Brandaktuell, aber das Los als Entscheidungsinstrument kennt man doch eher im Sport. So werden in Fußballwettbewerben Spielpaarungen zugelost, wenn nicht jeder gegen jeden spielen soll. Meist wird es mit einer Mischung zwischen notwendigem Übel und willkommener Ungewissheit betrachtet. Der Zufallscharakter wird insbesondere von den vermeintlich besseren Mannschaften als wettbewerbsverzerrend empfunden, da schwächere Mannschaften durch entsprechendes „Losglück“ begünstigt werden können; die Floskel vom „schweren“ oder „leichten“ Los macht dann oft die Runde. Das Weiterkommen in einem Wettbewerb wird unter Umständen nicht mehr alleine der Leistung (im Sieg über die zugeloste Mannschaft) gutgeschrieben. Aber wäre es mit unserem Verständnis in Übereinstimmung zu bringen, Entscheidungen zumindest teilweise über Losentscheidungen vornehmen zu lassen? Ist nicht der Status des Gewählten für einen Amtsträger erst die Legitimationsbasis überhaupt? Wie würde ein „ausgeloster“ Abgeordneter, Richter oder Bürgermeister akzeptiert werden? Geht es überhaupt darum, die Wahl durch das Los zu ersetzen? Oder könnten Losentscheidungen nur flankierende Maßnahmen zur rascheren Auswahl von Entscheidungsträgern darstellen? Worin könnten die Vorteile gegenüber den bisherigen Verfahren liegen?
Bereits jetzt dient das Los in der Bundesrepublik in extremen Situationen, in denen eine Entscheidung nach ausgiebigem Wahl-Prozedere nicht zustande kommt, eine Wiederholung der Verfahren nicht erfolgversprechend scheint und als zu aufwendig empfunden wird, als „Tie-Breaker“. Sind doch in mehreren Gemeinden…derzeit Bürgermeister und Landräte im Amt, die nach einem Stimmenpatt im Losverfahren ermittelt wurden. Auch in der Bundesversammlung spielt das Los dann eine Rolle, wenn Parteien wegen gleicher Stärke in einem Landesparlament Anspruch auf denselben Sitz in der Versammlung erheben könnten, was bei knappen Mehrheitsverhältnissen durchaus Relevanz besitzen könnte. Tatsächlich würde bei der Wahl zum Bundestagspräsidenten das Los eingesetzt, wenn nach drei Wahlgängen kein Kandidat die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen sollte und sogar der Bayerische Landtag sieht für den Fall eines Patts bei einer Stichwahl zum bayerischen Ministerpräsidenten den Losentscheid vor.
Hubertus Buchstein führt viele Beispiele (auch aus anderen Ländern) an, die das Los als Indifferenzregulationsinstrument vorsehen, also als Entscheidungshilfe zwischen zwei Möglichkeiten, die jede für sich gleich gute Gründe oder gleich viele Stimmen auf sich vereinigen kann. Sieht man einmal von den Entscheidungen auf kommunaler Ebene ab, bleibt der Losentscheid jedoch fast immer nur als Ultima Ratio (viele der aufgeführten Konstellationen sind noch nie eingetreten). Es kann nicht davon gesprochen werden, dass das Los bisher ein wesentliches Element des demokratischen Auswahlprozesses ist.
Das war, wie Buchstein umfassend ausführt, durchaus schon einmal anders. Er geht dabei zurück bis zur griechischen Antike. Ausführlich werden die demokratischen Strukturen und Institutionen nebst Bedeutung des Loses im „demokratischen“ Athen insbesondere von 462 v. u. Z. – 322 v. u. Z. untersucht (das Los fand allerdings auch in oligarchischen Systemen vorher und nachher durchaus Anwendung). So wurde es bei der Bestellung der Jury für die Agone, den Wettbewerb um die besten Theaterstücke oder bei der Priesterinnen-Wahl (unter Abschaffung der bis dahin praktizierten Erbfolge) eingesetzt. Mit der Ausweitung der Bürgerrechte wurden Losverfahren in mehreren Etappen auf die Bestellung von Amtsträgern ausgedehnt: Sowohl die Mitglieder der „Boule“ (dem Rat der Fünfhundert), der „maßgebliche[n] Behörde“ (Aristoteles) des politischen Athen als auch die Mitglieder des im 4. Jahrhundert geschaffenen Gesetzgebungsorgan, die „Nomotheten“ wurden mit Hilfe eines ausgeklügelten Losapparates, dem „Kleroterion“ bestimmt. Buchstein erläutert nicht nur genauestens, wie dieser Apparat, der praktisch als fälschungssicher bezeichnet werden muss, funktionierte sondern erläutert auch die prozeduralen Verfahren.
