Nicht nur Steuerbetrüger in Griechenland und Hedgefonds haben Europa in die Existenzkrise gestürzt – kräftig mitgeholfen hat die politische Führung in Euro-Land. Sie ist nicht willens ihren Job zu machen. Oder nicht fähig.

Als im Herbst 2008 die Geldhäuser der westlich-kapitalistischen Welt wankten, manche einstürzten und weitere mitrissen, strömte Angst durch die Korridore der Macht: Was tun, um die ökonomische Kernschmelze abzuwenden? Finanzminister und Regierungschefs versammelten sich in hektischen Krisensitzungen, legten der schwer verwundeten Finanzbranche Heilpflaster aus Milliarden von Dollar und Euro aus den Steuerkassen auf und versprachen, das fragile System für alle Zukunft zu stabilisieren.

Geschehen ist bis heute nichts wirklich Substantielles.

Als dann die ersten Staaten – Lettland, Estland, Ungarn, anschließend Griechenland – zahlungsunfähig wurden, spendierten die Regenten mehr und noch mehr Steuermilliarden und kündigten Rosskuren an. Sogar für sich selbst. Man habe „das getan, was nötig war“, sagte Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel nach jeder Krisenetappe selbstsicher. Und ihre Kollegen nickten zufrieden.

Dabei haben die meisten von ihnen keinen blassen Schimmer, ob ihre Aktivitäten hilfreich oder kontraproduktiv sind, oder überhaupt etwas bewirken. „Mir macht Sorge“, stöhnte der für Finanzpolitik zuständige Generaldirektor im Europäischen Rat, Carsten Pillath, im internen Kreis von Mitarbeitern, „dass viele Politiker glauben, nach der Krise werde es wie vor der Krise, als die Welt so schön war“.

Das aber, meint Pillath wie viele andere Ökonomen, sei ein großer Irrtum: „Wir werden auf längere Sicht niedrige Wachstumsraten haben und dabei die überschuldeten Haushalte sanieren müssen.“ Wenn Europa das gelingen soll, brauche es ein „makroökonomisches Leitbild“, also ein Ziel, an dem sich die wirtschaftspolitischen Beschlüsse ausrichten.

Tatsächlich denkt die Politik darüber nicht einmal nach: Die gewählten Damen und Herren interessiert vor allem ihre Wiederwahl, ihr Machterhalt – der Rest ist zweitrangig.

Provinzpossen und Politikverweigerung

Der Blick auf Europas politische Landschaft zeigt ein weitgehend desolates Bild.

* In Belgien, Luxemburg und den Niederlanden, Kernländer des einstigen Kleineuropa, streiten die Parteien in endlosen Regierungskrisen über Provinzpossen.
* Im Osten, in Ungarn oder der Slowakei etwa, sorgen nationalistische Brandstifter für hausgemachte Feuer.
* In Griechenland verhebt sich eine bemühte Regierung an Lasten, die von der Verwandtschaft hinterlassen wurden. Seit Jahrzehnten wechseln sich dort mit nur kleinen Unterbrechungen drei Familien beim Regieren ab. Der Clan der Papandreous, des jetzigen Premiers, ist einer davon. Legendär ist die Klüngelwirtschaft seines einst regierenden Großvaters. Die Bürger haben sich, sei es passiv oder aktiv, im System eingerichtet.
* Nicht anders in Italien: Das EU-Gründungsmitglied übt sich seit Jahren in Politikverweigerung. Das Volk döst vor den Fernsehprogrammen des Medienzaren und Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, der damit vollzeitbeschäftigt ist, sich von seinen Anhängern im Parlament mit immer neuen Gesetzen vor dem Zugriff der Justiz schützen zu lassen. Die Opposition zerfleischt sich über Banalitäten.

Hyperaktiver Sarkozy, zaudernde Merkel

Lange sorgte das deutsch-französische Duo für ein Mindestmaß an Führung und Orientierung in Europa. Damit ist es vorbei. Brauchen wir eine europäische Wirtschaftsregierung, wollen wir Hedgefonds verbieten, wie massiv soll gespart werden, braucht die Wirtschaft Wachstumsimpulse? Auf die meisten Fragen antworten die Regierungen Deutschlands und Frankreichs derzeit unterschiedlich – oder gar nicht.

Und, beinahe noch schlimmer, nicht nur die Ziele, auch der Stil des hyperaktiven Egomanen in Paris, Nicolas Sarkozy, und der nörgelnden Zauderin in Berlin, Angela Merkel, fallen weit auseinander. Es sei „sinnlos, die Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland zu vertuschen“, schrieb der Präsident des Euro-Ausschusses im Pariser Senat, Jean Bizet, in einem Zeitungsessay – gewiss nicht ohne Rücksprache mit seinem engen Parteifreund Sarkozy.

Berlin giftet regelmäßig dagegen, meist aus der Deckung nicht zitierfähiger Helfer der Kanzlerin. Als Sarkozy sich nach dem letzten EU-Gipfel vor den Medien brüstete, er habe seine Ideen „zu 95 Prozent“, darunter auch „eine europäische Wirtschaftsregierung, durchgesetzt“, streute ein Merkel-Intimus höhnisch: „Ich dementiere nicht, dass das eine Luftblase war.“

Die Politik versagt

Europas Krise ist kein Unfall einer globalisierten Ökonomie, sondern die Folge politischen Versagens.

