Anfang August wird der 60. Jahrestag der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ begangen. Dass diese Charta größtenteils veraltet ist und die Gräueltaten des NS Regimes nicht einmal erwähnt, scheint Niemandem bewusst zu sein. Ein Aufruf zur Revision dieses historischen Dokuments.

Am 5. August 2010 wird auf Einladung des Bundes der Vertriebenen im Weißen Saal des Stuttgarter Neuen Schlosses des 60. Jahrestags der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ begangen. Das Motto: „Durch Wahrheit zum Miteinander“, Leitwort ebenfalls der traditionellen Festveranstaltung „Tag der Heimat“ im Internationalen Congress Zentrum Berlin am 11. September 2010.

Das „Grundgesetz der Vertriebenen“, wie die „Charta“ auch genannt wird, war am fünften August 1950 in Bad Cannstatt bei Stuttgart mit der Unterschrift der Ostdeutschen Landsmannschaften und Vertriebenenverbände als „Aufruf an die Völker der Welt“ im Stil eines Staatsaktes aus der Taufe gehoben worden. Schwerpunkte: Bekenntnis zur deutschen Einheit und zu Europa, tätiger Wiederaufbau, Eingliederung der Vertriebenen , Recht auf Heimat, Gewaltverzicht. Allenthalben gerühmt als ein „wegweisendes Dokument der deutschen Nachkriegsgeschichte“ und „beeindruckendes Zeugnis menschlicher Größe und Lernfähigkeit“, ein document humaine von historischem Gewicht.

Kritische Töne fehlen, deshalb zwei Einsprüche.

Erstens: die Lektüre der Charta vermittelt den Eindruck, als habe die Vertreibung in einem historischen Vakuum stattgefunden, in einem luftleeren Raum des 20. Jahrhunderts. Findet sich doch von dem, was ihr vorangegangen war und zu ihr geführt hatte, kein Wort, keine Silbe, kein Buchstabe. In der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ fehlt jede Spur der Vorgeschichte!

Und das, obwohl 1950 noch die offenen Gräber des Vernichtungskriegs rauchten, seine Wunden gänzlich unvernarbt waren und die Erinnerungen an die Schrecken der deutschen Okkupation allgegenwärtig.

Wer aber nach ihren Urhebern sucht, nach Namen wie Adolf Hitler, Heinrich Himmler, Reynard Heydrich, oder nach den Schädelstätten, die sie auf dem Kontinent hinterlassen hatten, der fahndet vergebens. Massenvertreibungen und Zwangsverpflanzungen ganzer Völkerschaften unter deutscher Herrschaft? Ein weißgeblutetes Polen, das tschechische Lidice, Russlands verbrannte Erde, gar Auschwitz? Aus dem Gedächtnis gewischt, wie die Jubelorgien beim Einmarsch deutscher Truppen in das Sudetenland.

Wen wundert es da, dass eine Gruppe in der „Charta“ gar nicht auftaucht – die Vertriebenen der ersten Stunde? Also die tausenden und abertausenden irrtümlicherweise „Emigranten“ genannten jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen, die gleich nach dem 30. Januar 1933 fluchtartig und aus nur allzu berechtigter Furcht um Leib und Leben Deutschland verließen. Der Gedanke an sie hat die Väter und Mütter der „Charta“ bezeichnenderweise nie auch nur angeflogen.

Es kann jederzeit nachgeprüft werden: Die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ klammert die Vorgeschichte der Vertreibung vollständig aus, ein Defizit, das sie auf den Grund entwertet. Sie kappt die historischen Zusammenhänge, die Kausalität zwischen Ursache und Wirkung, ignoriert die Chronologie des Dramas und exkulpiert die Primärverantwortlichen für die Vertreibung und den Heimatverlust durch Anonymisierung – Hitler und das nationale Kollektiv seiner Anhänger. Was sichtbar wird, ist ein institutioneller Abwehrreflex, eine geradezu mit Händen zu greifende Berührungsangst vor der Ära des Nationalsozialismus. Damit wird die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ zu einem Paradebeispiel, einem Lehrstück deutscher Verdrängungskünste! Sie widerspiegelt den Zeitgeist einer Bundesrepublik, in der der Kommentator der Nürnberger Rassengesetzte, Hans Globke, die graue Eminenz des ersten Kanzlers Konrad Adenauer war.

Welch ein Gegensatz zu Richard von Weizsäckers berühmter Rede am 8. Mai 1985 im deutschen Bundestag zum 40. Jahrestag der Befreiung: „Die Ursachen der Vertreibung liegen nicht am Ende des Krieges, sondern an seinem Anfang. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“ Und Willy Brandt: „Wir konnten nicht verlieren und haben nichts verloren, was Hitler nicht schon verspielt hatte.“
Worte, Sätze, die in der „Charta“ undenkbar wären.

