Erst einmal geht es – wo die Heidelberger Grünen recht haben, da hamses! – um ein RNZ-Interview mit Anke Schuster  (uns aber geht es  a u c h  um  ihre inhaltlich ähnliche Vorstellungsrede  zu ihrer Landtagskandidatur);  dann aber gehts  schnell weg! Weg nämlich vom Heidelberger Lokalsumpf, hin zum schließlich allgemein-globalen Dilemma mit der Wahrheit. Und überhaupt …

Pressemitteilung der Heidelberger Grünen :

„Drei mal drei macht vier, widdewiddewitt und drei macht neune, ich mach mir die Welt, widdewidde, wie sie mir gefällt“, so singt Pippi Langstrumpf und reimt sich die Welt zu Recht, so wie es ihr passt. Dieser Vergleich drängte sich den Heidelberger Grünen auf, als sie von den Attacken der SPD-Landtagskandidatin in der RNZ lasen.

„Wer seinen Wahlkampfauftritt mit Lügen über die politische Konkurrenz würzen muss, so wie Anke Schuster dies tut, erweist sich selbst als höchst unglaubwürdig“, erklärt Grünen-Gemeinderätin Barbara Greven-Aschoff. „Die SPD- Fraktionsvorsitzende im Gemeinderat sollte für ihre Inhalte kämpfen und bei der Wahrheit bleiben, wir brauchen keine Pippi Langstrumpf in der Politik, die sich die Dinge zusammenreimt.“

So behauptet Schuster, die Grünen seien für den Verkauf der Emmertsgrund-Wohnungen gewesen. Richtig ist, dass es unterschiedliche Meinungen zu dieser Frage gab, sich die Grünen aber auf einer Mitgliederversammlung im April 2008 mit überwältigender Mehrheit gegen den Verkauf festgelegt hatten.“ ergänzte Christian Weiss, Fraktionsvorsitzender der Grünen.
Genauso wenig entspricht es der Wahrheit, dass Theresia Bauer oder die Grüne Landtagsfraktion für Studiengebühren seien. Stattdessen sind sie immer für ein gebührenfreies Erststudium eingetreten. Im Gegensatz dazu wurde Nils Schmid, der baden-württembergische SPD-Spitzenkandidat, vor Jahren als der prominenteste Studiengebühren-Befürworter aus den Reihen der Opposition bekannt.

Zu guter Letzt stimmt auch die Behauptung nicht, dass es kein Bürgerbegehren gegen SPD-Entscheidungen gäbe. Zum Tunnel, der nur durch SPD-Stadträte eine Mehrheit hat, fordert die SPD ja gar einen Bürgerentscheid gegen ihre eigene Positionierung.
„Wahlkämpfen ist in Ordnung, die Ehrlichkeit darf aber nicht auf der Strecke bleiben“, empfiehlt Christian Weiss der neu gekürten Landtagskandidatin der SPD.“  Soweit so …

… nein, dass das in der Tat so ist, das ist nicht gut. Ich merke dazu an, dass ich Anke Schuster als Delegierter nicht – (sondern den durchweg überzeugenderen Claus Wichmann) – gewählt habe, aber auch, dass doch Anke Schuster, was ihr gesellschaftliches Engagement betrifft, in ihrem denkwürdig schlichten Bewerbungspapier immerhin anzugeben in der Lage war: „Betreuerin der Pfadfinder, Kolping und Ministranten bei der Aktion „72 Stunden ohne Kompromiss“ 2001, 2005, 2009″ – das sind mithin in den drei von ihr angegebenen Jahren Arbeit für die Gesellschaft,  drei mal 72 Stunden, also – wie armseelig – doch immerhin insgesamt 216 Stunden! So wird man in Heidelberg Landtagskandidatin der SPD – und,  erinnern wir uns, auch so: Kurz vor der Abstimmung über die Nutzung des Alten Hallenbades im Gemeinderat – O-Ton Anke Schuster: „Wir können doch nicht für die Kraus`sche Markthalle stimmen, wenn“ (OB) „Würzner dafür ist“. So stimmte also die SPD-Fraktion fürs (das ich sehr schätze)  Unterwegs-Theater. Das habe sie – meinte sie hernach, nie gesagt, bezichtigte mithin mich der Lüge, was ich jedoch hiermit zurückgebe. Da haben nämlich Madame Schuster gelogen. Ein in ihrer Nähe stehender Kollege der RNZ, der das auch gehört – und  geschrieben – hat, bestätigte mir das gerade nochmals! Es hat halt keiner  …

(in vino veritas):                 „… ein gläsernes Fenster“ in der Brust!