Keine Regel jedoch ohne Ausnahme. Selbst in der Phase der „radikalen Demokratie“ wurde am Wahlverfahren für solche Ämter festgehalten, von denen man überzeugt war, dass sie ganz spezielle Kenntnisse, Fertigkeiten, Erfahrungen oder besonderes Vertrauen erforderten. Zudem wurden die Ausgelosten einer „Dokimasie“ unterzogen (bspw. bei der Besetzung der „Boule“). Dies war ein öffentliches Verfahren, in dem durch Befragungen die Eignung des Kandidaten festgestellt werden sollte. Die Anhörung machte auch vor persönlichen Fragen nicht halt und erstrecke sich zudem auf religiöse, soziale und politische Überzeugungen. In Zweifelsfällen wurden auch Zeugen hinzugezogen. Das Verfahren wurde durch eine offene Abstimmung (Mehrheitsbeschluss der alten Ratsmitglieder) abgeschlossen.
Kenntnisreich geht Buchstein auf das athenische Gerichtswesen ein, welches nur Laienrichter kannte, die mittels Los ermittelt wurden. „Richter“ waren eher, was man heute Geschworene nennen würde (obgleich der Autor diesen Vergleich eher ablehnt): bei weniger wichtigen Prozessen saßen 501 Richter im Kollegium, bei bedeutenderen Fällen konnten auch 1.001, 1.501, 2.001, 2.501 – oder sogar noch mehr Richter über einen Fall entscheiden.
Lose wurden nur bei Personalentscheidungen herangezogen. Sachentscheidungen wurden in den Institutionen verhandelt, deren Mitglieder vorher über Los- und/oder Wahlverfahren ermittelt wurden. Wichtig war die Freiwilligkeit, d. h. man musste sich vor der Auslosung für das ausgeschriebene Amt zur Verfügung stellen (dies funktionierte mit Kärtchen, die in den Losapparat eingebracht wurden). Die Ämtervergabe wurde mit strikten Vorgaben wie Rotation oder Monomagistratur (Verbot der Ämterakkumulation) gekoppelt. Eine zeitliche Begrenzung und Sperrzeiten waren eingerichtet.
Rekrutierungsinstrument und Korruptionsprävention
Wurde anfangs die Losentscheidung noch als „göttliches Urteil“ betrachtet (und aufgewertet) – Sakraltherorie nennt Buchstein das -, so entwickelte sich im Laufe der Zeit ein pragmatischeres Verhältnis. Daneben diente das Los einerseits noch als Rekrutierungsinstrument (Entdeckungsverfahren kreativen demokratischen Personals spitzt Buchstein diesen Gedanken zu, wobei dieses Verfahren durch Dokimasie und Rotation flankiert blieb) und andererseits als Prävention gegen Bestechungen.
Mitte des 4. Jahrhunderts gab es ein Reservoir von ca. 20.000 Bürgern in Athen. Hieraus mussten rd. 7.000 Ämter in Gerichten, dem Rat und den Beamtenkollegien ermittelt werden. Zieht man von dieser Zahl die 6.000 ab die für die Gerichte als Geschworene zur Verfügung standen, dann bleiben immer noch knapp 1.100 Positionen übrig. Wollte man eine Art Berufsbeamten- bzw. Berufspolitikertum vermeiden, so musste die Gefahr von Mauscheleien, Absprachen oder Fälschungen, wie sie bei Wahlen durchaus hätten auftreten (oder behauptet werden) können, begegnen. Hier erfüllte das Los durchaus seinen Zweck. Marginal auch interessant dürfte sein – Buchstein entgeht dies natürlich nicht -, dass es eines gewissen Selbstbewusstseins des Bürgers bedurfte, sich für die Auslosung zu einem Amt zur Verfügung zu stellen, während ein Wahlverfahren das Urteil der Anderen über den Kandidaten wiederspiegelt.
