Zu Anfang des 16. Jahrhunderts verhalf der technologische Fortschritt, die Verbreitung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, den religiösen Loslösungsbestrebungen von Rom, die schon seit fast zwei Jahrhunderten gärten, zu neuer Durchschlagsqualität.

Gleichzeitig sorgten die Interessen von Fürsten und wirtschaftlich bedeutsam gewordenen Städtern dafür, dass Reformatoren und ihren Anhängern nicht wie früher auf militärischem Wege ein baldiges Ende bereitet wurde. Der Nuntius von Papst Leo X. fasste die Situation 1521 sogar in der Bemerkung zusammen, die deutschen Fürsten würden nur auf einen „Narren“ warten, der ihren Separationswünschen Ausdruck verleihe.

In Deutschland war dieser Narr Martin Luther – für den Rest der Welt wurde ein Mann bedeutsamer, der am 10. Juli 1509 in Nordostfrankreich geboren wurde: Jean Calvin (Bild). Sein Vater war apostolischer Notar, Sekretär und Fiskalprokurator der vom Bischof regierten Grafschaft Noyonnais. Finanzieller Streitigkeiten wegen mit dem Domkapitel wurde er mit dem kleinen Kirchenbann belegt. Sein Sohn Jean studierte auf seinen Wunsch hin nicht Theologie, sondern die Rechte.[1] An der Universität von Bourges traf Calvin zwar auf Persönlichkeiten wie Andrea Alciato, entwickelte aber beim Studium alter Texte Vorstellungen, die sich von jenen der Humanisten deutlich unterschieden.

Bereits im Jahrhundert vorher hatten sich viele von diesen stillschweigend und ohne großes Aufsehen von der Religion gelöst, indem sie einfach weniger theologische als andere Fragen debattierten. Hält man sich dies vor Augen, dann war die Reformation gegenüber der Renaissance ein Rückschritt, eine Rückkehr ins Mittelalter: Ihre Vorstellungswelten wirkten, mit denen des Humanismus verglichen, häufig primitiv und irrational und ihre Theoretiker debattierten mit bemerkenswerter Leidenschaft Fragen, die man längst als überwunden oder uninteressant erkannt hatte.

Auch der studierte Rechtswissenschaftler Calvin brachte theologisch wenig neues. Die Prädestinationslehre etwa, für die er berühmt wurde, hatten schon zahlreiche Theologen vor ihm ausgearbeitet – von Augustinus bis Wycliffe. Calvin legte solche Sichtweisen im Grunde nur etwas ausführlicher dar. Seiner Ansicht nach verabschiedeten sich Adam und Eva mit ihrem Ungehorsam gegen Gott aus der Willensfreiheit und bewiesen, dass die menschliche Natur von Grund auf böse ist:

Der Menschengeist ist von Gottes Gerechtigkeit so vollständig abgekommen, dass all sein Wollen, Begehren und Tun nur gottlos, verrucht, befleckt, unrein und lästerlich ist; sein Herz ist dermaßen vom Saft der Sünde durchdrungen, dass es nur noch verweslichen Gestank von sich geben kann. Und wenn auch zuweilen ein Schein des Guten sichtbar wird, so bleibt doch das ‚Gemüt‘ mit Heuchelei und Trug umhüllt, und der Geist liegt innerlich in den Fesseln der Verderbnis.[2]

Aufgrund dieser Natur des Menschen war für Calvin klar, dass aus guten Werken allein keine Seligkeit erwachsen konnte. Gute Werke zeigten höchstens an, dass jemand zu den Auserwählten gehört. Errettung erwuchs für ihn allein aus der göttlichen Gnade und dem Opfertod Jesu. Freilich würden damit nicht alle errettet, sondern nur einige wenige, die Gott wiederum gleich mit dem Glauben an ihre Erlösung tröstet:

Was demnach die Schrift klar zeigt, das sagen wir auch: Gott hat in seinem ewigen und unwandelbaren Ratschluss einmal festgestellt, welche er einst zum Heil annehmen und welche er andererseits dem Verderben anheimgeben will. Dieser Ratschluss ist, das behaupten wir, hinsichtlich der Erwählten auf Gottes unverdientes Erbarmen begründet, ohne jede Rücksicht auf menschliche Würdigkeit. Den Menschen aber, die der Verdammnis überantwortet, denen schließt er, nach seinem zwar gerechten und unwiderruflichen, aber unbegreiflichen Gericht den Zugang zum Leben zu![3]

