Wendelin Ludwig, geboren am 9. Oktober 1946, war ein junger Lyriker, der sich am 12. September 1979 mit 33 Jahren durch einen Sprung von einem Hochhaus in Stuttgart, seiner Heimatstadt, das Leben nahm. Seine lyrische Hauptschaffensphase hatte er im Alter von 13 bis 21 Jahren. In jenen 8 Jahren verfasste er die große Mehrzahl seiner Gedichte, die seit 2004 in einer verdienstvollen Gesamtausgabe mit 170 Gedichten vorliegen. Es handelt sich um eine Kooperation des Verlags für Berlin Brandenburg Potsdam, der holländischen Stiftung „Memoriaal“ und dem Wilhelm Fraenger-Institut Potsdam. „Stabhochspringer“ – dieses Motiv, Titel des Lyrikbands wie auch eines der Gedichte wird uns noch beschäftigen – wurde in einer Auflage von nur 300 Exemplaren gedruckt.
Um es vorwegzunehmen: Die sehr ausdrucksstarken und sprachlich interessant gestalteten Gedichte, die von einer intensiven Naturverbundenheit des jungen Manns zeugen, wie sie heutzutage in unseren Breitengraden kaum noch denkbar ist, verdienen mehr Aufmerksamkeit. Vielleicht wäre hierfür eine gezielte, kleine Auswahl der wichtigsten und schönsten Gedichte ein hilfreicher editorischer Schritt. Wenn im Nachwort zu der vorliegenden Edition darauf hingewiesen wird, dass der bekannte deutsche Lyriker Heinz Piontek die Ausdrucksfähigkeit Ludwigs zwar gelobt hat, aber letztlich zu dem Schluss kommt, dass die Gedichte vor einem größeren Publikum wohl nicht bestehen würden, so möchte ich dem ein klein wenig widersprechen…aber lassen wir die Lyrik des Dichters am besten gleich selbst sprechen.
In dieser kurzen Rezension kann es selbstverständlich nicht darum gehen, eine Art Psychogramm von Wendelin Ludwig zu entwerfen, um letztlich auf die Frage einen nähere Antwort zu finden, warum er sich getötet hat. Dies bleibt den Menschen vorbehalten, die ihn näher kannten und liebten. Ich kannte ihn nicht.
Der Hinweis sei aber gestattet, dass es schon in den Blick fällt, dass Wunderlin, wie Ludwig sich selbst in ethymologischem Anklang an den Namen Hölderlin in einem Gedicht zitiert, gerne „Traumtänzer“ sein wollte, aber nach dem einundzwanzigsten Lebensjahr sichtlich in eine Lebensdekade geraten war, die ihn gelähmt, seine Schaffenskraft voll gehemmt hat. Ob es nun der sog. „Ernst des Lebens“ als Praxisschock beim Übergang von der Schule, noch dazu einer behütenden Waldorfschule, in diverse berufliche Tätigkeiten ohne größere Erregungsspielräume (Volontär beim Rundfunk, Dokumentar, Tätigkeit in einem Architektenbüro) war bzw. der überraschende Tod seiner Mutter (1976), der ihn veranlasst hat, ein frühes Ende zu machen, sei dahin gestellt. Sein bejahrter Heidelberger Freund G. Frommel (Komponist, geb. 1906) spricht in einem begleitenden Kommentar von der „Ausweg-losigkeit eines als sinnleer empfundenen Daseins“ und weist darauf hin, dass der Lyriker eigentlich „unphilosophisch“ war und erfüllt vom „elementar Menschlichen in allem Künstlerischem“.