In aller Ausführlichkeit gibt Buchstein einen Überblick in die Argumentation der Demokratiegegner (wie Herodot und Platon), die (unter anderem) die Bestellung von Ämtern per Losverfahren zum Anlass nahmen, die Demokratie an sich anzugreifen und abzulehnen. Interessant dabei die Einblicke in ihre Argumentation (Klassenherrschaft der unteren Schichten nennt sie der unbekannte Autor, der als „der alte Oligarch“ geführt wird). Es zeigt sich, dass die Thesen des antidemokratischen Diskurses praktisch über die letzten 2.500 Jahre kaum Veränderungen erfahren haben. Die Einblicke insbesondere von Platon sind in dieser komprimierten Form ausgesprochen interessant aufbereitet. So wird kursorisch sowohl Platons „Alternative“ zur Demokratie, die in der Kooptation (einer monarchistisch-oligarchischen Ämterbestimmung) gipfelt als auch die etwas sanftere Staatsphilosophie aus seinem kurz vor dem Tod verfassten Werk „Nomoi“ angedeutet, in dem anhand der fiktiven Kolonie „Magnesia“ eine Art neuer politischer Idealstaat entwickelt wird (und auch das Los wieder zur Anwendung kommen soll).
Aristoteles gilt zwar mindestens als Demokratieskeptiker, aber anders als Platon und Herodot unterscheidet er die Staatsformen nicht nach der Bestellungstechnik, sondern nach dem Umfang der Wählerschaft. Eine Demokratie, so Buchsteins Lesart des griechischen Philosophen lässt sich nicht daran erkennen, ob in einer Polis gelost oder gewählt wird, sondern daran, dass die Ämter für alle offen sind und dass sich alle gleichermaßen an der Ämterbestellung beteiligen. Aristoteles zufolge sind diejenigen Staatsformen eine ‚Demokratie‘, in denen „alle aus allen entweder durch Wahl oder durch Los bestimmt werden, oder kombiniert, die einen durch Wahl und die anderen durchs Los“ (Aristoteles 1300b 30-33). Damit ist allerdings keinerlei Bewertung demokratischer und oligarchischer Regierungsformen vorgenommen, was freilich für die weiteren Überlegungen im Rahmen des Themas auch keine Rolle spielt.
Wichtig bei diesen Betrachtungen ist, dass die politische Gleichheit … die Bedingung [war], unter der sich das Los, welches sakrale und oligarchische Wurzeln hatte, zu einem Instrument der Ämterbesetzung der Demokratie entpuppen konnte und nicht etwa umgekehrt das Los erst zum „Gleichmacher“ wurde. Diese These ist essentiell, weil Buchstein später das Los in aktuell bestehende demokratische Institutionen neu verankern und dabei nicht den – falschen – Einsprüchen von vor zweieinhalbtausend Jahren begegnen möchte.
Venedig und Florenz
Nach der Hochzeit der athenischen Demokratie verflüchtigt sich die Bedeutung des Loses. Für den Leser wird es recht mühselig, wie Buchstein einige Anwendungen bei den Griechen, Römern, Juden und auch bis zum 12. Jahrhundert in Europa hervorholt. So ist das Fundstück, dass – gesetzt den Fakll, es wäre also wie es geschrieben steht auch geschehen – die Soldaten nach der Kreuzigung von Jesus von Nazareth dessen Kleider verlosten im Rahmen einer solchen Studie eher zweitrangig. Da geht mit dem Autor gelegentlich die Datensammelwut durch.
Das Los erfährt eine Renaissance in den italienischen Stadtrepubliken ab ungefähr dem 12. Jahrhundert. Insbesondere in Florenz und Venedig entstehen ausgefeilte Auswahlverfahren. Ausgiebig beschreibt Buchstein das venezianische Verfahren zur Ermittlung des Dogen. Auch bei der Bestellung von Ratsmitgliedern und Magistraten fand das Los seine Anwendung. Wichtig ist hierbei jedoch, dass das Los in Venedig niemals direkt für die Bestellung von Amtsträgern angewandt wurde, sondern nur bei der Auswahl der Beteiligten in Nominierungs- oder Auswahlgremien. Die vakante Position wurde durch die in komplexen Losverfahren ermittelten Teilnehmer in freier und geheimer Wahl besetzt.
