Die Altersstruktur unserer Gesellschaft hat sich so drastisch verändert, dass man von einer alternden Gesellschaft zu reden pflegt. Man denkt an eine zunehmende Vergreisung, da die Innovationen abnähmen, die Zahl der Pflegebedürftigen dagegen wachse. Dieses Selbstbild unserer Gesellschaft hält einer näheren Prüfung nicht stand.

Zeitzeichen

Die empirische Sozialforschung hat in den letzten Jahren ein im wörtlichen Sinn para-doxes, nämlich dem ersten Anschein widersprechendes Ergebnis gezeitigt: Das Risiko, pflegebedürftig zu werden, ist in den letzten Jahren in unserer Weltgegend nicht etwa gestiegen, sondern gesunken. Dieser Befund ist aber nur ein Mosaiksteinchen in einem neuen Gesamtbild, das man am treffendsten unter den Titel «Gewonnene Jahre» stellt. Das neue Bild setzt bei einer enormen Veränderung der durchschnittlichen Lebenserwartung an: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten Sechzigjährige in Mitteleuropa noch dreizehn bis vierzehn Jahre, heute können sie noch etwa zwei Dutzend weitere Lebensjahre erwarten. Die Menschen werden aber nicht bloss älter; sie bleiben auch länger frisch: sowohl körperlich als auch geistig, zusätzlich in emotionaler und sozialer Hinsicht. Dagegen wachsen wenige Kinder und Jugendliche nach. Nicht bei der angeblichen Überalterung liegt das Hauptproblem, sondern bei der «Unterjüngung». Schon heute leben in Europa mehr Menschen, die über sechzig, als Menschen, die unter fünfzehn Jahre alt sind.
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Unausgeschöpfte Potentiale

In der so skizzierten Situation liegen einige gesellschaftspolitische Aufgaben auf der Hand. Wegen des hohen Werts, den wir jedem Menschen zubilligen, soll man als Erstes die Chancen des Einzelnen, sein Leben bis ins hohe Alter selbständig zu gestalten, verbessern. Wichtig ist aber auch ein gerechtes und zugleich produktives Verhältnis der Generationen zueinander. Um dieses zu erreichen, ist keine Trennung der Generationen, sondern eine «Gesellschaft für alle Lebensalter» anzustreben.

Der mit der gestiegenen Lebenserwartung einhergehende Gewinn an Lebenszeit enthält ein Potential, das noch nicht annähernd ausgeschöpft ist. Entgegen einer verbreiteten Legende sind die Menschen bis ins hohe Alter lernfähig. Sie lernen sogar, was viele zunächst nicht glauben wollen, mit den modernen Informationstechniken umzugehen. Diese Techniken führen nicht, wie oft befürchtet, zu einer verringerten Integration in das gesellschaftliche Leben, zu einer reduzierten sozialen Teilhabe. Insbesondere bei Personen, deren körperliche Beweglichkeit stark eingeschränkt ist, verhält es sich genau umgekehrt. Wie wir es zunächst in Bezug auf das Radio und das Telefon, später das Fernsehen kennen, sind die modernen Informationsmittel wie der elektronische Brief (E-Mail) und das elektronische Weltnetz (Internet) sowohl ein «Tor zur Welt» als auch ein Forum für den sozialen Austausch. Jede Technik erzeugt allerdings auch Abhängigkeiten. Sie kann sogar die Unselbständigkeit erhöhen, da geistige Ressourcen durch Nichtgebrauch abgebaut werden.

Auf die lange Lernfähigkeit der Menschen hat sich die Gesellschaft noch zu wenig eingestellt. Trotz hoffnungversprechenden Ansätzen sind viele Gewohnheiten noch einer früheren Zeit verhaftet. Sowohl die Bilder in unseren Köpfen, unsere Mentalitäten als auch die sozialen Institutionen sind vielfach veraltet. Deren notwendige Veränderung beginnt mit der Kritik an diskriminierenden Ausdrücken wie «alternde Gesellschaft», «Überalterung» und «Alterslast».

Der erste Ausdruck ist irreführend. Er setzt eine feste Altersgrenze voraus, die sich an einem äusseren, kalendarischen Alter, nicht aber am tatsächlich gelebten, dem biologischen, emotionalen, sozialen und geistigen Alter orientiert. Wer behauptet, der Anteil der Älteren in unserer Gesellschaft sei gestiegen, macht eine Voraussetzung, die der kritischen Überprüfung nicht standhält. Er geht nämlich davon aus, dass der Beginn des «Alters» bei einer bestimmten Anzahl von Jahren, etwa bei sechzig, fünfundsechzig oder siebzig Jahren, zu fixieren ist. Den deutlich verbesserten körperlichen und geistigen Zustand der Älteren und ihre zunehmende Lebenserwartung dagegen berücksichtigt er nicht. Legt man deshalb wirklichkeitsnähere Kriterien zugrunde, so rücken die zahlreichen «jungen Alten» hinsichtlich ihres Erscheinungsbildes, ihrer Ansprüche und ihrer Leistungen eher in die Richtung der Lebensmitte.

