Der erste Tatort war eine Kantinenidee, die sich zur erfolgreichsten Krimiserie Deutschlands mauserte. Der Tatort-Zuschauer guckt gern im Rudel und hat seinen Lieblingskommissar. Gerade wurde die 750. Folge ausgestrahlt.
Jeden Sonntagabend hocken Millionen Deutsche (wir auch) vor der Glotze und rästeln mit Kommissarin Odenthal, fiebern mit Ballauf und Schenk oder lachen über Thiel und Boerne. Gerade wurde die 750. Folge des Tatorts ausgestrahlt. Was ist eigentlich so faszinierend daran, Menschen dabei zuzusehen, wie sie hinter finsteren Gestalten herrennen, sich mit gezückter Waffen um Ecken schmiegen oder Philosophisches zur Currywurst am Kiosk am Rhein in Köln zum Besten zu geben?
Es scheint zumindest viele Menschen zu geben, die sich in den Bann des Krimis ziehen lassen: Im Jahr 2008 haben fast 44 Millionen Deutsche Tatort geschaut, das sind etwa 60 Prozent der Bevölkerung. Im Schnitt verfolgten 2007 die Sonntagabend-Erstausstrahlung 7,10 Millionen Zuschauer. Jeder Deutsche hat im Schnitt 14 Tatorte gesehen. Der Tatort ist so etwas wie die Brotzeit der deutschen Fernsehunterhaltung.
Die erste Folge wurde am 29. November 1970 unter dem Titel Taxi nach Leipzig ausgestrahlt. Darin löst Walter Richter als Kommissar Trimmel einen Kindsmord an der innerdeutschen Grenze. In seiner Geburtsstunde musste sich die Sendung, die sich zu Deutschlands erfolgreichster Krimi-Serie mausern sollte, einige Skepsis gefallen lassen. Tatsächlich war es ein ambitioniertes Projekt: Die verschiedenen Rundfunkanstalten sind selbst für die Folgen verantwortlich, jede Anstalt stellt mindestens ein Ermittlerteam – eine organisatorische Herausforderung. Die Idee entstand in der Kantine des Hessischen Rundfunks. Horst Jaedicke, Fernsehdirektor des damaligen SDR in Stuttgart, hat das Tatort-Konzept erarbeitet.
Fein säuberlich hinter Schloss und Riegel
Es sollte sich herausstellen, dass die Macher den richtigen Riecher hatten. Heute ist der Tatort zum Sonntagabend-Ritual geworden. Er strukturiert die Woche und entlässt die Zuschauer mit dem angenehmen Gefühl, dass wieder ein Mord aufgeklärt werden konnte. Das Strickmuster ist ja so herrlich einfach: Es gibt ein Problem – den Mord – und das wird dann verlässlich gelöst. Danach kann man in dem guten Bewusstsein, alles sei geregelt, der Mörder hinter Schloss und Riegel und die Kommissare im Feierabend, beruhigt zu Bett gehen. Der Mörder ist fein säuberlich verstaut und alles in bester Ordnung. Balsam, für Menschen, die sich mit schlechtem Gewissen herumplagen, weil sie die Steuererklärung immer noch nicht gemacht haben und der Keller auch dringend mal entrümpelt werden müsste. Und weil der Krimifan fleißig mitgerätselt hat, bleibt ihm das wohlige Gefühl selbst etwas erledigt zu haben.
Das alles macht im Rudel natürlich gleich viel mehr Spaß: zu lästern, wie einfach gestrickt die Geschichte jetzt wieder ist oder sich zu fragen, wer denn noch einmal der Typ war, der gerade so verschlagen um die Ecke gelinst hat. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sich abseits der Fußballseligkeit ausgerechnet der Tatort beim Public Viewing durchsetzen konnte. Beinahe jede Stadt hat mittlerweile eine Tatort-Kneipe, in der sich allsonntäglich die Krimifans zu Doldingers einprägsamer Erkennungsmeldodie tummeln.
Die blauen Augen und die fliehenden Beine in dem legendären Vorspann gehören übrigens dem Schauspieler Horst Lettenmayer. Welch prominente Rolle er in der Fernsehgeschichte einnehmen sollte, ahnte er wohl nicht als der Anruf von seiner Agentur kam: «Die suchen ein paar Augen, meld‘ dich mal.»
Zerknauscht oder alleinerziehend: Lieblingskommissare
Wer Tatort schaut, hat auch seine Lieblingskommissare: Der eine mag das ewige Geplänkel zwischen Kommissar Klaus Borowski und Kriminalpsychologin Frieda Jung, der andere amüsiert sich köstlich bei den Sticheleien zwischen dem schnöseligen Professor Boerne und dem missmutigen Kommissar Thiel. Andere können sich mehr für den zerknauschten Ballauf erwärmen, der mit seiner Lederjacke verwachsen zu sein scheint, die kühle Maria Furtwängler als Charlotte Lindholm dürfte indes die alleinerziehenden Mütter ansprechen. Bislang gab es über 90 Kommissare, die meisten Fälle haben die Münchner Kommissare Batic und Leitmayr gelöst. Manche sind schon zu Legenden geworden: Allen voran Schimanski, aber auch Manfred Krug als Kommissar Stoever oder Gustl Bayrhammer als Veigl mit Dackel haben sich in das deutsche Fernsehgedächtnis eingegraben.
Die Kommissare sind der Anker im Sumpf des Verbrechens. Auch beim aussichtslosesten Fall weiß der Zuschauer: Am Ende schiebt ein Polizist den Kopf des Mörders in den Streifenwagen und die Kommissare machen sich gelöst scherzend auf den Heimweg.
Einige Male dürfte den Programmverantwortlichen das Lachen aber im Hals stecken geblieben sein: Dass der Tatort gesellschaftliche Phänomene aufgreift und Milieus beleuchtet, ist der Sendung auch mal zum Fallstrick geworden. 2007 löste die Folge Wem Ehre gebührt des NDR einen Aufschrei in der Gemeinde der Aleviten aus: In dem Krimi geht es um einen Inszestfall in einer alevitischen Famillie. Erst als sich die ARD entschuldigte, nahmen die Proteste der Aleviten allmählich ab. Die Ludwigshafener Folge Schatten der Angst (SWR, 2008), in der es um einen Ehrenmord geht, wurde verschoben, weil kurz zuvor neun Menschen türkischer Abstammung bei einem Wohnungsbrand in Ludwigshafen ums Leben gekommen waren. Der Tatort Schleichendes Gift zog 2008 Kritik auf sich, weil darin eine Anleitung zum Selbstmord gezeigt wird.
Auch wenn die gesellschaftskritischen Themen mitunter grob geschnitzt und mit dem Holzhammer in die Geschichte eingetrieben sind, das Publikum ist dankbar. So dankbar, dass der Tatort auch noch im Radio läuft. Seit Januar 2008 bespielen die Hörspielabteilungen aller neun ARD-Landesrundfunkanstalten die Sender.
Eines aber macht den Fernseh-Tatort einzigartig: die Regionalität. Da wird nicht plump mit Verfolgungsjagden vorm Brandenburger Tor geprotzt, sondern ein kleiner Schwenk über die Fassaden an der Schönhauser Allee. Hier hat der Kenner die Gelegenheit, sich zu offenbaren. Und alle anderen werden daran erinnert, dass es auch jenseits des eigenen Hinterhofdunstkreises eine Welt existiert.