Dass man den Worten der Menschen nicht trauen kann, dies Dilemma ist so alt wie die Sprache. Gleichermaßen aber unausrottbar wie die Lüge ist auch das Verlangen nach Wahrheit. Bei allen unzähligen Versuchen, Kontrollmöglichkeiten für sowohl die Verläßlichkeit von Aussagen, Erklärungen, Ehrenworten oder Schwüren zu entwickeln, stehen Publikum und Richter immer noch dort, wo auch die Geschichte des Betrugs begann: vor dem Fiasko, dem Zusammenbruch. Dies zu ändern, müßte man schon die Schöpfung verklagen, was immerhin ein kleiner Gott aus dem dritten oder vierten Glied jener Unsterblichen im Mythos der Antike bereits wagte: Schon Momos hat nach dem Zeugnis Lukians einen der höchsten Götter, Hephaistos, den Designer des homo sapiens, dafür getadelt, daß er den Menschen kein gläsernes Fenster in die Brust gesetzt hat: So nämlich hätte man ihnen ins Herz blicken und ihre Wünsche und Gedanken beobachten können, um so die Wahrheit ihrer Worte zu überprüfen.

Wahrheit & Evolution

Der Tadel blieb in der Evolution ohne erkennbare Wirkung. Bis einige hundert Jahre, nachdem des kleinen Gottes Kritik zu Protokoll genommen war, sich ein Autor vor sein Publikum begab und versprach, so aufrichtig über sein Leben und über seine Fehler zu schreiben, auf daß ein jeder Leser würde in seinem Herzen lesen können. Der Literatur- und Gesellschaftsreformer  Jean-Jaques Rousseau war es, der Sprache und Menschen wieder an ihren Ursprung zurückführen wollte, um Heuchelei und Lüge aus der Welt zu vertreiben. Der Gedanke jedoch an eine technische Lösung durch Götter war so leicht nicht zu vertreiben. Noch in Ludwig Tiecks Roman „William Lovell“ (1795/96) klagte der Titelheld darüber, daß es keine Teleskope gäbe, um „in das tiefe Firmament unserer Seele zu schauen“. Ein Jahrhundert später erfand der italienische Jurist und Schriftsteller  Paolo Montegazza in seinem futuristischen Roman „Das Jahr 3000“ dieses Teleskop, das erlaubte, es zu tun: in die Herzen der Menschen zu schauen.

Wahrheit & Daumenschrauben

Zwar ist die physikalische Teleskopie seither entscheidend fortgeschritten, wir blicken Millionen Lichtjahre weit in den Weltraum und in die Vergangenheit, der Blick hingegen in die des Tiefe des Herzens – das bemerken wir wieder einmal mehr- , der Blick also in jene Hirnregionen, innerhalb welcher der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge vielleicht an kleinen Spannungsdifferenzen zu messen wäre, bleibt noch versperrt. Dabei haben doch Richter, Ingenieure, Chemiker, Journalisten und Physiologen nichts unversucht gelassen: Man hat Daumenschrauben angelegt, Lügendetektoren unter Strom gesetzt, Wahrheitsdrogen verabreicht, mit in vino veritates unter die Leser gebracht und hypnotisiert, um „in den Herzen zu lesen“. Psychoanalytiker brachten sogar das Unbewußte zum Sprechen – doch die Nervenbahnen und Synapsenschaltungen, die das Wahre und das Unwahre regulieren, arbeiten weiter im Verborgenen.

Wahrheit & Vertrauen

So haben wir dem Problem der Unerkennbarkeit des Betruges am Körper und in den Worten des Sprechenden durch den Einsatz einer uralten Maschine recht getan: durch das Vertrauen. Es wird doch nicht nur unser Verhältnis zu Politikern, sondern unser gesamtes Sozialverhalten durch eine Art treuherziger Vorleistung gesteuert, die eben nun mal Vertrauen genannt wird. Ohne Vertrauen, so erklären uns das Psychologen wie Gesellschaftswissenschaftler, könne überhaupt kein Sozialsystem funktionieren, nicht einmal die Straße würde man betreten, ohne die vertrauensvolle Sicherheit, Autos würden an einer roten Ampel auch wirklich halten …

