Ob im Kanzleramt, Bierzelt oder im Internet: Wenn Politiker um Stimmen für die Bundestagswahl kämpfen, sind wir dabei. Unsere Beobachtungen notieren wir hier. Heute: Warum Merkel dem Volk in Hamburg ziemlich fern bleibt.
Die Wahlkampfveranstaltungen der beiden großen Parteien CDU und SPD sind nicht gerade bürgerfreundlich. Direkt vor die Bühne kommen nur eingeladene Gäste: Aus Sicherheitsgründen – und auch damit genug Leute da sind, die Angela Merkel oder Frank-Walter Steinmeier kräftig beklatschen. Wer nur zufällig vorbeischaut und mal ein wenig zuhören will, muss weit hinten stehen, weil es oft noch eine Art Sicherheitskorridor gibt.
Wahlkampf aus der Distanz: Angela Merkel, hier im „Rheingold-Express“
Zum Beispiel am Freitagabend auf dem Hamburger Gänsenmarkt: Vorne spricht Angela Merkel vor ein paar hundert nicht gerade sehr begeistert wirkenden Anhängern. Am Rand stehen auf der einen Seite Demonstranten: Atomkraftgegner, Gegner der Hamburger Schulreform und gut 100 meist jüngere Leute, die unmotiviert nach jedem zweiten Satz der Kanzlerin laut „Yeahh“ schreien – ein Flashmob, zusammengerufen per Internet, SMS und Handy-Anrufen.
Auf der anderen Seite blockieren Übertragungswagen und Polizeifahrzeuge die Sicht. Über 1000 Normalbürger stehen dahinter auf der Straße, sie können die Kanzlerin nur auf der Großbildleinwand sehen. Kein CDU-Vertreter spricht sie an, ab und an klatscht jemand zaghaft.
Merkel kann das Volk von der Bühne aus kaum sehen, nur die Anhänger und die Demonstranten. Wen wollen die Parteien eigentlich erreichen? Die vorne haben sich ihre Meinung schon gebildet, die hinten im Zweifel noch nicht.
Am vergangenen Samstag konnte man in Berlin eine Zeitreise in die 80er-Jahre erleben: Bis zu 50.000 Menschen demonstrierten vor dem Brandenburger Tor gegen die Atomindustrie. Auf Treckern waren sie aus ganz Deutschland angereist – fast so wie früher.
Am Samstag sollen sich ähnliche Szenen am Potsdamer Platz in Berlin abspielen, nur wird es dieses Mal ein Blick in die Zukunft sein: Datenschützer haben zum Protest gegen Vorratsdatenspeicherung von Telefongesprächen und E-Mail-Verkehr aufgerufen. Auch hier werden mehrere zehntausend Teilnehmer erwartet.
Mit dem Thema Datenschutz lassen sich zunehmend Bürger mobilisieren, die angefangen haben zu merken, dass den Grünen längst Visionen fahlen, die sie ja mal hatten … Und dass Grüne entweder der Kern- oder der Kphlekraft noch für eine Weile brauchen, wenn sie nach dem Schalterumdrehen Licht haben wollen!
Die Aktivisten demonstrieren vor allem gegen das Gesetz, mit dem die Große Koalition im November 2007 alle Telefonanbieter verpflichteten, sämtliche Kommunikationswege ihrer Kunden bis zu sechs Monate zu speichern. Seitdem wiederholen Datenschützer ihr Mantra, es gehe um die Zukunft des Netzes, um Freiheit und um Bürgerrechte. Und seit 2007 gibt es auch den Aktionstag „Freiheit statt Angst“.
Was anfangs eher ein Insidertreffen von „Digital Natives“ war, dürfte dieses Mal deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommen. Die Datenschützer sind ehrgeizig, sie wollen ihr Thema unbedingt in den Bundestagswahlkampf bringen. Wie schlagkräftig sie sein können, zeigte im Frühjahr der Erfolg einer Internetpetition gegen die geplanten Netzsperren. Innerhalb von nur vier Tagen unterzeichneten sie mehr als 50.000 Menschen.
