Seit dem Tod Ernst Jüngers im Februar 1998 sind über zehn Jahre vergangen. In diesem Zeitraum haben sich die Bedingungen für eine Darstellung seiner Biographie bedeutend verbessert. Zum einen ist das Corpus an relevanten Texten und Materialien stark erweitert. Die skandalträchtige politische Publizistik aus den zwanziger und dreissiger Jahren liegt in einer handlichen, noch von Jünger selbst auf den Weg gebrachten Ausgabe vor; wichtige Briefwechsel sind ediert und durch Kommentare erschlossen; weitere, noch unveröffentlichte im Nachlass zugänglich, der seit Ende der neunziger Jahre im Deutschen Literaturarchiv in Marbach verwahrt wird. Zum andern hat, aus welchen Gründen auch immer, die Polarisierung nachgelassen, die lange Jahre jedes Gespräch über Ernst Jünger zum Austausch von Reflexen gemacht hat. Was dem Gros der veröffentlichten Meinung noch 1982, bei der Verleihung des Goethe-Preises an Jünger, gänzlich ausgeschlossen schien, ist nun zumindest denkbar und sagbar geworden: dass einer das, was er einmal war, nicht ein ganzes Leben lang bleiben muss; und dass selbst ein militanter Krieger und Rechtsnationalist ein Autor von Rang sein kann.
Vor 1933 für den Nationalsozialismus
Die Auswirkungen dieser veränderten Lage lassen sich nun gleich an zwei Grossversuchen studieren, Leben und Werk dieses Autors auf einen Nenner zu bringen. Beide haben in umfassender Weise aus dem erweiterten Corpus geschöpft und viele bis dahin unbekannte Details ans Licht gefördert; beide präsentieren ein facettenreiches Bild, das die bisherigen Unternehmen hinter sich lässt und wohl auf Jahre hinaus bestimmend sein wird. Sie verschweigen Jüngers Verstrickungen in den Rechtsterrorismus ebenso wenig wie seine bis Ende der zwanziger Jahre anhaltende pro-nationalsozialistische Haltung, präsentieren aber auch die Fakten, die in das Bild vom Faschisten, vom Wegbereiter Hitlers, nicht passen: die beharrliche Weigerung nach 1933, sich vom NS-Regime vereinnahmen zu lassen, die literarische Distanzierung in den «Marmorklippen», den Austritt aus der Traditionskompanie, als diese ihre jüdischen Mitglieder ausschliesst, die, wie immer auch vorsichtige, Obstruktion während der deutschen Besetzung von Paris usf.
Es spricht für die Genauigkeit der Arbeitsweise, dass sich beide Bücher in der Schilderung der Lebenstatsachen auf weite Strecken decken: dieselben Punkte hervorheben, dieselben Beziehungsgeflechte beleuchten, die gleichen Belegstellen aus den Quellen erheben. Das schliesst allerdings Unterschiede nicht aus. Das Buch von Kiesel verleugnet an keiner Stelle den Literaturwissenschafter. Es erzählt weniger, liefert dafür jedoch ausgiebige Informationen zum Werk; etwa über die Metaphernsysteme, die Jünger in seinem wohl bekanntesten Buch, den «Stahlgewittern», verwendet, oder über die verschiedenen Fassungen, die er von diesem Text – und nicht nur von diesem – angefertigt hat. Dabei wird nichts geglättet und beschönigt. Mit Bezug auf «Der Kampf als inneres Erlebnis» spricht Kiesel von einem skandalösen Text, der in seinem «perverse[n] Bekenntnis zur Lust des massenweisen Tötens mit dem Maschinengewehr» «erschreckend und abstossend» sei; er nennt den Nationalismus der zwanziger Jahre eine «grandiose Verfehlung», die aus heutiger Sicht nicht zu verteidigen sei, wie er auch den Vorwurf des Antisemitismus gegen den Artikel «Über Nationalismus und Judenfrage» (1930) für berechtigt erklärt.
