Dem türkischen Schriftsteller Nedim Gürsel steht in seiner Heimat ein Prozess wegen «Verunglimpfung religiöser Werte» bevor – ein Novum, nachdem Literaturschaffende bisher meist wegen «Herabsetzung des Türkentums» verklagt worden sind. Im folgenden offenen Brief, der geradae in der Tageszeitung «Milliyet» erschien, nimmt Gürsel zu den gegen seinen Roman «Die Töchter Allahs» erhobenen Vorwürfen Stellung.
An den Premierminister der laizistischen Republik Türkei, Herrn Recep Tayyip Erdogan:
In Paris, das schon lange mein Heimathafen geworden ist, schaue ich mir jeweils spätabends die türkischen Fernsehprogramme an. So hatte ich Gelegenheit, Ihre Ansprache anlässlich der Verleihung des Grossen Preises für Kultur und Kunst an Cetin Altan, den Doyen des türkischen Journalismus, zu hören; und ich verstand die Dringlichkeit Ihres «one minute» am Weltwirtschaftsforum in Davos.
Ich erlaube mir nun meinerseits die Bitte, dass Sie «eine Minute» – oder sogar einige Minuten – Ihrer kostbaren Zeit auf den Prozess verwenden, der wegen meines neuen Romans gegen mich angestrengt werden soll.
Betrogene Hoffnungen
Bei der Preisverleihung an Altan sagten Sie mit aller Klarheit: «Heute gehört die Türkei nicht mehr zu den Ländern, die ihre Autoren vor Gericht stellen.» Auch die Tatsache, dass Ihre Regierung Schritte zur Rehabilitierung des grossen Dichters Nazim Hikmet unternommen hat, war ein Hoffnungsstrahl für mich. Diese Neuorientierung an der Spitze eines Staates, der sich demokratisch nennt, der aber vor einigen Dezennien seinen bedeutendsten Lyriker – Nazim Hikmet – zu schwerer Gefängnisstrafe verurteilte und einen seiner grossen Romanciers – Sabahattin Ali – umbringen liess, hat mir zunächst etwas von der Angst und Sorge genommen, mit der ich dem gegen mich eingeleiteten Gerichtsverfahren entgegensah. Am 5. Mai werde ich mich der Anklage gemäss Paragraf 216 des türkischen Strafgesetzbuches stellen müssen: Sie lautet auf «Verunglimpfung der religiösen Werte des Volkes».
Mein Verbrechen besteht darin, in allegorischer und imaginativer Form über den Ursprung des Islam geschrieben zu haben, stets mit Respekt vor dem muslimischen Glauben, aber doch auch unter Inanspruchnahme der Freiheit, jede Form religiöser Gläubigkeit zu hinterfragen. Obwohl der Oberstaatsanwalt aufgrund der gerichtlichen Untersuchung die Einstellung des Verfahrens anordnete, hat das erstinstanzliche Zivilgericht nun den Prozess eröffnet. Was mich aber am meisten schockiert hat, ist der Bericht des Amtes für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet), in dem ich der Blasphemie angeklagt werde; denn diese Behörde ist Ihnen unterstellt und verfügt über keinerlei Kompetenz, sich zu einem literarischen Werk zu äussern. Ich bitte Sie, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ich einen Roman geschrieben habe und kein theologisches Lehrbuch.
Hier nun, was in dem Bericht steht: «Das Buch des Schriftstellers Nedim Gürsel mit dem Titel „Die Töchter Allahs“, erschienen beim Verlag Dogan Kitap, ist analysiert worden. Wie aus den folgenden Auszügen ersichtlich wird, enthält es Formulierungen, die nicht nur skeptisch, sondern kritisch sind und die als Herabsetzung und Lächerlichmachung Gottes, der Propheten, der heiligen Apostel, der religiösen Prinzipien, der heiligen Schriften und des religiösen Kultus verstanden werden können.»
Herr Ministerpräsident!
Um diese Anklage zu rechtfertigen, sind Passagen aus meinem Roman aus ihrem Kontext gerissen und völlig neu zusammengesetzt worden – in der klaren Absicht, mich zu diffamieren. Anders als es der Bericht will, ist nirgendwo die Formulierung «die Mätressen Allahs, lang ausgestreckt und ganz nackt» zu lesen. Richtig heisst es (auf Seite 120): «im Paradies (. . .) warteten Huris, lang ausgestreckt und ganz nackt, auf die geliebten Diener Gottes und auf die Märtyrer».