Die Lebensalter

Auch der beim Ausdruck «alternde Gesellschaft» mitschwingenden Befürchtung von «Überalterung» und «Alterslast» liegen falsche Ansichten zugrunde. Beispielsweise nimmt man an, dass ältere Beschäftigte weniger produktiv seien. Wahr ist, dass sie körperlich weniger kräftig und dass sie weniger reaktionsschnell sind. Sie verfügen aber im Allgemeinen über ein Mehr an Erfahrung, an sozialen Fertigkeiten und an Alltagskompetenz. Eine erfreuliche Folge: Volkswirtschaften mit einer älteren Bevölkerung sind nicht zum Nullwachstum verdammt. Allerdings ist die Aus- und Weiterbildung zu stärken. Schliesslich ist die erst im 20. Jahrhundert erfolgte strenge Trennung zwischen Erwerbsphase und Ruhestand aufzugeben. Sinnvoller ist es, die folgenden drei Dinge nicht jeweils einer Lebensphase exklusiv zuzuordnen: das Lernen der Jugend, die Musse dem Alter und das Arbeiten der Zeit dazwischen. Das mittlere Lebensalter ist vielmehr verstärkt für Bildungs- und Familientätigkeit und das anschliessende Lebensalter für Erwerbsarbeit zu öffnen.

Unterstützung

Als empirisch falsch erweist sich auch die Ansicht, die Alten nähmen den Jungen die Arbeitsplätze weg. In Wahrheit kann die verstärkte Beschäftigung älterer Arbeitnehmer über zwei Begleitumstände, eine Senkung der Lohnnebenkosten und niedrigere Sozialversicherungsbeiträge, neue Arbeitsplätze schaffen und das wirtschaftliche Wachstum steigern helfen. Frühverrentung hingegen belastet durch höhere Sozialversicherungsbeiträge auch die jüngeren Arbeitnehmer: In Ländern mit einem hohen Anteil von Frühverrentung wie beispielsweise Frankreich und Italien ist die Jugendarbeitslosigkeit nicht etwa besonders niedrig, sondern auffallend hoch.

Schliesslich ist die Ansicht zu korrigieren, alte Menschen fielen ihren Angehörigen grundsätzlich zur Last. Tatsächlich geben sie in der Regel viele Jahre lang mehr Unterstützung, als sie empfangen. Teils durch finanzielle, teils durch praktische Hilfe im Haushalt oder bei der Betreuung der Enkelkinder tragen sie massgeblich dazu bei, den jungen Erwachsenen die Schwierigkeiten des Berufseinstiegs und der Familiengründung zu erleichtern. Hinzu kommt, dass sich die Älteren in beträchtlichem Masse ehrenamtlich engagieren. Auch wenn das nicht der entscheidende Gesichtspunkt ist: Wir Älteren sind für Euch – jawohl – ein Gewinn. Manche zumindest … got

Die Alten und die Jungen

»Unverständlich sind uns die Jungen«
Wird von den Alten beständig gesungen;
Meinerseits möcht ich’s damit halten:
»Unverständlich sind mir die Alten.«
Dieses am Ruder bleiben Wollen
In allen Stücken und allen Rollen,
Dieses sich unentbehrlich Vermeinen
Samt ihrer »Augen stillem Weinen«,
Als wäre der Welt ein Weh getan –
Ach, ich kann es nicht verstahn.
Ob unsre Jungen, in ihrem Erdreisten,
Wirklich was Besseres schaffen und leisten,          
Ob dem Parnasse sie näher gekommen
Oder bloß einen Maulwurfshügel erklommen,
Ob sie, mit andern Neusittenverfechtern,
Die Menschheit bessern oder verschlechtern,
Ob sie Frieden sä’n oder Sturm entfachen,
Ob sie Himmel oder Hölle machen –
E I N S läßt sie stehn auf siegreichem Grunde:
Sie haben den Tag, sie haben die Stunde;
Der Mohr kann gehn, neu Spiel hebt an,
Sie beherrschen die Szene, sie sind dran.

Theodor Fontane

Aug 2009 | Allgemein | Kommentieren