Zweiter Einspruch:
„Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung“. So das immer wieder zitierte ethische Zentrum der Charta. Was, um Himmels Willen, soll das heißen? Ist ihren Vätern und Mütter nicht bewusst gewesen, welch höchst problematischen Schwur sie da abgelegt haben? Nämlich etwas ungeschehen gelassen zu haben, was einem eigentlich zugestanden hätte.

Darf man da fragen, wer und was denn nun von deutscher Rache und Vergeltung verschont geblieben ist, und wem sie gegolten hätte? Was ist das für ein großmütiger Verzicht, der sich blind und ahnungslos gibt gegenüber dem Inferno, das der Vertreibung der Deutschen vorausgegangen war?

„Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung“? Da wurde ein realitätsfernes Konstrukt produziert und instrumentalisiert, um die hohe Moralität seiner Erfinder zu demonstrieren und zu bescheinigen… Der vielgerühmte Gewaltverzicht der „Charta“ – eine bloße Leerformel. Da wird auf etwas verzichtet, was gar nicht ausführbar gewesen wäre, das aber, wenn es ausgeführt worden wäre, altem Unrecht ein Weiteres zugefügt hätte.

Mit dem stets im Brustton großmütigen Verzeihens vorgetragenen Kernsatz macht die „Charta“ Deutschland zum Gläubiger der Geschichte, die einst okkupierten Länder Mittel- und Osteuropas aber zu deren Schuldnern. Darin liegt der eigentliche Skandal der „Charta“.

Kritik an ihr nimmt nichts von dem ungeheuren Leid der Vertriebenen, so wenig, wie sie Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Schicksal signalisiert. „Wie kann man diese Heimat verlassen, ohne dass einem das Herz bricht?“ heißt es in meinem Buch „Ostpreußen Adé – Reise durch ein melancholisches Land.“ Auch nach 60 Jahren machen einen die Bilder noch fassungslos: Menschen mit kleiner Habe unterwegs, und mit jedem Schritt weiter weg von dem geliebten Zuhause; Menschen verprügelt, niedergeschlagen und im Winter auf offene Güterwagen geladen; darunter Kinder, Kinder, die verstört in die unbegreifbare Welt der Erwachsenen blicken. Ein Riesenfresko an Schmerz, Verzweiflung, Tod. Und über allem der Verlust der Heimat… Ich will jedes Recht haben, über deutsches Leid zu weinen, ohne mich deshalb schämen zu müssen (was den Strom meiner Tränen nicht um eine mindert, die ich vergossen habe, vergieße und bis an mein Ende vergießen werde über die Kinder des Holocaust).

Kein Verbrechen von Deutschen rechtfertigt Verbrechen an Deutschen. Die heutigen Staatsmänner im ehemals deutsch besetzten Mittel- und Osteuropa wären deshalb gut beraten auch da nicht zurückzuschrecken, wo die Geschichte des eigenen Landes bei der Vertreibung der Deutschen nach 1945 nun ihrerseits schmerzhaft wird.

Wahrheit bleibt: Primärverantwortlich für jeden Zivil- und Militärtoten des Zeiten Weltkrieges sind die, die ihn ausgelöst haben: Hitler und das nationale Kollektiv seiner Anhänger. Also erstverantwortlich auch für die Opfer der Flucht und der Vertreibung. Keine Geschichte der Vertreibung ohne ihre Vorgeschichte, wie auch keine Vorgeschichte der Vertreibung ohne ihre Geschichte – die Humanitas ist unteilbar. Dieses Prinzip ist von den Verfassern der Charta unentschuldbar missachtet worden.

60 Jahre danach muss sie deshalb überdacht und aus der Ecke ns-blinder Verdrängung der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts in eine aufgeweckte Gegenwart transportiert werden.

Die heutige Führung des Bundes der Vertriebenen steht nach meiner eigenen Personalkenntnis auf einem anderen Bewusstseins- und Erkenntnisstand, als die von 1950 (was auch für die überwältigende Mehrheit der Vertriebenen und ihrer Nachkommen gilt). „Hitler hat die Büchse der Pandora geöffnet“ und „Der Holocaust ist ein singuläres Verbrechen, gegen das die Vertreibung nicht aufgerechnet werden kann.“ Das hat niemand anders als Erika Steinbach gesagt, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, ebenfalls ein Satz, der in der Charta undenkbar wäre. Kann man trotzdem weiter hinter ihrem unkorrigierten Wortlaut stehen? Wird es auch diesmal wieder, am 5. August in Stuttgart und am 11. September in Berlin, wie bisher bei Elogen bleiben auf ein Dokument, das die Wurzel der Vertreibung, ihre Vorgeschichte einfach gestrichen hat?

„Durch Wahrheit zum Miteinander“? Ja!

Aber ohne ihre Korrektur bleibt die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ ein Hemmnis auf dem Wege der Versöhnung.

Ralph Giordano

Aug. 2010 | Allgemein | 2 Kommentare