Sie werden ihr den Preis nicht geben. Dazu sind sie dann doch nicht mutig genug. Genauso wie sie nicht mutig genug waren, die Nominierung zurückzuziehen. Hätten Sie es gemacht, würde das bedeuten: Das Buch ist entwertet, weil es geklaute Stellen enthält. Würden Sie Helene Hegemann den Preis geben, würde es bedeuten: Ein Buch ist gut, unabhängig davon, wie darin mit Vorlagen umgegangen wird. Wir werden aus Leipzig aber weder die eine noch die andere Antwort hören. Der Betrieb möchte kein Risiko, er möchte vor allem, dass er weiterläuft.

Aber für solche Fragen ist auch nicht der Betrieb sondern die Kritik zuständig. Leider sucht auch hier niemand nach der Antwort. Daumen hoch oder runter, es wurde viel geschrieben, eine begründete Antwort darauf, die auch die eigene Rolle mit einschlösse, haben wir von keinem der beteiligten Kritiker gefunden. Bei Amazon hat Hegemann nur noch zwei Sterne. Die Kritiker stehen voll zu ihr, wie die SZ gestern bei einer Umfrage erfahren hat. Außerdem wurde klar, dass die Kritik vor allem eines will: Sie will nicht über ihre eigene Rolle nachdenken.

Wir haben inzwischen zwei Personen, die gewissermaßen in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen und die durch ihre Bücher und deren Überschneidungen untrennbar miteinander verbunden sind. Die Bücher, die die beiden geschrieben haben, unterscheiden sich auf jeden Fall dadurch, dass in dem einen ein Axolotl vorkommt, in dem anderen nicht. Helene Hegemann (mit Axolotl) hat das, was in ihrem Buch steht, nicht erlebt. Airen (ohne Axolotl) hat es erlebt. Der Autor des Romans „Strobo“, aus dem Hegemann abgeschrieben hat, sagt jetzt in seinem ersten Interview: „Das ist kein Roman, das ist mein Leben gewesen. Ich habe mir das nicht ausgedacht. Helene Hegemann hat das nicht erlebt. Ich habe das so erlebt.“

Airen sagt in diesen knappen, klaren Sätzen mehr, als die gesamte sogenannte Literaturkritik bisher herausgebracht hat. Airen ist 100 Prozent Authentizität, zumindest empfindet er es so. Deswegen bleibt er auch konsequenterweise und bis heute anonym.

Hegemann ist, angesichts des wahren Lebens, Fake, man kann die Sache drehen und wenden wie man will. Solange die Medien dachten, es sei Hegemann, kam das bei ihnen extrem gut. Die Medien gierten nach ihr. Literaturkritiker, sonst eher mit Papier beschäftigt, mussten sie auf einmal alle treffen und in der Buchkritik über Helene Hegemanns Haare schreiben. Jetzt kann man darüber reden, dass alle über sie reden, wie bei Harald Schmidt.

Während Hegemann in den Interviews, die sie gibt, über Airen so gut wie nie etwas sagt, spricht Airen im Interview sehr deutlich über Hegemann. „Helene Hegemann hat mir nichts getan, sie hat mich nicht angegriffen. Mir fehlt nichts, die Geschichte ist immer noch meine.“ Das ist bemerkenswert souverän und entspannt. Damit ist Airen zum Star der so genannten Hegemann-Debatte geworden. Er versucht für sich keinen Nutzen aus der Geschichte zu ziehen (außer dem, was ihm an Tantiemen zusteht), er schürft nicht nach intellektuellem Mehrwert, schlägt keine Funken daraus, dass Copy&Paste doch irgendwie total zeitgemäß ist.

Airen hebt mit seinen Sätzen die Debatte auf ein neues Niveau. Er sagt, frei von Neid, dass Hegemanns Buch auch ohne seine Stellen gut gewesen wäre. Hegemann ist denn auch gar nicht das Problem. Das Problem ist die Kritik. Der Literaturbetrieb zeigt sich in der gesamten Affäre in neuer Deutlichkeit. Der Literaturbetrieb, das ist das Peinliche, an das niemand rühren möchte, ist seinen eigenen Fiktionen aufgesessen. Der Literaturbetrieb hat sich eine junge Autorin einverleibt, die genau die Anforderungen erfüllte, von denen der Betrieb träumt. (Das sagt immer noch nichts über das Buch von Helene Hegemann).

Jetzt hat der Betrieb solche Bauchschmerzen, dass es ihm vollkommen die Sprache verschlagen hat. Die vielen Stimmen, die auf irgendeiner Metaebene verbale Kreise ziehen, oder die das Buch mit väterlich gönnerhafter Geste am liebsten auskotzen würden, vergessen wir. Es geht allein um die wirklich Beteiligten. Um dem Betrieb einen Rest an Glaubwürdigkeit zu retten, wäre es an der Zeit, dass die Kritiker jetzt von ihrer Faszination sprechen. Von der Faszination, die es auslöst, wenn da ein weißes Blatt vom Himmel schneit und man dann sieht, dass da doch die irrsten Dinge drauf stehen.

Von der Faszination durch eine Autorin, die schon durch ihr Alter das Recht auf all jene Reinheit, Naivität und Unbekümmertheit hat, nach der sich unsere bis zur Erschöpfung durchreflektierte Gegenwart sehnt. Und die dabei selbst, auf eine so unbeschwert intuitiv erscheinende Weise, klug ist. Und die, das ist das Tollste, den ganzen Schmutz unserer Gegenwart durch sich hat hindurchgehen lassen, ohne davon kaputt gemacht worden zu sein. Die Welt ist also doch heil.

Die Literatur kann doch alles. Man kann mit ihr durch den Morast unserer Kultur, den Irrsinn der Obsessionen, den Wahn der Desillusion und sogar durch das Berghain gehen, ohne darin umzukommen. Das wollten alle haben. Deswegen sind sie hingerannt zu ihr, haben sie beschrieben, als ob sie sie durch das Buch hindurch anfassen wollten. Das ist, und war schon immer, peinlich. Peinlich. Und das sagt immer noch nichts über Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“. Gebt ihr den Preis!

Feb. 2010 | Allgemein, Feuilleton, Zeitgeschehen | Kommentieren