Wahrheit & soziale Beziehungen

Es vergibt das Vertrauen aber seine Kredite nur solange, wie es nicht enttäuscht wird. Ein Verkehrsunfall kann mein Vertrauen in die Berechenbarkeit und Verläßlichkeit fremden Verhaltens gleichermaßen nachhaltig erschüttern, wie das Verhalten von Politikern. Bereits der Staatsphilosoph Thomas Hobbes  empfahl allen Herrschern („Leviathan“), in ihren (eigenen) Herzen zu lesen und zu erkennen, wie sehr die in die Herzen geschriebenen Wahrheiten befleckt sind von Heuchelei und Lüge. Was aber ist Vertrauen? Es ist die mehr oder weniger bewußte Annahme, dass, was eine Person über sich selbst und ihre Absichten gesagt hat, nicht alledem zuwiderhandelte. Im Sinne also des Gottes Momos wäre Vertrauen die Erwartung, es spreche und handle ein jeder, als trüge er ein Fenster in der Brust. Sprechen und Handeln umfassen so allein das gesamte Spektrum sozialer Beziehungen.

Wahrheit & Fortschritt

Dazu, daß wir einem Politiker vertrauen, genügt(e) es häufig, daß er einer bestimmten Partei oder Konfession angehört. Ausfüllen aber können Politiker diese Funktion erst, nachdem wir sie mit jener magischen Kraft ausstatten, daß wir nämlich ihre Reden für wahr halten. Aber bitte, was ist das, die Wahrheit?
Das fragte bereits Pilatus seinen Angeklagten Jesus; seine uralte und offenbar unerschütterliche philosophische Tradition versteht unter Wahrheit ein Abbildungsverhältnis zwischen der Wirklichkeit und der Sprache. Platon gab in seinem Dialog „Sophistes“ die Definition: „Wahrheit ist die kundige Nachahmung, die richtige Rede vom Seienden“. Mehr als zweitausend Jahre später nahm sich Wittgenstein in seinem „Tractatus logico-philosophicus“ des Themas an: „Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit“ – diese beiden sehr ähnlichen Formulierungen müssen den Verdacht nähren dürfen, daß die Wissenschaft von der Wahrheit im Gang durch noch so viele Jahrhunderte keinen rechten Fortschritt gemacht habe.

Wahrheit & Philosophie

Es war eine der ersten großen abendländischen Kontroversen um die wahre Rede, die (vierhundert vor Chr.) Platon mit den Sophisten führte, die der Nachwelt als philosophische Debatte gilt; im Kern aber betraf dieser Konflikt bereits die Verteilung und Organisation der Staatsmacht. Platons Sokrates ließ keine Gelegenheit aus, den Sophisten – welche Rede zum käuflichen Gegenstand gemacht hatten – vorzuwerfen, sie verdürben und verführten die Jugend, indem sie rhetorische Trugbilder der Welt und der Wahrheit verbreiteten. In der platonischen und sokratischen Kritik  ist der Sophist ein Geschäftsmann, der bei seinen Zuhörern den Eindruck erweckt, seine Reden seien die Wahrheit und „nichts als die Wahrheit“, derweil Platon versprach, dass, habe sich der Staat erst einmal nach den Prinzipien der Gerechtigkeit aufgebaut, auch das Problem der Macht verschwinde. Solch ein Gemeinwesen wird nicht durch unzählige Gesetze regiert, sondern durch Vertrauen auf das Hergebrachte. Isokrates, ein Zeitgenosse Platons, hat dieses Staatskonzept auf die Formel gebracht: „Bürger, die richtig regiert werden, bedürfen nicht der haufenweise auf Säulen geschriebenen Gesetze, sondern sie tragen die Gerechtigkeit geschrieben in ihren Herzen.“

Wahrheit & Profitgier

Des Platons drei Elemente antisophistischer Kritik seien auch heute gültig wider den Betrug durch Mißbrauch der Sprache, gegen die das Wahrheitsstreben ruinierende  Profitgier und den Machtmißbrauch durch ein Übermaß an Vorschriften. Genau nämlich diese Vorwürfe kehren in den Revisionen der Macht und bei der Wiederaufbereitung des Wahren wieder. Zunächst im Kampf der christlichen Dogmatik gegen die jüdische Gesetzesdoktrin. Die vernichtende Kritik, die Jesus an den jüdischen Schriftgelehrten übte, zielte zugleich auf eine juristische wie sprachtheoretische Reform. Er warf ihnen vor, daß sie eine buchstäbliche Auslegung der alten Gesetzesbücher betrieben, statt ihren Geist zu erfassen. Matthäus und Lukas bezeugen, Jesus habe sie als Heuchler, als Blinde und Verrückte  beschimpft, denen  – weil sie das schriftliche Zeugnis der Wahrheit verfälscht haben – keine rechte Erkenntnis Gottes habe gelingen wollen und können.