Albert Camus, der Philosoph des Selbstmords, derzeit wieder hochaktuell in Frankreich, kannte die Sinnleere ebenfalls und erkannte, was das Leben angeht, philosophisch auf „Absurdität“; aber gerade diese Erkenntnis (Sysiphos als glücklicher Mensch) verhalf dem Franzosen-Algerier , der von da an für „Rebellion im Reflex“ optierte, letztlich zu enormer Lebens- und dauerhafter Schaffenskraft, die dem Lyriker Ludwig in seiner dritten Lebensdekade verstellt war. Der wollte und konnte sicher kein Sysiphos im Sinne Camus´ sein. Das Leben als Existenzvollzug muss ihm wie ein Graus vor Augen gelegen haben. Und es macht in diesem Zusammenhang stutzig, dass es im ersten Gedicht des Bandes, dem „Stabhochspringer“ geradezu leitmotivisch heißt:
„Stürzt in die flimmernde Höhe …. fällt aus steilem Bogen ein getroffener Vogel“
Camus´ Sysiphos wälzt den Felsen angestrengt den Berg hinauf und beim Herunterlaufen kommt ihm Erkenntnis, spürt er Freiheit und Glück. Ludwigs Stabhochspringer „stürzt“ sich am Stab in die Höhe (Lebensdekade 2?), danach folgt nur noch das Fallen eines Getroffenen (Lebensdekade 3?), eines Vogels, eines der fliegen kann…und eigentlich entkommen könnte! Hätte entkommen können! Von wem, wovon wurde er getroffen?
Die oben zitierte Naturverbundenheit des Vogels Wunderlin kommt in vielen seiner Gedichte zum Ausdruck, sie ist sozusagen fast immer präsent und dies mitunter wahrlich „expressis verbis“ wie z.B. in „Am Stadtrand“ (Schlussverse):
Fühle die stunden
Wo du wenn alle noch schliefen
Zwischen den himbeerruten
Begierig fröstelnd hocktest
Goldnes frühlicht im goldhaar
Wo du die erde
Schorst die geheimnisdunkle
Rüben pflanztest in deinem
Beet und dann die wange
auf kostenden moosen lag.
Eigenwillig die Zeilenübergänge; ungewöhnlich (wenn auch nicht ganz neu) die Kleinschreibung im Gedichtinneren; schön und ausdrucksvoll die Bilder: himbeerruten, kostende moose…oder – an anderer Stelle:
Führtest übers
Rosenblätterbestreute brett
Ins rasenrund
Forsythienbewacht …
Wunderlins Gedichte (wenn man so will: Themen, Motive) lauten naturverbunden: Früchte, Prélude zum Wettersturz, Der Sonnengott, Mittagwind, Wintermond, Stunde des Winterherren, Wildkatze im Tanz; aber auch: Keller, Flöte und Trommel, Fasching, Karussel, Gesänge Bocksfüßig. Und da ist es dann schon in den Titeln, das Verspielte, diese Freude am Kindsein, dieser Wunsch, Kind bleiben zu können, zu wollen, zu dürfen:
Wie ich da häng, birne am wippast
Und spucke und verziere
Mit kringeln den weiher
Das grünende wasser…
Beschließen wir diese Rezension, indem wir den jungen Dichter junger Gedichte noch einmal ohne Kommentar zu Wort kommen lassen mit einigen seiner allerletzten Verse (aus: Traumtänzer-Testament, bzw. Traumtänzer, 1978/79):
Den träumer Wunderlin (verbrennt ihn ohne getue) –
Lacht, trinkt, vergesst
Dann kann er wieder tanzen.
*
Vielleicht erhellt
dereinst ein Kind:
Traum ist kein Trugbild –
Tanz in das auge des sturms.
Friedrich Alexius Feder
28.Jan..2010, 00:01
Es hat mich gefreut, eine so verständnisvolle rezension der gedichjte von Wendelin Ludwig zu lesen. Leider hat dieser schmale band in kleiner auflage kaum ein echo ausgelöst, als er vor sechs jahren dank engagement des „Verlags für Berlin-Brandenburg Potsdam“ erschien. Er wurde nicht weiter beworben, meines wissens nirgendwo besprochen, wohl auch kaum gekauft. Es gibt nur noch wenige freunde Wendelins, die seine stimme (mit schwäbischer färbung), seine prinzliche erscheinung erinnern. Sein vorlesen eigener verse war ein ereignis, sein auftritt damals, anfang der 60er jahre, zb am Werderplatz 10 in Heidelberg-Neuenheim, unvergesslich wie auch sein entschiedener selbszerstörerischer abgang 1979.
Der gedanke, „eine gezielte, kleine auswahl der wichtigsten und schönsten gedichte“ zu treffen, leuchtet mir sehr ein. Nur – wer macht das und in welchem rahmen? m