Keine Partei profitiert so von der Datenschutzdebatte wie die Piratenpartei – und keine hat sie so angeheizt. Die junge Partei verbucht seit Wochen steigende Mitgliederzahlen, zaghafte Wahlerfolge und wachsende Bekanntheit. „Wir sind Teil einer internationalen Bewegung“, sagte ihr Sprecher, Fabio Reinhardt, selbstbewusst.
Vor allem junge Menschen akzeptieren die Piraten als Anwälte für Netzthemen, bei denen sie den etablierten Parteien nicht vertrauen. Ende der 70er gab es eine ähnliche Entwicklung – damals brachte das Thema Umweltschutz den Grünen Mitglieder und Wähler, die vor allem der SPD verloren gingen.
Oskar Niedermayer von der FU Berlin traut den Piraten zu, nun auf ähnliche Weise den Grünen Stimmen abzujagen. „Das sind interessierte Leute, die sich bei einem Katalysatorthema gut auskennen“, sagte Niedermayer der Rundschau. Die Partei habe das Potential, Internetthemen dauerhaft zu besetzen. „Wenn die Piraten es schaffen, ein bis zwei Prozent der Stimmen zu bekommen, die sonst den Grünen zugefallen wären, könnten jenen wichtige Prozentpunkte fehlen“.
Zwar unterstützte auch die Öko-Partei die Demonstration am Samstag. Doch angesichts der Konkurrenz durch die Piratenpartei wird es umso wichtiger für die Grünen, weiterhin auf die Anti-Atom, Anti-Kohlekraft und halt überhaupt auf Anti-Bewegungen zu setzen. Schließlich scheinen deren Anhänger in etwa so stark wie die der Anti-Datenschützer zu sein. Noch. Worüber sich sehr freut: got
21.Sep..2009, 21:18
Ich sehe bei den sog. Nerds (Computerfreak-Elite) eine verabsolutierte Bejahung der Neuen Medien und deren Neuen Technologien.
Dagegen wäre zu halten, dass die zumeist eher jungen Nerds sichtlich die neue babylonische Sprachverwirrung, die durch die Neuen Medien entsteht, unterschätzen. Es scheint mir, das sie sie nicht erkennen oder dieser Aspekt ihnen egal ist.
Die Geschichte zeigt uns jedoch: jede neue technolo-gische Option birgt, obzwar fast immer zur Anwendung kommend, auch eine Schattenseite, mit der man sich zumindest auseinandersetzen sollte. Siehe Atomkraft, siehe Gentechnik, usw.
Bei den Neuen Medien – ich rede hier von den negativen Seiten – sind es die „zwitschernde“ Kommunikationsver-wirrung, der Suchterzeugungsfaktor, der Narzißmus-Drive, die Illusion eines Second Life als Ersatz für Real Life, die Oberflächlichkeit (nicht mit Leichtigkeit zu verwechseln) und der Effekt einer omnipräsenten digitalen Bildzeitung hoch drei – mit all der anklickbaren Gewalt und Dummheit. Die Effekte erleben wir täglich – wenn wir denn sehen wollen.
Es mag sich hier ein neuer Generationenkonflikt auftun, dessen Austragung in seinen Dimensionen zur Zeit noch nicht absehbar ist. Nur die Sauklugen, denke ich, schaffen es zur Zeit, sich der Neuen Medien einigermaßen zu entziehen; alle anderen verarschen mehr oder minder intensiv ihre Zeit vorm Gerät, wenn nicht gerade Party oder Kneipe ist, wo dann noch die Mini-Monitore angeklickt werden. Es geht also mehrheitlich um Netzheinis gegen Netztrollos (90%?).
Für mich steht ziemlich fest: erst wenn die Nerds, die Piratenpartei und andere Monitor-Dauergucker und Mouse-Endlos-Traktierer mit ihren Vorschlägen im wirklichen Leben ankommen, das durch nichts ersetzbar ist, können sie vielleicht auch spannend werden. Das steht noch dahin. Bislang ist nur Gähnen….
Wieviel Zeit unserer ca. 30.000 Tage sollten wir dem neuen (digitalen) Turm von Babel opfern? Die Hälfte oder Dreiviertel?
Beste Grüße
Fritz Feder