Von der Zukunft und ihrer Berechenbarkeit …
Einst lag die Zukunft in Gottes Hand, heute leben ganze Industriezweige von ihrer Berechenbarkeit. Den Startschuss gab ein Briefwechsel im 17. Jahrhundert. Eine Reise vom Spielertisch zum Derivatenhandel – eingängig geführt vom Mathematikprofessor Keith Devlin.
Nehmen wir Matti und seine Kinder: Er hat davon zwei. Eins ist ein Mädchen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Peter zwei Mädchen hat? Ich sage mal 50 Prozent – und gehöre mit dieser Vermutung zur Mehrheit der Personen, denen man den Fall vorträgt, und liege falsch. Der Mathematikprofessor und Wissenschaftsjournalist Keith Devlin tröstet mich. Das Beispiel stammt aus seinem Buch Pascal, Fermat und die Berechnung des Glücks, und selbst der geniale Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal, so Devlin, sei in seinem Briefwechsel über abgebrochene Glücksspiele mit dem (noch genialeren) Mathematiker Pierre Fermat einem ganz ähnlichen Denkfehler unterlegen.
Der Unterschied: Im 17. Jahrhundert, als das Duo seine Korrespondenz führte, wurden die modernen Grundlagen für die Wahrscheinlichkeitsrechnung gerade erst gelegt – nämlich von eben diesen beiden Herren. Wir dagegen leben in einer Zeit, in der die Folgeerscheinungen ihrer mathematischen Methode, Mutmaßungen über die Zukunft anzustellen, Bereiche von Finanzmarkt, Flugsicherheit, Terrorbekämpfung bis hin zur Medikamentenzulassung in der Pharmaindustrie maßgeblich mitbestimmen. Die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung werden heute in der Oberstufe gelehrt. Unterrichtet wird damit ein flexibel einsetzbares Verfahren, dem eigenen Wohlergehen auf die Sprünge zu helfen. Mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist die Welt eine andere geworden – und nicht nur für den, der ihre Verfahrensgrundlagen durchschaut.
Durchaus auch für Mathe-Muffel geeignet
Was Peter angeht, so basiert die korrekte Auflösung der Denksportaufgabe darauf, dass wir nicht wissen, welches von Peters Kindern ein Mädchen ist – Zeit spielt hier durchaus eine Rolle. Ist Kind 1 ein Mädchen, kann Kind 2 ein Mädchen oder ein Junge sein. Ist Kind 1 ein Junge, kann Kind 2 nur ein Mädchen sein. Macht also drei mögliche Kombinationen: Mädchen-Mädchen, Mädchen-Junge, oder Junge-Mädchen. Die Wahrscheinlichkeit liegt demnach bei einem Drittel, denn nur in einem von drei möglichen Konstellationen hat Matti zwei Mädchen. Alles klar?
Wer weiter verwirrt ist, sollte deswegen Devlins hübsches Buch (Untertitel: Eine Reise in die Geschichte der Mathematik) nicht gleich von seiner inneren Leseliste streichen. Dem Autor liegt keineswegs daran, seine Leser in die schwereren Stunden ihrer Schulzeit zurückzuversetzen. Er hätte das Buch auch: „Die Entdeckung der planbaren Zukunft“ nennen können. Ihm geht es darum, den Einfluss der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf das Denken unserer Moderne aufzuzeigen. Vor dem Briefwechsel zwischen Pascal und Fermat galt die Zukunft als (für Menschen) unkalkulierbare Größe. Heute bauen ganze Industriezweige auf der Idee ihrer Kalkulierbarkeit auf. Wie es dazu kam, verfolgt Devlin bedächtig schwungvoll Schritt für Schritt, von einer Mathematikerbiografie zur nächsten. Jeder dieser Männer ein Glied in einem sich erweiternden Feld von Prognostik, die heute fast alle Bereiche unseres Alltags durchdringt.