* Wer hat denn die Finanzmärkte solange liberalisiert, und das auch noch gefeiert, bis praktisch keine Kontrolle mehr möglich war? War das nicht die Politik, hier die Schwarzen, dort die Roten und die Gelben sowieso überall?
* Wer hat seit Jahren in Kauf genommen, dass die Volkswirtschaften in der Währungsunion auseinanderdriften – und dem Volk dazu gesagt, das sei nicht schlimm?
* Wer hat die gigantischen Schuldenberge angehäuft, weil das so bequem war und Zumutungen ans Wahlvolk ersparte? Waren das nicht dieselben Politiker, die diese Schulden heute als Ursprung allen Übels anprangern und die sie nun heldenhaft abtragen wollen?
* Und ist der Rückzug ins eigene Nest, der um sich greift, die Abkehr von europäischer Solidarität, die Bedienung national-populistischer Stammtischrunden geeignet, die Probleme zu lösen?

Neue, bessere Politiker bräuchte der schwächelnde Kontinent. Aber wo her nehmen? Ein europäischer Obama ist weit und breit nicht in Sicht. Nicht einmal eine Miniaturausgabe.

„Führungsvakuum in der Stunde der Krise“

„Renationalisierungstendenzen“ und eine zunehmend provinziell ausgerichtete Politik mache den Menschen vor, so der Vizechef der christdemokratischen EVP-Fraktion, Manfred Weber, „man könne die Probleme am Besten allein, im eigenen Land lösen“. Falsch sei das, so Weber: „Die bedienen nur Vorurteile!“ Sein Fazit: „Es fehlen die Europäer in der Politik!“

Europa „leidet an einem Führungsvakuum in der Stunde der Krise“, stellt auch Markus Ferber, Chef der CSU-Gruppe im EU-Parlament, fest. Besonders deutlich zeige sich das in Brüssel, im Steuerungszentrum der Europäischen Union. Von dort müssten im Idealfall schnelle und entschlossene Vorschläge zur Krisenbewältigung kommen, müssten die Interessen der 27 Clubmitglieder gebündelt und Kompromisse vorbereitet werden, die zügige Entscheidungen von allen gemeinsam möglich machen. Doch ausgerechnet in der bedrohlichsten Krise seit Gründung der Staatengemeinschaft stehen an den Steuerrädern in Brüssel blasse, schwache Figuren.

Totalausfall in Brüssel

Die EU-Kommission, die als Grals-„Hüterin der Verträge“ durch die Welt stolziert und sich als Herzstück des politischen Jahrhundertunternehmens sieht, war im Krisenmanagement ein Totalausfall. Zunächst war sie lange auf Funkstille gestellt, um die Wiederwahl ihres Präsidenten, José Manuel Barroso, nicht zu gefährden. Als der nach langer Hängepartie im Amt bestätigt wurde, hatte er so viele Demütigungen hingenommen, dass Europas Polit-Granden in den wichtigen Hauptstädten ihn nicht mehr ernst nahmen.

Mit dem Lissabon-Vertrag wurde außerdem das Parlament – zuvor eine machtarme Schwatzbude – zu einem weitgehend gleichberechtigten Mitspieler. Das Parlament und der Europäische Rat – das ist der Kreis der Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitglieder – sind nun plötzlich „die Machtpole“ in Brüssel, so Professor Joerg Monar, vom „College of Europe“. Die Kommission werde dazwischen „mehr und mehr zerquetscht“.

Auch der frühere belgische Ministerpräsident Herman Van Rompuy änderte an der Brüsseler Malaise bislang nichts. Er wurde zum ersten ständigen Präsidenten des Europäischen Rates gekürt – das Amt wechselte zuvor halbjährlich – und sollte der Versammlung der nationalen Regenten mehr europäischen Zusammenhalt geben. Das ging ziemlich schief. „Van Rompuy bereiste Asien, als Krisengipfel in Brüssel war“, spottet CSU-Ferber, und Kommissionspräsident Barroso sei „mit dem EU-Lateinamerika-Treffen gut beschäftigt gewesen“.

Frühstück am Montag

Jetzt wollen die Ohnmächtigen sich neu formieren. Van Rompuy kündigte, „eine Art Krisenkabinett“ an, das „die wichtigsten Akteure“ und „die wichtigsten Institutionen“ schnell zusammenbringen könne. Bestehen soll das aus Jean-Claude Trichet, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Kommissionschef Barroso und Van Rompuy natürlich. „Zum Piepen“ befand ein Berliner Regierungsberater den Vorschlag. Auch im Pariser Elysée-Palast, so heißt es, habe man „laut gelacht“.

Nun wollen Barroso und Van Rompuy erst einmal etwas kleiner anfangen. Jeden Montag treffen sie sich zum Frühstück.

Hans-Jürgen Schlamp, Brüssel

Jun 2010 | Allgemein, Politik, Wirtschaft, Zeitgeschehen | Kommentieren