„Religion ist nicht Privatsache“: In Berlin wollten Fundamentalchristen den Religionsunterricht per Volksentscheid aufwerten. Berlin war Vorreiter. Als die Hauptstadt den verbindlichen Ethikunterricht für alle einführte, war das die längst überfällige Angleichung an die im aufgeklärten Westen üblichen Modelle, der Abschied vom Deutschen Sonderweg der engen Verknüpfung von Staat und Kirche. Es war auch der erste Schritt in ein wirklich modernes, republikanisch-laizistisches Verständnis von Religion. Dass nämlich Religion Privatsache ist, und der Staat und die öffentlichen Schulen und Institutionen zu strikter Neutralität in religiösen Fragen verpflichtet sind, gleichgültig ob jemand an die Wiederauferstehung der Toten glaubt oder an die Sinnlosigkeit des Lebens. Schon die Uno-Kinderrechts-Charta garantiert auch Kindern Religionsfreiheit, das heißt das Recht, ihren Glauben selbst zu bestimmen und den Schutz vor dem Einfluss missionierender Glaubensgemeinschaften. Genau das wollte die  von den Mehrheiten der beiden christlichen Kirchen unterstützte Initiative „Pro Reli“ ändern, und Religion wieder als Wahlpflichtfach an  Schulen einführen,  ein Volksentscheid hat (erfreulicherweise) gerade entschieden. Mit dem Argument der Freiheit wurde die Einschränkung der Freiheit zum Religionsunterricht kaschiert, in Berlin wird also der erste (Rück-)Schritt in den Gottesstaat nicht gegangen.

Freiwillig war Religionsunterricht schon immer. Das heißt, dass im Grundgesetz die Bekenntnisfreiheit festgelegt ist, und daher jeder Schüler mit einem Schreiben des Erziehungsberechtigten an öffentlichen Schulen den Religionsunterricht abwählen kann. Im Unterschied zu anderen Bundesländern – Ausnahme Bremen und Brandenburg – lässt sich in Berlin Religion auf freiwilliger Basis als  Zusatzfach belegen, aber das Fach „Ethik“ ist ein  Pflichtfach. Genau gegen dieses Fach zielt in Wahrheit die Initiative „Pro Reli“. De facto lief ihr Vorstoß für die Einführung einer Wahlpflicht zwischen „Ethik“ und „Religion“ auf die Abschaffung des Pflichtfachs Ethik hinaus.

„Pro Reli“ – das ist Großbürger, Adel und neue Aufsteiger, CDU, FDP und schwarzgrünes Milieu

Gleichzeitig ist die Kombination auch sprechend: Großbürger, Adel und neue Aufsteiger – das ist genau das Klientel, aus dem sich die Initiative speist. „Pro Reli“ hat seine Bastionen in den Vierteln der Reichen und der Kleinbürger weit im Westen der Stadt – und am Prenzlauer Berg, wo das Neobürgertum seinen Kindern neben Biokost und ökologischem Besserverdienen auch ein wenig „Neue Werte“ predigen möchte. Die Mehrheiten für Einführung des Volksentscheids vor einigen Monaten entsprachen zudem wie bereits im Fall der Tempelhof-Schließung genau dem – insgesamt eher mäßigen – Wählerreservoir der CDU und der FDP.

„Religion ist nicht Privatsache“

Wenn „Pro Reli“ und ihre prominenten Unterstützer mit „Freiheit“ argumentieren, zeigen sie nur, dass sie nicht verstanden haben, dass Freiheit immer zwei Seiten hat: Freiheit zu etwas, und Freiheit von etwas. Zudem wird absichtlich ignoriert, dass Freiheit immer (zumindest auch) die Freiheit des Andersdenkenden ist. Freiheit wäre das gleichberechtigte Nebeneinander aller Religionen, aber auch das Nebeneinander von Religion und Agnostik und Atheismus. Freiheit wäre die Toleranz der Entscheidung zur Religion und die Toleranz der Entscheidung gegen jede Religion. Und genau die sollte jetzt aus den Angeln gehoben werden, indem Schülern und Schülerinnen mittels einer staatlich sanktionierten Schulpflicht die freiwillige Entscheidung zum Religionsunterricht genommen werden wollte. Es soll zur Aufgabe des Staates werden, was die Religionsgemeinschaften allein nicht schaffen: Den Religionslehrern die Klassen zu füllen.