Die dem Menschen willkürlich erscheinende Erwählung und Verdammung verherrliche, so der Rechtsgelehrte in einem bemerkenswerten Gedanken, gerade dadurch die Allmacht Gottes.[4] Dem Vorwurf der Ungerechtigkeit eines solch relativ tatenunabhängigen Erlösungs-Castings, bei dem die Gewinner von vorneherein feststehen, konterte Calvin mit einem Pauluszitat:

„Denn er [Gott] spricht zu Mose: ‚Welchem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und welchem ich mich erbarme, des erbarme ich mich“.[5]

Calvin war hier im Denken in gewisser Weise konsequenter als Luther, der zwar an ein göttliches Wissen über das Schicksal, nicht aber an eine gotteswillentliche Vorherbestimmung glaubte. Hätte Gott dagegen nicht von Anfang an nicht nur gewusst, sondern auch vorherbestimmt, welche Menschen erlöst werden und welche nicht, wäre das – Calvin zufolge – ein Abstrich von seiner Allmacht.

Gott erklären und die Welt verändern

Der Reformator hätte wahrscheinlich nicht die Bedeutung erlangt, die ihm zukommt, wenn er nur seine Schriften hinterlassen hätte. Aber Calvin gelangte auch an politische Macht: In Genf konnte er seine Vorstellungen von einem idealen Staatswesen in die Praxis umsetzen. Das Ergebnis hatte bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem politischen System des Iran nach der Rückkehr des Ayatollah Khomeini.

Als Beweis, dass die Bibel tatsächlich Gottes Wort ist, genügte Calvin die Tatsache, dass sie auf ihn im Vergleich zu anderen antiken Schriften wie denen des Cicero oder des Demosthenes ungleich mehr Eindruck gemacht habe. Deshalb musste sie seiner Ansicht nach nicht nur als moralischer Wegweiser, sondern als oberstes Gesetz gelten, dem auch die Politik unterstellt war. Auch die weltliche Ordnung nämlich konnte sich seiner Ansicht nach nur auf die Bibel gründen, in der er im Vergleich zu anderen Theologen Altes und Neues Testament verhältnismäßig gleichberechtigt nebeneinander stehen ließ. Die Deutungshoheit über die Bibel aber hatte trotz der Verbreitung von Schrift und Buchdruck der Klerus, weshalb dieser bei Calvin in Theorie und Praxis den weltlichen Herrschern sagen musste, was zu tun sei.

Vor der Herrschaft Calvins wurde Genf von einem Bischof regiert, auf dessen Ernennung wiederum der Herzog von Savoyen großen Einfluss hatte. Als die Bürgerräte der Stadt ihre Macht ausbauten, versuchte dies der Bischof mit einer Art Kriegsrecht zu verhindern: Er erklärte die Stadt für „aufrührerisch“ und rief den Herzog von Savoyen zu Hilfe. In den darauf folgenden militärischen Auseinandersetzungen, bei denen Genf vom protestantischen Bern unterstützt wurde, nannte die katholische Seite ihre Gegner pauschal „Eidgenossen“, was im Französischen zu „Huguenots“ wurde. Als die Berner Truppen die des Herzogs schlugen, floh der Bischof und die Genfer Räte führten den evangelischen Glauben ein.

Erst zu diesem Zeitpunkt kam Calvin, der eigentlich nur auf der Durchreise war, in die Stadt. Zusammen mit dem bereits in Genf ansässigen Guillaume Farel begann er gegen Altgläubige und Laster zu agitieren. 1538 kam im Rat der Stadt eine Mehrheit aus für Glaubensfreiheit eintretenden Libertins und Krypto-Altgläubigen zustande, in deren Folge der Reformator Genf wieder verließ und nach Straßburg ging.[6]

Doch die Koalition hielt nicht lange – und als drei der bedeutendsten Genfer Gegner Calvins nacheinander wegen Mordes, Falschmünzerei und Verrats zum Tode verurteilt wurden und ein vierter darauf hin floh, kehrte der Calvin in die Stadt zurück. Bei seiner freundlichen Wiederaufnahme spielte auch eine Rolle, dass der Bischof ebenfalls eine Rückkehr versuchte und man in dem Reformator ein Gegengift sah.

Der christliche Wahabit

Nach seiner Wiederkehr hielt sich der Reformator erst ein wenig zurück, ging aber bald mit noch größerem Eifer zur Sache: Die Bürger waren mit ihm zwar die für sie teure Verschwendungssucht der katholischen Kirche losgeworden (Calvin lebte Zeitgenossen zufolge sehr bescheiden und aß wenig), doch sein Regiment war bald repressiver als das römische. In mehrerlei Hinsicht erinnern seine Reformen an die des Muhammad ibn Abd al-Wahhab, den Autor des Kitab at-Tauhid und Begründer des [extern] Wahabismus, der mit Hilfe der Saud-Sippe im 18. Jahrhundert ein Terrorregime errichtete, das unter anderem Tanz, Tabakgenuss und Heiligenverehrung auszurotten versuchte.