Kompliziert waren auch die allerdings ständiger Wandlung unterworfenen Losverfahren insbesondere des 14.-16. Jahrhunderts in Florenz. Buchstein schließt sich nach gründlicher Schilderung der einzelnen Prozeduren Machiavellis Urteil von 1525 an, dass durch die Lotterie „der Stadt viel Verdruss erspart und die Ursache des beständigen Tumults behoben“ worden sei.
Ein bisschen zäh dann tastet sich Buchstein an die Möglichkeiten zur heutigen Verwendung des Loses heran. Zunächst ist in einem Kapitel vom leise[n] Ende des Losens die Rede. Sodann werden Allokationsrivalen zum Los herausgearbeitet – was weniger schlimm ist, als es sich anhört. Buchstein macht ein Septett von Allokationsalternativen aus. Neben Wahl und Los bleiben als „Rivalen“: Kooptation, Rotation, Warten (Wartelisten!), autoritative Zuteilung und Auktion. Die Ausführungen zu den Alternativen überzeugen nicht unbedingt immer. So ist zum Beispiel eine Rotation als „eigenständiges“ Verfahren zur Besetzung von Ämtern schwer vorstellbar. Daher referiert Buchstein auch ergänzend über Kombinationen des Loses mit anderen Alternativen.
Es folgen viele theoretische und gelegentlich langatmige Erörterungen, wie beispielsweise über John Rawls und dessen Theorie der Gerechtigkeit, die er in ein fiktives Rawlsanistan münden lässt und dem ein ebenfalls erfundendes Losland gegenübergestellt wird. Hier wird Buchsteins Anspruch, ein umfassendes Standardwerk unter Berücksichtigung möglichst aller bisher gedachten Aspekte zu verfassen, deutlich. Das führt abermals zu teils abwegigen Aufzählungen, wann und wo das Los in der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart eine Rolle spielt, so zum Beispiel im Sport. Erstaunlicherweise übersieht Buchstein offenbar dabei, dass die Losentscheidung beispielsweise bei Fußballspielen ab den 70er Jahren zu Gunsten des als sportlicher empfundenen Elfmeterschiessens abgeschafft wurde, wobei allerdings ein Aufsuchen der entsprechenden Wikipedia-Seite genügt hätte; man beachte insbesondere die Münzwurfentscheidung beim Viertelfinale des Europapokalspiels 1965 zwischen dem 1.FC Köln und FC Liverpool.
Vor- und Nachteile des Loses
Lebendig wird das Buch erst wieder, als Vor- und Nachteile des Loses dialektisch aufbereitet werden. Ist es doch – richtig implementiert – ein neutraler und verfahrensautonomer Mechanismus, unbedingt treffsicher (das Resultat ist zweifelsfrei erkennbar; Pattsituationen gibt es nicht) und kostengünstig (Stichwahlen sind nicht zu erwarten). Das Los entlastet Entscheidungsträger und Entscheidungsunterworfene und „reduziert“ emotionale Kosten derjenigen, die schwerwiegende Entscheidungen zu treffen haben, womit dem Gewinner ein gewisser Erwartungsdruck genommen wird.
Als weiterer Vorteil gilt, dass das Los Kreativität und produktive Unruhe erzeuge, in dem zum Beispiel gesellschaftliche Verkrustungen aufgebrochen werden können. Damit ist wiederum der wichtige Punkt der Korruptionsvorbeugung angesprochen, die durch Losentscheidungen begünstigt wird. Denn Tätigkeiten, die anfällig für Korrumpierungsversuche sind, werden dadurch in ihrer Integrität geschützt, dass mittels des Losverfahrens ein hohes Maß an Unsicherheit und Unplanbarkeit produziert wird.. Dabei entsteht fast von selbst ein weiterer Vorteil, nämlich die Erhöhung der gesellschaftliche[n] Stabilität. Hinzu kommt, dass die Enttäuschung über das Losergebnis…keine Zurücksetzung oder Beleidigung birgt. Das Los bietet…wenig Anknüpfungspunkte für negative Gefühle, die in Gegnerschaften und Aggressionen umschlagen könnten.