Dies alles geschieht jedoch auf eine sachliche, nicht stigmatisierende Weise, die auch die Relativierungen und Revisionen kenntlich macht, die Jünger schon in den dreissiger Jahren vorgenommen hat. Auch bei der Behandlung anderer als anstössig empfundener Passagen, etwa der Hinrichtungsszene in den Pariser Tagebüchern, erweist sich Kiesel als umsichtiger Interpret, der politisch-moralische und ästhetische Gesichtspunkte gegeneinander abwägt.
Schwilks Stärke liegt dagegen mehr im Erzählen. Sein Buch widmet der Person grössere Aufmerksamkeit als dem Werk und kommt auf diese Weise dem Genre der Biografie eher entgegen als Kiesel. Die psychische Verfassung Jüngers gewinnt hier ein deutlicheres Profil: das anhaltende Grundgefühl von Fremdheit, das ihn von frühester Jugend an immer wieder zur Flucht treibt, aus der Schule, aus dem Elternhaus, aus der Armee, aus der Universität, aus der von ihm selbst gegründeten Familie, aus dem Literaturbetrieb; die korrespondierende Neigung, Zuflucht in festen Gehäusen zu suchen, die sich dann immer wieder als unbewohnbar erweisen und neue Fluchtbewegungen auslösen; die Versuche, sich durch Techniken der Vergleichgültigung, durch «Verhaltenslehren der Kälte» (Lethen) zu wappnen; und die damit verbundene Melancholie, die nicht selten in Depression umschlägt. Das wird so einleuchtend geschildert, dass es selbst für die von Jünger 1996 vollzogene Konversion zur katholischen Kirche eine andere Lesart nahelegt als bei Kiesel: nicht als Summe und Krönung eines Jahrhundertlebens, sondern als weitere Etappe dieser Fluchtbewegungen, die nur durch den Tod unwiderruflich geworden ist.
So respektabel und bewundernswert die Leistung beider Biografen ist, eine Frage bleibt am Ende offen: Warum eigentlich verlangt die Darstellung für die erste Hälfte dieses Lebens so ungleich viel mehr Raum als für die zweite? Während Schwilk der Zeit bis 1945 dreimal so viel Raum widmet wie den Jahren bis 1998, fällt die Proportion bei Kiesel noch ungünstiger aus. Von der Materiallage her ist dies nicht begründet. Bei weitem der grösste Teil von Jüngers Korrespondenz, der in Marbach lagert, stammt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, darunter umfangreiche Bestände wie der vor allem für die Nachkriegsjahre aufschlussreiche Briefwechsel mit Wilhelm Stapel oder mit einem Dr. Walter Chemnitz, mit dem Jünger in den siebziger Jahren einen Rechtsstreit führen musste.
Später Nachhall
Gewiss ist vieles in diesen Korrespondenzen uninteressant, Nachhall einer bewegteren Epoche, Veteranenaustausch, ein endloser Strom von Geburtstagsgrüssen und Todesanzeigen. Andererseits spiegeln sich in ihnen doch auch fast vierzig Jahre Bundesrepublik, mehr als Weimarer Republik und NS-Zeit zusammengenommen. Haben die Biografen dafür, was nur zu verständlich wäre, keine Kraft mehr gehabt? Ist dieser zweite Lebensabschnitt, in dem sich Jünger ganz ins Privatleben zurückgezogen hat, einfach weniger interessant als der erste, in dem er auf den Schlachtfeldern des Krieges und des Bürgerkrieges als Akteur präsent ist? Oder trifft auf diese Epoche zu, was Jünger selbst ihr 1959 in seinem Essay «An der Zeitmauer» attestiert hat: dass sich in ihr ein «Austritt aus dem historischen Raum», eine «Zerstörung der geschichtlichen Welt in ihrem herkömmlichen Sinne» vollzieht? Es ist Sache künftiger Biografen, hier die Probe aufs Exempel zu machen.
Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biografie. Siedler, München . Heimo Schwilk: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Die Biografie. Piper, München