Wenn das Amt für Religiöse Angelegenheiten ein verfälschendes Dokument unterzeichnet, ohne meinen Roman auch nur ganz gelesen zu haben – stehen dann nicht auch Sie in der Verantwortung?
«Blasphemie» – direkt aus der Bibel
Ein anderer Satz, an dem die Verfasser des Berichtes Anstoss nehmen, lautet etwa: «Dieser kleine, unbehoste Abraham ging nun entschieden zu weit.» Diese Worte lege ich dem Vater des Propheten (der biblische Abraham gilt im Islam als einer der Vorläufer des Propheten Mohammed, A. d. R.) in den Mund: Warum sollte eine solche, durchaus liebevolle Wendung, die jedem Vater in den Sinn kommen könnte, eine Beleidigung eines Propheten darstellen? Sind die Propheten niemals Kinder gewesen?
Wie Sie wissen, steht sowohl in der Bibel als auch im Koran geschrieben, dass die zwei Ehefrauen des Propheten Abraham ihm bis ins fortgeschrittene Alter kein Kind geboren hatten. In meinem Roman umschrieb ich das mit den Worten: «Keine von beiden hatte ein Kind empfangen.» Wie ist es möglich, dass ein Satz, der eine überlieferte Tatsache ausdrückt, seitens des Amtes für Religiöse Angelegenheiten als eine Beleidigung des Glaubens interpretiert wird? In welcher Religion, in welcher Zivilisation ist es ein Verbrechen, keine Kinder bekommen zu können?
Auf Seite 71 ist die Rede von den «verschnörkelten und überladenen Lettern des Korans». Als Absolvent der religiösen Imam-Hatip-Schule sind Sie mit der arabischen Kalligrafie vertraut, und wie wir alle haben Sie in der Primarschule auch das lateinische Alphabet erlernt: Finden Sie nicht, dass im Vergleich zum Letzteren die arabischen Schriftzüge durchaus etwas «verschnörkelt und überladen» wirken können – besonders wenn, wie es im Roman der Fall ist, der Ausdruck die Sichtweise eines kleinen Kindes wiedergibt?
Und wie auch immer: Ob diese Schriftzeichen nun heilig sind oder nicht, ob sie als heilig angesehen werden oder nicht, sollte ein Schriftsteller nicht das Recht haben, sich über die Buchstaben eines Textes zu äussern, ohne gleich des Sakrilegs angeklagt zu werden?
Lieber fromm als wahr?
Es trifft zu, dass ich in meinem Roman Manat zu Wort kommen lasse, eine vorislamische weibliche Gottheit der Mekkaner, die vom Amt für Religiöse Angelegenheiten kurioserweise zum «Götzen ohne Stimme» deklariert wurde. Soll es also inskünftig den Schriftstellern auferlegt sein, bei dieser Instanz – die sich eigentlich um die Administration des religiösen Lebens kümmern sollte und die Ihrer Autorität unterstellt ist – anzufragen, wie sie ihre Figuren sprechen lassen sollen?
Und wäre ich überzeugender gewesen, wenn ich Abu Sufyan, dem erbittertsten Gegner Mohammeds, Lobreden auf den Propheten in den Mund gelegt hätte? Anders gefragt: Hätten Sie «Die Töchter Allahs» der Lektüre für wert befunden, wenn ich so vorgegangen wäre?
Als mein Buch im März 2008 erschien, hat Atilla Koc, vormals Minister für Kultur und Tourismus und derzeit Abgeordneter Ihrer Partei, mich angerufen, um mir zu dem Buch zu gratulieren und zu erzählen, dass er «Die Töchter Allahs» mehreren Menschen geschenkt hat, die ihm nahestehen. Sollten auch Sie zu diesen zählen, dann bitte ich Sie, ein wenig von Ihrer wertvollen Zeit für die Lektüre zu opfern, damit Sie Ihren Entscheid nach bestem Wissen und Gewissen fällen können. Selbstverständlich ist es Sache der Justiz, am 5. Mai ein definitives Urteil zu sprechen. Aber zweifellos wird dieser Gerichtsfall in den demokratischen Ländern und in der Europäischen Union, der auch unser Land angehören möchte, nicht unbemerkt bleiben.
Hochachtungsvoll
Nedim Gürsel
Nedim Gürsels Romane erscheinen in deutscher Übersetzung beim Ammann-Verlag; das im Text erwähnte Buch liegt derzeit erst auf Türkisch vor. – Aus dem Französischen von as.