Die Auftaktveranstaltung zu den neuen Studienangeboten „DER PROFESSIONALISIERTE BÜRGER“ an der HfG Karlsruhe findet mit allen Referenten, u.a. Bazon Brock (Foto), Peter Sloterdijk, Wolfgang Ullrich, Markus Gatzen, am Donnerstag, dem 15. April 2010 von 18 Uhr bis ca. 20.30 Uhr im großen Vortragssaal der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, Erbprinzenstraße 15, statt. Der Eintritt ist frei.Wer heute nicht weniger gesund aus dem Krankenhaus entlassen werden will, als er hineingegangen ist, muss schon erhebliches über unser Gesundheitssystem gelernt haben. Wer sich Heilspredigern Sinn suchend anschließt, muss wissen, wie man sich dem Psychoterror von Sekten oder Fundamentalisten aller Couleur entziehen kann. Wer einen neuen Computer kauft, wird Tage, ja Wochen damit zubringen (wir Alten zumal), ihn halbwegs bedienen zu lernen. Wer vor Paketversandautomaten oder Fahrkartenautomaten nicht nach ewig-vergeblichem Probieren irre werden möchte und sich nicht als Kunde zum Knecht der Warenanbieter degradieren lassen will, sollte einsehen, dass der angebliche König Kunde den Unternehmen allein in Deutschland jährlich hunderte Millionen zusätzlichen Gewinn dadurch verschafft, dass er gezwungen ist, alle Serviceleistung selber unentgeltlich zu erbringen. Service? Alles fauler Zauber?
Wo lernt der Bürger, sich als Kunde, Gläubiger, Wähler, Rezipient und Patient zu behaupten? Zwar bilden wir Künstler in Akademien und Hochschulen aus. Sie studieren und arbeiten jahrelang, bevor sie sich dem Publikum stellen dürfen. Aber wer kümmert sich um die Ausbildung des Publikums, für das Künstler ja ihre höchst anspruchsvollen Werke schaffen? Kommt es nicht einer Herabwürdigung der Arbeit von Wissenschaftlern und Künstlern gleich, wenn man als selbstverständlich voraussetzt, schwierigste Werkkonzepte oder Forschungsansätze könnte das Publikum mal eben so nebenbei in wenigen Stunden für sich erschließen? Wenn Künstler es nur im jahrlangen Studium erreichen, Diplome und Staatsexamen abzulegen, können wir nicht ohne angemessene Kenntnis deren Arbeitsresultate beurteilen oder gar für uns zu nutzen wissen. Wo lernt man das? In den Besucherschulen, in den Patientenkursen, im Konsumententraining, in den Saulus-Übungen der Kritikfähigkeit, kurz, neuerlich in der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Ab Sommersemester 2010 bietet der Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung Bazon Brock Ausbildungsangebote für Diplom-Rezipienten, Diplom-Patienten, Diplom-Konsumenten, Diplom-Bürger und Diplom-Gläubige für Bürger aller Altersgruppen an.
Interview mit Bazon Brock, Initiator der neuen Studiengänge an der HfG Karlsruhe
Seit den 1960er-Jahren entwickelt Bazon Brock Unterrichts- und Schulungskonzepte, die auch Elemente künstlerischer Richtungen wie Fluxus und Happening beinhalten. Auf der Kasseler documenta 4 richtete Brock erstmals im Jahr 1968 seine legendäre Besucherschule ein. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2001 war Brock Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Bergischen Universität Wuppertal.
Ein Gespräch mit ihm über die Inhalte der Studienangebote in Karlsruhe, die sich seit den Jahren des Kanzlers Willy Brandt als ein Grundthema der Bundesrepublik anbietet: „Der mündige Bürger“. In diese Richtung zielt auch, wenn ich es richtig verstehe, Ihr Projekt „Der professionalisierte Bürger“. Wo liegt für Sie der Unterschied zwischen einem mündigen und einem professionalisierten Bürger?
Bazon Brock: Willy Brandt „wollte mehr Demokratie wagen“ – der gute Vater wollte also den Kindern, die seit 1968 die Straßen unsicher machten, etwas mehr Freiheiten zugestehen. Heute geht es nicht mehr um mehr Freiheiten, sondern um mehr Tatkraft, um aus den Freiheiten etwas zu machen. Die Volksbewegung der DDR 1989 war das bisher bedeutendste Beispiel, wie mündige Bürger ihre Freiheiten einforderten. Heute beklagen sehr viele, dass man mit diesen Freiheiten wenig anzufangen wusste.
Was heißt das, seine Freiheiten zu nutzen? Wie macht man das, mit welchen Mitteln – und zwar im immer währenden Alltag des Lebens?
Die Antwort lautet: Man muss es lernen, wie man lernen musste zu lesen, zu schreiben und zu rechnen, mit dem Auto als Verkehrsteilnehmer zu bestehen, sein Konto sinnvoll zu verwalten und Steuererklärungen abzugeben. Das entscheidende Verfahren heißt üben, üben, üben. Der professionalisierte Bürger ist also ein geübter, durch Enttäuschung nicht erschütterbarer Vertreter seines eigenen wohl verstandenen Interesses.