Am Anfang steht das Glücksspiel …
Am Anfang stand das Glücksspiel: Es bot den Anlass für den Briefwechsel der beiden Titelfiguren, die schriftlich nicht müde wurden, sich ihrer gegenseitigen Hochachtung zu versichern, und sich persönlich nie begegnen sollten. Das Gewinnspiel, das ihre Korrespondenz anregte, ist einfach: Eine Münze, eine bestimmte Anzahl Spieler, eine festgelegte Anzahl Runden. Die Spieler geben einen Anfangseinsatz, Gewinner ist derjenige, der die meisten Runden für sich entscheidet. Nicht immer muss bis zum Ende gespielt werden – in einem Spiel mit zwei Spielern zum Beispiel kann derjenige, der drei von fünf Runden für sich entschieden hat, den Gewinn getrost einstreichen. Wie aber wird der Einsatz aufgeteilt, wenn das Spiel vorzeitig abgebrochen werden muss?
Die Frage war Pascal von einem Spielerfreund, dem Chevalier de Méré, gestellt worden, und es ist Devlins Verdienst, dass er dieses Milieu aus spielenden Chevaliers, kränkelnden Entrepreneurs (Pascal) und Juristen mit einem genialen Mathematikverständnis (Fermat) in einer Weise aufleben lässt, die die mathematischen Einlagen erheblich versüßt. Beinah meint man irgendwann zu verstehen, an welchen Details die beiden Gelehrten (und ihre Nachfolger) sich die Köpfe zerbrachen. Pascal erweist sich dabei als der umständlichere Denker; Fermat, ein nachlässiges Genie, warf schon früh einen eleganten Lösungsweg in die Runde. Es dauerte Wochen, bis sie die Frage zu ihrer Zufriedenheit ausgeknobelt hatten. Heute kann ein Schüler, ausgerüstet mit einem Grundwissen zu den Rechenverfahren, das Problem in ein paar Stunden lösen.
… und am Ende gewinnt immer die Bank
Ob der Schüler dabei versteht, was er tut, ist die andere Frage. Eine Methode anwenden ist eins, ihre Funktionsweise zu durchschauen etwas ganz anderes. Die Idee von Wahrscheinlichkeiten gehört seit Pascal, Fermat und ihren Nachfolgern – der Basler Mathematikerclan der Bernouillis, Edmond Halley, der englische Pfarrer Bayes und viele andere, die das Verfahren verfeinert, erweitert, und von den Spielsalons in den Alltag getragen haben – zu unserem Denken, und ihre praktische Umsetzung, Risikoberechnung, Risikomanagement, haben den modernen Alltag erheblich erleichtert. Dass es sich bei dem Verfahren um komplexe, mit simpler Logik nicht ohne weiteres nachvollziehbare Vorgehensweisen handelt (schon Peter und seine Kinder überfordern ja), setzt es allerdings auch einem potentiellen Missbrauch aus, wie Devlin am Beispiel von DNA-Beweisen bei Gerichtsverfahren zeigt.
Und natürlich kann man sich an der Methodik auch ganz einfach überheben. Der Handel mit Derivaten, der Anfang der 1970er losging, von Devlin anschaulich beschrieben wird und 1978 zu einem ersten Crash führte, ist dafür ein Beispiel.
Pascal, Fermat und die Berechnung des Glücks erschien im Original 2008. Zu früh, um zur aktuellen Finanzkrise Stellung zu beziehen. Im Grunde ist darin, aus einer mathematischen Position heraus, aber schon alles gesagt. Nämlich: Eine Formel ist nur so gut wie derjenige, der sie anwendet. Wahrscheinlichkeiten berechnen heißt keineswegs, dass der unwahrscheinliche Fall nicht doch eintreten kann (der sogenannte „schwarze Schwan“, der für den Crash von 2008 gerne ins Feld geführt wird). Und – die alte Spielerregel gilt genauso für heutige Gewinnspieler mit ihren vielfältigen Einsätzen in die Zukunft – am Ende gewinnt immer die Bank.