Wahrheit & Schriftgelehrte

Auch den Pharisäern und Schriftgelehrten war ja bekanntlich der Vorwurf nicht erspart geblieben, daß sie nur um des materiellen Vorteils wegen ihre Ämter ausübten (Matth. 23 und Luk.11). Verfälschung der Wahrheit und Heuchelei und Lügen um des mammonal-finanziellen Interesses wegen, das waren schon damals die wesentlichen Anschuldigungen. Aber auch hier folgt die (sic) christliche Doktrin dem Vorbild der platonischen Polemik gegen die sophistische Legalität. So schrieb Paulus – der Justitiar unter den Aposteln – im Römerbrief, alle überlieferten Gesetze taugten nichts, denn entweder wären die Menschen gerecht oder nicht. Er begründete seine Beweisführung damit, daß auch die Heiden das Gesetz Gottes aus natürlichem Antrieb befolgten. Ihnen sei das Gesetz ins Herz geschrieben (Römer 2,15); mithin habe die aufwendige Gesetzesauslegung der Juden wenig bis gar keinen Wert. Vergessen wir nicht, daß es bei der christlichen Revision der alten jüdischen Gesetzeslehre vor allem um Politik und um Macht ging. Die christliche Eroberung erst Europas und dann – ja, genau – der ganzen Welt, hat diese Tendenz unbezweifelbar ins Licht gebracht. Wenn Weltpolitik damals wie heute und immerdar der christlichen Gesetzgebung im Namen Gottes geführt wurde, so geschah und geschieht das aus machttechnischen Notwendigkeiten: Wahrheit lockt Vertrauen aus der Reserve. Machiavelli hat das in seinen „Discorsi“ in unbekümmerter Deutlichkeit ausgesprochen: „Es gab tatsächlich noch nie einen außergewöhnlichen Gesetzgeber in einem Volk, der sich nicht auf Gott berufen hätte, weil seine Gesetze sonst nicht angenommen worden wären“.

Wahrheit & Reformation:
Zurück in die Zukunft

Nach diesem Modell operierte auch Martin Luthers Reformation. In seiner Polemik gegen die römische Orthodoxie griff er just jene Formel auf, die bereits Jesus und Paulus gegen die jüdische Schriftverwaltung ins Feld geführt hatten. Die Lektüre seiner Reformationsschrift von 1520 „An den christlichen Adel deutscher Nation“ läßt überdeutlich erkennen, daß es ihm nicht – nur – um eine Kirchenreform, sondern allemal um eine Gesellschaftsreform ging: „Der Papst, er ist ein Hirte – ja, wenn du Geld hast, und sonst nicht! Es ist ihnen nur um das verfluchte Geld zu tun und um sonst nichts. So rate ich, falls dieses Narrenwerk nicht abgeschafft wird, daß jeder fromme Christ seine Augen aufmache und sich nicht von den römischen Bullen, Siegeln und von der Heuchelei beirren lasse“.

Wahrheit & Politik

Bis heute zeigt die Geschichte der Wahrheit, daß die bisweilen sowohl Philosophen wie erst recht Politiker aus der Bahn werfende Macht nicht die einfache und banale Staatsmacht ist. Vielmehr haben wir es hier mit der Notwendigkeit zu tun, diese „Macht und die Herrlichkeit“ mit Zyklen und Wiederaufbereitungen des Wahren zu bemänteln. So wird das von Politikern alleweil gern gespielte Spiel simulierter Wahrheiten irgendwann tatsächlich wahr. Und wer heute von Politikern Ehrlichkeit verlangt, darf nicht verdrängen, daß noch immer jede, in der Tat wirklich jede Wahrheit aus unzählbaren Wiederholungen auch von (ehrenwerten, natürlich) Lügen besteht. Das erleben wir immer mal wieder und – s. o. – derzeit gerade …

Nennt man aber nicht gewöhnlich alle Mitglieder gesetzgebender Körperschaften ehrenwert? Was wäre da nun also neu?

Jürgen Gottschling!

Apr. 2010 | Heidelberg, Allgemein, In vino veritas, Sapere aude | 3 Kommentare