„Kampagnenfähigkeit“ statt Toleranz

Ganz offenkundig sehen das auch viele Christen so. Längst hat sich eine Initiative „Christen pro Ethik“ gegründet, die ihre Kirchen in einem Offenen Brief kritisieren, und der Aktion „Pro Reli“ eine „Engführung der gesellschaftlich notwendigen Diskussion“ vorwerfen. Die Protestanten unter ihnen werfen der „Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz“ (EKBO) – konkret dem „Genossen Bischof“ Wolfgang Huber vor, die Pluralität der Meinungen in der evangelischen Gesamtkirche zu ignorieren, Meinungsvielfalt zu beschneiden und die christliche Toleranz dem Ziel der „Kampagnenfähigkeit“ und der Außendarstellung unterzuordnen. Damit erleide die innerkirchliche Demokratie Schaden. Weiter heißt es in dem Papier:

„Zu den Grundanliegen der Bibel gehört es, Trennungen zu überwinden, statt Gegensätze und Spaltungen zu vertiefen. Das Anliegen des für alle Jugendlichen gemeinsamen Ethikunterrichtes, etwas zur Integration beizutragen, sollte deshalb auch von den Kirchen mit allen ihren besonderen Möglichkeiten unterstützt und gefördert werden. Die Mitglieder der Initiative „Christen pro Ethik“ sind überzeugte Glieder ihrer Kirche. Sie teilen die Glaubensvorstellungen, die allen Christen gemeinsam sind, halten sie für wichtig und möchten sie an andere, nicht zuletzt an Jugendliche, Schülerinnen und Schüler weitergeben. Zum Hineinwachsen in den Glauben gehört nach übereinstimmender Meinung aller Christen die Freiwilligkeit. Deswegen halten wir die derzeitige Regelung für gut – Ethik gemeinsam, Religion freiwillig“.

Dass die alte Regelung erhalten bleibe und weiter verbessert wird, haben die „Christen pro Ethik“, „erfreut zur Kenntnis genommen“.

Offenkundig sehen das viele Kirchenmitglieder ähnlich. Denn parallel zur „Pro Reli“-Debatte wurde in Berlin ein signifikanter Anstieg der Kirchenaustritte von evangelischen und katholischen Christen beobachtet. Der evangelischen Landeskirche gingen Ende 2008 rund 27 Prozent mehr Mitglieder abhanden als im Vorjahr. Das katholische Erzbistum verliert seit Jahresbeginn sprunghaft Mitglieder: 77 Prozent mehr als Vergleichszeitraum 2008. Die Austrittswelle betrifft vor allem den viel stärker kirchlich engagierten Westen.

„Warum eigentlich liegt die Beweislast bei den Säkularen?“

Die klare Trennung von Staat und Religionsgemeinschaft ist ein hohes Gut. In Frankreich wäre eine solche Volksabstimmung verfassungswidrig. In Berlin teilt sie die Stadt auch in anderer Hinsicht. Die Springer-Presse kämpft, wie von vielen erwartet auf der Seite von „Pro Reli“, dies aber weniger aus inhaltlichen Gründen – dazu ist man zu nahe „bei den Leuten“, als um – wie schon beim Tempelhof-Volksentscheid – dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit und seiner Rot-Roten Koalition eins auszuwischen. Der Regierende Bürgermeister kritisierte bereits das rabiate Vorgehen der „Bild“-Redaktion: „Die arbeiten immer mit der Methode: Entweder du kooperierst, oder wir vernichten dich“, sagte Wowereit und bezog sich auf die „massive Kampagne“ des Springer-Verlags zu den Volksentscheiden.

Wer, wie was, warum -wer nicht fragt, bleibt dumm

Wenn ein Kind zu fragen beginnt, warum es so oder anders handeln soll, dann ist nicht einzusehen, dass säkulare Argumente religiösen unterlegen sein sollten. Warum eigentlich liegt die Beweislast bei den Säkularen? Warum müssen die Religiösen nicht beweisen, dass ihre religiös begründete Ethik nach wie vor taugt? … Nebenbei bemerkt: Es ist ziemlich unhöflich, den Eindruck zu vermitteln, agnostische Bürger verfügten nicht über genügend jener „Werte“, die man zu einem Leben in Anstand braucht.

