen in Schutz genommen hat. Das sind für Biermann diejenigen, die in der DDR die Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen haben, bevor sie sich die Platte eines vom Staat verpönten Musikers angehört hätten. So einer leiste auch schon Widerstand, so Biermann, und sei es nur der Widerstand gegen seine eigene Verzagtheit. – Ja, so ist es: Mut fängt mit der Überwindung der eigenen Verzagtheit an. Das hat jeder von uns mit Sicherheit schon erlebt, auch ohne in der DDR gelebt zu haben.
Fünftens: Die Freiheit wird durch die schier unbegrenzten Möglichkeiten der digitalen Revolution geradezu herausgefordert. Auch ich bin fasziniert von den Möglichkeiten des World Wide Web. Trotzdem werden Sie keine Fotos von meiner letzten Geburtstagsfeier im Internet finden – zumindest keine, die ich selbst eingestellt hätte.
Im Ernst: Es macht mir Sorgen, wie leichtfertig Menschen ihre Privatsphäre, den Hort individueller Freiheit, aufgeben und im Internet sensible persönliche Daten preisgeben. Gänzlich unverständlich ist mir das, wenn man bedenkt, wie erbittert wir in Deutschland über die Videoüberwachung öffentlicher Plätze oder eine Volkszählung streiten können. Politik und Medien müssen hier weiter Aufklärungs- und ja, ich sage Bildungsarbeit leisten, um in diesem Bereich zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Freiheit zu kommen.
Sechstens: Auch unsere Außenpolitik ist wertegebunden. Ich sehe mit Sorge, dass Diktaturen und autokratische Staaten den Freiheits- und Toleranzbegriff missbrauchen. Denken wir zum Beispiel an die dritte Konferenz der Vereinten Nationen gegen den Rassismus im Jahre 2001. Diese Anti-Rassismus-Konferenz und ihre Nachfolgetreffen wurden leider von Abgesandten aus Diktaturen und autoritär regierten Ländern bestimmt, die den Gedanken dieser Konferenzen in ihr Gegenteil verkehrt haben.
In Zusammenhängen wie diesen wird oft gefragt: Ist es nicht eine kulturelle, westliche, europäische, christliche Anmaßung, dass wir unsere Werte und Freiheitsrechte für universal gültig halten? Meine Antwort ist eindeutig: Nein, es ist keine Anmaßung. Fast alle Staaten sind Mitglied der Vereinten Nationen und haben die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte anerkannt. Die großartigen 30Artikel der Menschenrechtserklärung machen deutlich: Wer diese Rechte bestreitet, hat nicht das Wohl der Menschen im Blick. Und kein kultureller Unterschied kann die Missachtung dieser Rechte rechtfertigen.
Ich bin im Übrigen überzeugt: Wenn wir selbstbewusst zu unseren Werten stehen, verschafft uns das weltweit mehr Respekt und Anerkennung, als wenn wir es nur verschämt tun.
Meine Damen und Herren, die Freiheit, ich habe es schon oft gesagt, ist für mich persönlich die glücklichste Erfahrung meines Lebens. Auch bald 21 Jahre nach dem überwältigenden Geschenk der Freiheit mit dem Fall der Mauer und 20 Jahre nach der Vollendung der Einheit Deutschlands gibt es noch immer nichts, das mich mehr begeistert, nichts, das mich mehr anspornt, nichts, das mich stärker mit positiven Gefühlen erfüllt als die Kraft der Freiheit.