Das letzte Argument für eine stärkere Berücksichtigung von Zufallsentscheidungen in demokratischen Prozessen wird mit der „Rationalität zweiter Ordnung“ erklärt, die mittels Losentscheid geschaffen werde, um in bestimmten Situationen eine Entscheidung überhaupt erst möglich zu machen. Entscheidungen, die aufgrund von absoluter Unsicherheit, völliger Indifferenz, irrelevanten Unterschieden oder Inkommensurabilität keine für die Beteiligten rational nachvollziehbaren Entscheidungsgründe bieten, soll man der Entscheidung einer Lotterie überantworten. Ein weiteres Beharren auf rational begründbare Entscheidungen, so zitiert Buchstein den norwegisch-amerikanischen Sozialwissenschaftler Jon Elster, käme einer irrationale[n] Entscheidung von „Hyperrartionalität“ gleich, weil man sich weigere, die Grenzen von Rationalität rational anzuerkennen.
Mit dem letzten Punkt begibt sich Buchstein in das weite Gebiet der Überbewertung von Rationalität, ohne es vollständig zu behandeln. Fatal ist, dass er nicht an einem Beispiel konkretisiert, welche Art von politischen Entscheidungen mit den oben genannten Punkten der „Beliebigkeit“ des Resultates betroffen sein könnten. Beziehungsweise: Wer die im Zweifel bestehende Indifferenz und/oder Unterschiedslosigkeit der entsprechenden Entscheidung feststellt. Wenn das Los aufgrund einer „Hyperrationalität“ von Gesellschaften seit langer Zeit eine Randexistenz nur als „Tie-Breaker“ fristet und nun argumentativ herausgeführt werden soll, bedürfte es hierzu näherer Erläuterungen.
In den nachfolgenden Entgegnungen relativiert der Autor die Vorteile des Loses, wobei einige Einwände zuweilen etwas konstruiert erscheinen. Natürlich sind fälschungssichere Techniken für die Ermittlung von Losresultaten schwierig. Aber was schon vor zweieinhalbtausend Jahren in Athen gelang, müsste doch auch in Zeiten des Computers machbar sein. Schwerer wiegt schon der Gedanke, dass das Wettbewerbsprinzip durch Lotterieentscheidungen ausgehoben würde, was dann später Auswirkungen auf den durch den Zufall ermittelten Amtsträger haben könnte. Und auch zum anfangs logisch klingenden Argument der Korruptionsbekämpfung lässt sich bei Ämtern eine Gegenrechnung aufmachen, wonach durch Losverfahren ermittelte Amtsinhaber im Unterschied zu solchen, die auf eine Wiederwahl spekulieren, keinen Anreiz haben, in besonderem Maße Verantwortung gegenüber ihrer politischen Gemeinschaft zu übernehmen und auch keinen Ansporn, eine solche Verantwortung zu entwickeln. Wenn es ihnen lediglich um die Maximierung ihrer persönlichen materiellen Interessen geht, können sie ihr Amt wie einen „Glückstreffer“ behandeln, das ihnen die seltene Chance bietet, soviel wie möglich für sich herauszuschlagen.
Was Buchstein als advocatus diaboli in diesem Fall nicht anspricht, ist die Implementierung von entsprechenden Kontrollinstitutionen, die Amtsträger (gewählte oder „ausgeloste“) entsprechend zu beobachten und – wenn notwendig – zu sanktionieren hätten. Sicherlich wäre die Hürde, einen „Ausgelosten“ aufgrund von Unfähigkeit oder Vorteilsnahme zu entlassen wesentlich geringer als einen gewählten Amtsträger entfernen zu wollen. Freilich muss dann wieder die entsprechende Kontrollinstitution legitimiert sein – und abermals kräht der Hahn und fragt: durch wen?, was dann eine zusätzliche Bürokratisierung zur Folge hätte, die ja ursprünglich durch das Los hätte gezähmt werden sollen.
Hubertus Buchstein
Demokratie und Lotterie
Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU
Campus Verlag
Reihe: Theorie und Gesellschaft, Bd.70
493 Seiten, 1 Abbildung
€ 34,90
9783593387291