Auch Alfred Grosser wurde Platz gegeben. Er erinnerte daran, dass in Frankreich Philosophie Pflichtfach für Abiturienten ist, und schrieb:
„Der Ethikunterricht mag schlecht umgesetzt werden. Aber dieser gemeinsame Blick wird durch ihn doch leichter allen Schülern zusammen verliehen – anders, als wenn sich jede Religion zu dieser Auffassung durchringen müsste.“

Überhaupt müsste das Abstimmungergebnis der FDP-Klientel am meisten Bauschmerzen bereiten. Einerseits ist man gegen Rot-Rot, und möchte gern am Rockzipfel der Union wieder in Berlin mitregieren, andererseits hatte man in der FDP mit den Kirchen und Gesinnungspolitik noch nie viel am Hut.

Die besondere deutsche Nähe zwischen Kirche und Staat hat man, wie so manches andere, wieder einmal Reichskanzler Otto von Bismarck und dem Führer und Reichskanzler Adolf Hitler zu verdanken. Erster führte zwischen 1871 und 1878 den letztlich erfolglosen Kulturkampf vor allem gegen die Katholische Kirche, in dem er Zivilehe und vor allem die staatliche Schulaufsicht durchsetzen wollte – freilich mit falschen, weil überharten Mitteln, die nur den Widerstand des Katholizismus und konservativer Protestanten anheizten und das religiöse Lager nicht wie vorgesehen spalteten, sondern festigten. Hitler wiederum schloß schon im Juli 1933 das berüchtigte Reichskonkordat mit dem Heiligen Stuhl unter Papst Pius XI. (Verhandlungsführer war seinerzeit der Apostolische Nuntius im Deutschen Reich, Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII.), mit dem er sich die Stillhaltepolitik des Vatikans und der überwiegenden deutschen Katholiken erkaufte und das de facto die Trennung von Staat und Kirche unterläuft.

Besonders in der Frage des Schulunterrichts unterscheidet sich die Regelung in den 13 von 16 Bundesländern mit Wahlpflichtfach Religion stark von der Regelung in sämtlichen anderen Ländern des demokratischen Westens: In Frankreich wurde die offizielle Trennung von Staat und Kirche zwar erst 1905 besiegelt, doch bereits seit 1882 ist der Religionsunterricht an den staatlichen Schulen verboten. In Italien war der Religionsunterricht nach der Vereinigung des Landes 1871 nur noch als freiwilliges Fach geduldet. 1929 machte ihn der faschistische Duce Benito Mussolini zur Pflicht. Nach der Befreiung des Landes vom Faschismus ab 1943 war es damit wieder vorbei. In Großbritannien hat die anglikanische Staatskirche bereits seit dem 18. Jahrhundert keinen Einfluss mehr auf die Politik, allerdings gab es bis 1988 an den Schulen den christlichen Religionsunterricht als Pflichtfach. Das ist vorbei und Religionsunterricht durch ein Wahlfach „Religiöse, philosophische und moralische Erziehung“ ersetzt, in dessen Curriculum auch Atheismus, Agnostizismus und Humanismus offizielle Bestandteile sind. Auch in Skandinavien ist der konfessionelle Unterricht längst durch das weltanschaulich neutrale Fach „Religion, Ethik, Lebenskunde“ ersetzt worden. Und in den USA ist die religiöse Erziehung schon seit 1791 aus den Schulen verbannt.

Auch in der Bundesrepublik muss man der Tatsache Rechnung tragen, dass immer mehr Bürger keiner Religionsgemeinschaft mehr angehörten. Dafür brauchen Schüler verstärkt Fähigkeiten, ethische Dilemmata diskutieren zu können. Anstelle der Verkündigung oder Information über einen bestimmten Glauben sollte daher besser die Fähigkeit zur philosophischen Auseinandersetzung und Argumentation geschult werden.

Dazu gehörte auch, zu verstehen, dass Freiheit nicht das gleiche ist, wie der Zwang sich zwischen Ethik und Religion entscheiden zu dürfen. Religion ist Privatsache, Ethik unverzichtbar. Wer auf Religion verzichten will, aber auch wer Ethik und Religion haben möchte, hat in Berlin mit Nein gestimmt – und das war eine klare Mehrheit. got

Juni 2009 | Allgemein, Feuilleton, In vino veritas, InfoTicker aktuell, Junge Rundschau, Kirche & Bodenpersonal, Politik, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren