Die beiden vorgestellten Bücher „Sozialistische Gesetzlichkeit“ von Michael Stolleis und „Im Namen der Republik“ von Dieter Gräf befassen sich mit Staat und Recht in der DDR. Dabei geht es auch um die Frage, was die Rechtswissenschaft in der DDR tat Auch in der DDR gab es etwas, das sich Staatsrechtswissenschaft nannte. Es gab Hochschulen und Akademien, an denen promoviert, habilitiert, geforscht, gelehrt wurde, Seminare und Vorträge gehalten, Aufsätze und Bücher geschrieben wurden über Staat und Recht. Und darüber, was beides miteinander zu tun hat. Es gab Professoren und Wissenschaftler, die in den gleichen staatsrechtlichen Instituten ihre Ausbildung genossen hatten, in denen auch die Staatsrechtslehrerschaft der späteren Bundesrepublik heranwuchs. Was taten diese heute so vollkommen vergessenen Professoren und Wissenschaftler? Wie erging es ihnen unter den Bedingungen der SED-Diktatur? Was erforschten sie, was dachten sie?
„Dieter Gräf: Im Namen der Republik“
Das sind spannende Fragen, und spannend scheint auch der Gegenstand des neuen Buchs von Michael Stolleis zu sein. Der Rechtshistoriker, lange Jahre Direktor des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main, ist nicht zuletzt als Autor der dreibändigen „Geschichte des öffentlichen Rechts“ bekannt. Sein jüngstes Buch, so heißt es im Vorwort, untersucht …
„… wie die Rechtswissenschaft der DDR in den Kernbereichen des öffentlichen Rechts funktionierte und wie groß ihre Spielräume innerhalb des von der SED festgelegten und permanent kontrollierten Rahmens waren.“
Doch die Antworten, die Stolleis präsentiert, fallen enttäuschend aus. Stolleis geht folgendermaßen vor: Zunächst repetiert er die oft erzählte Geschichte der Machtergreifung Walter Ulbrichts und der SED und ihrer Absicherung. Dann wendet er sich der Rolle zu, die speziell das Recht in diesem Drama spielte. Dabei bezieht er auch zu der gegenwärtig wieder aufgeflammten Diskussion Stellung, ob man die DDR als „Unrechtsstaat“ bezeichnen könne – eine Frage, die er mit Nachdruck bejaht.
„Recht und Rechtsanwender wurden periodisch an die auf den Parteitagen verkündete Linie angepasst. Juristen hatten das Recht, zu justieren und die entsprechenden Signale auszusenden, nicht zuletzt als Warnung für vermutete Opponenten. Auch hier gab es also einen „Doppelstaat“ mit seiner Parallelität von regelgeleiteter Ordnung und irregulärer Maßnahme, die von Ernst Fraenkel sogenannte „bürokratisierte Rechtlosigkeit“. Die institutionellen Sicherungen gegen den Durchgriff der Politik auf das Recht, die es bis zum Nationalsozialismus noch gegeben hatte, wurden nun erneut verworfen.“
Den Vergleich mit der NS-Diktatur hält Stolleis nicht nur für erlaubt, sondern für geboten: Gerade Kommunisten hätten im NS-Staat unter Bespitzelung, Gesinnungsstrafrecht, Folter und Sippenhaft gelitten.
„Dass all dies unter dem Schleier eines humanistisch, freiheitlich, demokratisch und rechtsstaatlich getönten Vokabulars kurz nach den Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus erneut praktiziert wurde, gehört zu den bedrückendsten Erfahrungen des hässlichen 20. Jahrhunderts.“
Was aber tat die Rechtswissenschaft, genauer die Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in diesem Unrechtsstaat? Stolleis hat die rechtswissenschaftlichen Journale durchforstet, er hat zusammengetragen, wer wann an welchem Institut lehrte und wie die Promotions- und Habilitationsschriften hießen, die die einzelnen Forscher verfassten. Dieses Material breitet er in dem schmalen Bändchen in stupender Ausführlichkeit aus. Man liest das alles und fragt sich gelegentlich: Wozu tut er das?
Stolleis führt mit einigem Aufwand den Nachweis, dass die SED-Diktatur für eine Wissenschaft vom öffentlichen Recht kaum Spielraum ließ.