Nach und nach wuchs in Genf die Liste des Verbotenen, bis schließlich auch Delikte wie die Verlockung zum Müßiggang bestraft werden konnten. Theater wurde erst nur in religiösen Varianten zugelassen, später dann ganz verweigert. Ehen zwischen Alt und Jung wurden untersagt, Frauen mit unzulässigen Kopfbedeckungen oder Frisuren eingesperrt. An Heiligen orientierte Vornamen sollten zugunsten solcher aus der Bibel verschwinden, was einen Vater vier Jahre ins Gefängnis brachte, weil er seinen Sohn Claude nennen wollte. Calvin versuchte sogar die Genfer Gasthäuser durch „Abteien“ zu ersetzen, in denen die Bürger sich statt der Geselligkeit der Bibellektüre widmen sollten. Allerdings erwies sich dieses Vorhaben als lediglich temporär erfolgreich.

In dem von ihm errichteten Überwachungs-Gottesstaat kontrollierte ein Konsortium alle Haushalte. Eine Pflicht zum Besuch des Gottesdienstes bestand nicht nur Sonntags, sondern drei bis vier Mal wöchentlich. Für Ruhe in der Bevölkerung sorgte, dass schon respektlose Äußerungen gegenüber Klerikern als Verbrechen bestraft wurden. Und wer Widerstand in Argumente zu fassen vermochte, dem drohte Calvin mit Denkverboten:

Denn es ist nicht billig, dass der Mensch ungestraft durchforscht, was nach des Herrn Willen in ihm selber verborgen bleiben soll.[7]

Als der Arzt Jérôme-Hermès Bolsec 1551 bemerkte, dass die Prädestinationslehre Gott zum Urheber von Sünden machen würde, wies man ihn kurzerhand aus der Stadt. Schlechter erging es Jacques Gruet, einem der Führer der Libertins, der als angeblicher Autor eines Drohbriefes an Calvin festgenommen wurde. Bei einer Hausdurchsuchung fand man zwar keine Beweise dafür, aber Papiere, in denen der Religionsführer als Heuchler bezeichnet wurde, außerdem spöttisch Formuliertes zur göttlichen Herkunft der Bibel und zur Existenz einer unsterblichen Seele. Man beschuldigte Gruet, Urheber dieser Handschriften zu sein und unterzog ihn einen Monat lang zwei Mal am Tag der Folter, bis er all das und außerdem die Teilnahme an einer ausländischen Verschwörung gestand. Anschließend wurde er mit den Füßen an einen Richtblock genagelt und geköpft.[8]

Gruet war beileibe kein Einzelfall: In einem einzigen Jahr gab es 14 Hexenverbrennungen und Dutzende sonstiger Hinrichtungen wegen Glaubensdelikten. Obwohl er selbst ein von katholischer Seite mit Hinrichtung bedrohter Häretiker war, verteidigte der Reformator vehement die Notwendigkeit der Todesstrafe für Glaubensabweichungen:

Ein jeglicher aber, der nun behauptet, die Häretiker und Gotteslästerer seien zu Unrecht bestraft worden, versetzt sich selbst bewusst und eigenwillig in Anklagezustand. Es geht hier nicht um menschliche Dinge, sondern Gott ist es, der uns sein Wort sagt, und es bleibt uns nicht verborgen, was er seiner Kirche ein für allemal anvertraut hat […] Was sollte die unversöhnliche Strenge, wenn nicht, uns bewusst werden zu lassen, dass Gott in seiner Ehre geschmälert bleibt, solange wir ihm die ihm zustehende Ehrfurcht nicht in allen menschlichen Diensten entgegenbringen? – Ja, dermaßen müssen wir auf seine Ehre achten, dass alle mitmenschlichen Regungen aus unseren Gedanken beinahe ausgetilgt werden.[9]

Allerdings konnte sich der Reformator mit seinen Strafmaßvorstellungen nicht in jedem Fall durchsetzen: Einige Knaben, die man bei unzüchtigen Spielen erwischte, wurden entgegen seines Willens nicht ersäuft – stattdessen verhängte man lediglich Prügelstrafen.