Was würden Sie als Ziele von „Der professionalisierte Bürger“ beschreiben?
Jedermann spürt, wie die soziale Bindung durch Sprachgemeinschaft, Kulturgemeinschaft, Glaubensgemeinschaft, Parteiungsgemeinschaft dahinschwindet. Das ist zu erwarten in einer globalisierten Welt. Ebenso selbstverständlich erwartbar ist es, dass die vielen, auf kleinstem Raum zusammenlebenden Kulturen versuchen, ihre Mitglieder durch Loyalitätsbeweise oder sogar Zwangsmaßnahmen anzuhalten, die eigenen Gemeinschaften gegen andere unter allen Umständen zu behaupten. Das aber führt zum Verlust der Freiheit. Es gilt demnach, eine neue Begründung für soziale Bindungen zu entwickeln. Nicht mehr die gemeinsame Zugehörigkeit zur gleichen Kultur, Religion, Partei, Ethnie etc. hält uns zusammen – im Gegenteil, sie sprengt Gesellschaften auseinander; permanenter, auch blutiger Kulturkampf ist die Folge.
Die neuen Formen der sozialen Bindung erzwingt der Umgang mit weltweiten Problemen wie die Umweltzerstörung, die über alle Grenzen der Kulturen, Religionen, Ethnien hinweg wirksam sind. Alle, die sich gemeinsam um die Bewältigung dieser Probleme kümmern, zeigen die neuen Formen von Gemeinschaften und Gesellschaften; dazu gehören die Gemeinschafen der Wissenschaftler, die NGOs, die Bürgerinitiativen und ähnliche.
Für die neuen HfG-Bürgerstudiengänge haben Sie fünf Themenfelder definiert: Kunst, Gesundheit, Konsum, Glauben und den Bürger selbst. Wie kamen Sie zu dieser Auswahl? Und ist es denkbar, dass weitere hinzukommen, wie zum Beispiel der Umgang mit den Informations-Medien und -Technologien?
Man kann nicht alles wollen, sondern beginnt mit möglichst konkreten Bearbeitungen von Problemen und mit den dringlichsten. Das Gesundheitssystem und die Sektenbildungen bzw. der permanente Kulturkampf scheinen uns gegenwärtig besonders brisant. Ohne die aktive Arbeit der Patienten werden die andauernden Versuche, das Gesundheitssystem zu reformieren, aussichtslos bleiben. Wenn die Bürger nicht lernen, therapietreue Patienten zu sein, werden weiterhin alljährlich Milliarden von Euro in die Kanalisation gespült, weil die Patienten verordnete Medikamente weisungsgetreu kaufen, aber nicht nutzen, sondern fortwerfen. Warum? Die Beipackzettel jedes wirksamen Medikaments listen für jede Hauptwirkung mindestens zehnmal so viele Nebenwirkungen auf. Die Patienten stürzen in einen Konflikt zwischen ärztlicher Anwendung und pharmazeutischer Risikodarstellung. Aus dem Konflikt befreien sie sich durch Wegspülen.
Unsere Ausbildungsangebote zeigen den Kursteilnehmern, wie man auf professionelle Weise mit den Zumutungen widersprüchlicher Zumutungen umgehen kann. Von solchen den Verstand verhexenden Widersprüchen gibt es lebensgefährliche und bloß ärgerlich-störende, wie zum Beispiel die vermeintliche Auskunft, „der Grund für die Verspätung Ihres Fluges ist die verspätete Ankunft Ihrer Maschine“: Wenn diese Auskunft nicht ausschließlich Missachtung von Kunden belegte oder Dummheit des Bodenpersonals, sondern mangelnde Intelligenz eines technischen Systems und seiner Manager beweist, wird die Angelegenheit lebensbedrohlich, wogegen die Fluggäste dringend aktiv werden müssen.
Mehr und mehr Netzteilnehmern wird klar, dass sie ihre technobegeisterte Vertrauensseligkeit teuer zu stehen kommen kann. Also gilt für alle Nutzer der weltweiten Informationsvernetzung größte Vorsicht, damit sie sich nicht ausliefern und zu Gefangenen ihrer eigenen Naivität werden. Für unzählige Menschen ist das World-Wide-Web ein neues Kontrollsystem, das ebenso bedrohlich ist wie eine Geheimpolizei, eine Zensurbehörde oder ein Propagandaministerium. Da muss man lernen, sich rechtzeitig gegen einen Totalitarismus und Fundamentalismus als Freiheitsverlockung zu wehren.
Die Auftaktveranstaltung zu den neuen Diplomstudiengängen
an der HfG Karlsruhe findet mit allen Referenten, u.a. Bazon Brock, Peter Sloterdijk, Wolfgang Ullrich, Markus Gatzen, am Donnerstag, dem 15. April 2010 von 18 Uhr bis ca. 20.30 Uhr im großen Vortragssaal der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, Erbprinzenstraße 15, statt. Der Eintritt ist frei.
19.Juli.2010, 09:11
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