„Im Staats- und Verwaltungsrecht waren Themen der Verfassungsinterpretation und des Staatsorganisationsrechts mehr oder weniger tabu. Das erklärt, dass es überaus zahlreiche Arbeiten gibt, die sich mit den praktischen Fragen der organisatorischen Abstimmung der Verwaltungen der Kreise, der „Volkseigenen Betriebe“, aber auch mit der Leitungsaufgabe der „Volksvertretungen“ befassten.“
Offen bleibt insbesondere die Frage, warum die SED unter diesen Bedingungen überhaupt noch die Fassade einer Staatsrechtswissenschaft aufrecht erhielt – anders als die der 1958 faktisch abgeschafften Verwaltungsrechtswissenschaft. Wo lagen die Kontinuitäten, wo die Anschlussmöglichkeiten zum gemeinsamen Erbe von Bundesrepublik und DDR, zum öffentlichen Recht des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus? Welche Topoi, welche Denkfiguren überlebten, und welchen Gebrauch machte die DDR davon? Diese Fragen werden in dem Buch des Juristen und Staatsrechtslehrers Stolleis charakteristischerweise nicht gestellt, geschweige denn beantwortet. Vielleicht nimmt sich eines Tages ein Historiker ihrer an.
Das Buch hinterlässt den Eindruck, dass sein Gegenstand die Mühe, sich mit ihm zu beschäftigen, eigentlich nicht lohne. Im Werkverzeichnis des Max-Planck-Direktors mag es eine Lücke füllen – im Kopf des Lesers aber sicher nicht.
„Im Namen der Republik. Rechtsalltag in der DDR“
Von ganz anderer Qualität, und zwar in jeder Hinsicht, ist dagegen das Buch von Dieter Gräf. Der Autor kennt das Rechtssystem der DDR aus eigener Anschauung: Er war Rechtsanwalt in Weimar, bis er 1984 in die Bundesrepublik ausreiste und seine Erfahrungen in einem Buch niederschrieb, das jetzt im 20. Jahr nach dem Mauerfall neu herauskommt. Die Qualität der DDR als Unrechtsstaat wird in dem anekdotisch gehaltenen Praxisbericht des Anwalts ebenso greifbar, wie im Werk des Rechtsprofessors Stolleis.
Gräf konnte als Rechtsanwalt arbeiten und sich im Namen seiner Mandanten auf Recht berufen. Aber mit welchem Erfolg, das lag allein im Belieben der SED und ihrer Vollstrecker. Besonders eindringlich zeigt sich die „bürokratisierte Rechtlosigkeit“ in der DDR im Fall eines Mandanten, der von der Stasi verhaftet worden war – wegen einer Tat, von der weder sein Verteidiger noch seine Familie noch sonst irgendwer erfahren durfte. Erst nach langem Kampf gelang es Gräf, seinen Mandanten im Gefängnis besuchen zu dürfen, doch das Gespräch war von kurzer Dauer.
„Nicht wahr, Untersuchungshaftgefangener Keller, Sie wollen jetzt wieder auf die Zelle gebracht werden“, scharf und hart wie ein Befehl klingen die Worte des Vernehmers. „Ich würde gern noch …“, setzt Häftling Keller zu Sprechen an. „Was würden Sie gern?“, unterbricht ihn der Vernehmer, „Sie wissen Bescheid, ich habe Ihnen doch gesagt, wie Sie sich hier zu verhalten haben, nämlich kooperativ. Sie verstehen, was ich meine!“ Stille herrscht im Besucherraum der Staatssicherheit. Walter Keller zuckt mit den Schultern und sagt leise zu mir: „Haben Sie vielen Dank für Ihren Besuch (…).“
Gräfs Erzählstil mag nicht jedermann gefallen. Man merkt, dass hier kein Profischreiber die Feder geführt hat. Als Zeitzeugnis eines Praktikers aber, der das Nebeneinander von Willkür und penibler Vorschriftenbefolgung im Rechtsalltag der DDR selbst und stellvertretend für seine Mandanten erlebt und erlitten hat, ist das Buch um so wertvoller.
Michael Stolleis: „Sozialistische Gesetzlichkeit. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR“.
Dieter Gräf: „Im Namen der Republik. Rechtsalltag in der DDR“
Herbig 2009
18.Nov..2013, 19:30
gern weise ich auch auf dieses Buch hin:
http://www.amazon.de/Echt-DDR-gabs-mehrere-Parteien/dp/1492752444/ref=tmm_pap_title_0?ie=UTF8&qid=1384796344&sr=1-1