Calvin und seine Gesinnungsgenossen legten auch Wert darauf, dass die „Sünder“ die Billigkeit ihrer Behandlung einsahen. Aufzeichnungen des Stadtchronisten lesen sich deshalb teilweise wie Gerichtsreportagen von den sowjetischen Schauprozessen der 1930er Jahre:

Ein Geldwechsler wurde wegen Ehebruchs vom Leben zum Tode befördert. Dieser aber lobte vor der Vollstreckung des Urteils Gott und die Gerechtigkeit, welche ihm widerfuhr.

Zusammenarbeit mit der Inquisition

Das wahrscheinlich bekannteste Opfer des Reformators, sein Trotzki sozusagen, war Miguel Serveto y Reves. Der Entdecker des Blutkreislaufs wollte für eine theologische Auseinandersetzung nach Genf kommen und fragte dazu bei Calvin an. Der aber dachte nicht daran, den Streit mit Worten zu führen und schrieb am 13. Februar 1546 an Farel:

Servet schrieb mir neulich […] und sandte mir einen ansehnlichen Band seines wahnwitzigen Gefasels […] Wenn ich einverstanden bin, will er hierher kommen. Aber ich will ihm nichts versprechen. denn wenn er kommen sollte, werde ich, wo meine Autorität noch etwas gilt, nicht zulassen, dass der lebend von hier weggeht.

Als er doch nicht kam, zeigte Calvin ihn beim Inquisitor in Lyon als Urheber eines anonym herausgegebenen Buches an, für das der Spanier auch Teile seiner in den Briefen an Calvin niedergelegten Gedanken genutzt hatte, und stellte diese, als Serveto alles abstritt, dem Inquisitor zur Verfügung, was dem mittlerweile Geflüchteten in Abwesenheit eine Verurteilung zum Tode einbrachte. Der wollte ausgerechnet über Genf nach Neapel entkommen, wurde dort jedoch erkannt und festgenommen. Im darauf folgenden Prozess warf man ihm unter anderem die von Strabon übernommene Angabe vor, dass Judäa ein eher unfruchtbares Land sei, wo doch die Bibel davon sprach, dass dort Milch und Honig fließen würden.[10]

Serveto wurde auch in Genf verurteilt, zusammen mit seinem Buch an einen Scheiterhaufen gefesselt und ohne vorheriges Erwürgen verbrannt. Angeblich dauerte es eine halbe Stunde bis der Tod eintrat. In Frankreich verbrannte die Inquisition, die vergeblich um seine Auslieferung ersucht hatte, als Ersatz eine Strohpuppe. gott

Dies geben wir – zu guter Letzt – gern weiter:

Lieber Tenno,
ein kurzer Hinweis:
laut Theo Sommer von der „Zeit“ (vorletzte Ausgabe oder letzte) , der ausgiebig über Calvin recherchiert hat, dauerte der Tod des Servetus auf dem Feuer in Genf geschlagene 3 ½ Stunden. Das damalige Publikum mags gefreut haben.

Saludos
Fritz

Manch heutiges Publikum tät sich mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit auch gern freuen. Aber, heute dürfen die das ja nicht mehr. Manchmal ist Staat ja doch zu was gut, meint dieser gott schon wieder!

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[1] Henry, Paul: [extern] Das Leben Johann Calvins des großen Reformators. Hamburg: Friedrich Perthes 1835, S. 29 ff.

[2] Calvin, Jean: Unterricht in der christlichen Religion. Neukirchen-Vlyn: Neukirchener 1997 [1955], S. 199  II, 5,19)

[3] Calvin, Jean: Unterricht in der christlichen Religion. Neukirchen-Vlyn: Neukirchener 1997 [1955], S. 622  III, 23,7

[4] Calvin, Jean: Unterricht in der christlichen Religion. Neukirchen-Vlyn: Neukirchener 1997 [1955], S. 615  III, 21,1

[5] Römer 9, 15

[6] Cottret, Bernard: Calvin. A Biography. Grand Rapids, Michigan: Eerdmans 2000 [1995], S. 185 ff.

[7] Calvin, Jean: Unterricht in der christlichen Religion. Neukirchen-Vlyn: Neukirchener 1997 [1955], S. 616  III, 21,1)

[8] Parker, T. H. L. (2006), John Calvin: A Biography, Oxford: Lion Hudson 2006 [1975], S. 136 ff.

[9] Calvin, Jean: [extern] Defensio orthodoxae fidei de sacra Trinitate contra errores Michaeli Serveti Hispani. Genf 1554, S. 24 – 30

[10] Bury, John Bagnell: [extern] A History of Freedom of Thought. New York, o.J., S. 64.

Jul 2009 | Allgemein, Feuilleton, Kirche & Bodenpersonal, Sapere aude, Zeitgeschehen | 1 Kommentar