Als ich in den Jahren 1941, 42, 43 die am Wochenende erzielten Einnahmen in die Filiale der Kreissparkasse hinübertrug – die war in dem Haus neben unserem Haus -, da war Herr Gierer, der da amtete, ein Bankbeamter. Was ich, da der Vater tot und die Mutter im Betrieb war, als Buchhalter der Firma und Familie hinübertrug, und was Herr Gierer zählte und notierte und gleich in seinem Kassenschrank versorgte, wurde immer abgezogen von den Schulden, die wir bei Lieferanten hatten. Er entließ mich mit einer Quittung und einem lippenlosen Gruß an die Mutter. Ich habe in den nächsten sechzig Jahren kein Bankmilieu mit so viel Andacht und Beklemmung betreten wie diese Kreissparkassenfiliale. Und das war natürlich keine Filiale, sondern: die Bank. Selbst der Bahnhofvorstand vis à vis, der ja auch ein Beamter war, ließ immer einen Nachbarschaftsbonus mitschwingen. Der Bankbeamte nie. Er konnte nichts machen gegen seine Feierlichkeit. Und die erfüllte ihn, weil er mit Geld umging, Geld verwaltete, weil er dem Geld näher war als wir, die vor dem Kassenschalter standen und seine Unterschrift bestaunten. Seine Handlung war die Unterschrift. Die Feder gab, wenn er unterschrieb, ein schürfendes Geräusch.

In einem 2003 erschienenen Buch las ich: „Das unternehmerische Selbstverständnis der Sparkassenvorstände hat sich insbesondere mit der Änderung ihrer Dienstrechtsstellung deutlich gewandelt. Während sie früher Beamte waren, arbeiten sie heute auf der Basis privatrechtlicher Arbeitsverträge. Der Gesetzgeber hielt die Führung der Sparkassen nach den Prinzipien des Berufsbeamtentums für nicht mehr zeitgerecht. Anders als Amtsvorsteher streben die Vorstände keine Leistungserbringung auf Kostendeckungsbasis, sondern die Erzielung von Überschüssen an.“ Aber das Spannungsfeld zwischen Kostendeckungsbasis und Gewinnerzielung hat offenbar die Sparkassen-Geschichte noch lange begleitet. Weil ich diese Institution, die mein Finanzielles jahrzehntelang behütet und gefördert hat, auch von innen kennenlernen wollte, habe ich dieses genaue und nicht nur aktuelle, sondern auch zukunftslüsterne Buch gelesen: „Die Privatisierung der Sparkassen und Landesbanken.“ Erschienen 2003. Der Autor heißt Mikko Klein. Und wenn wir jetzt in ökonomische Umstände geraten sind, in denen statt von Privatisierung öfter von Verstaatlichung geredet wird, dann zeigt das nur, dass diese Finanzkrise uns weit zurückwirft. Aber wohin? Wie kam es so weit, wie es jetzt ist? Geistesgeschichte sagt“s nicht, aber Geldgeschichte.

Idyllisch hat es angefangen. Sanfter konnte am Ende des 18. Jahrhunderts keine Lyrik tönen als die Sprache, in der die Hamburger „Ersparungscasse“ mitteilte, dass sie errichtet sei „zum Nutzen geringer fleißiger Personen beiderlei Geschlechts, als Dienstboten, Tagelöhner, Handarbeiter, Seeleute, um ihnen Gelegenheit zu geben, auch bei Kleinigkeiten etwas zurückzulegen und ihren sauer erworbenen Not- und Brautpfennig sicher zu einigen Zinsen belegen zu können, wobei man hoffet, dass sie diese ihnen verschaffte Bequemlichkeit sich zur Aufmunterung gereichen lassen mögen, um durch Fleiß und Sparsamkeit dem Staate nützlich und wichtig zu werden“. Auffallen darf einem, dass hier ein Gründungsdokument einer Bank ganz und gar den literarischen Stil der Epoche produziert, der Epoche der Empfindsamkeit. Heute eher unvorstellbar geworden, dass die Literatur zu solchen Wirkungen kommt. Und das ganze Sparkassenwesen der nächsten 200 Jahre ist auch schon enthalten in der empfindsamen Mitteillung. Ins Heutige übersetzt: Daseinsvorsorge und Gemeinnützigkeit. Die Gemeinnützigkeit konnte aber gebremst werden durch die Kaufmannsgrundsätze, nach denen gewirtschaftet werden durfte. Fast ein bisschen heuchlerisch verschämt heißen die Sparkassenleute im einschlägigen Gesetz „Musskaufleute“. Die Gewinnerzielung sollte nur ein nachgeordnetes „Unternehmensziel“ sein. Damit sind wir mittendrin in der widerspruchsreichen Entwicklungsgeschichte, man könnte auch sagen in der Dialektik der Geldwirtschaft.

Die „Musskaufleute“ waren schon durch die wie ein Naturvorgang wirkenden Entwicklungen der Finanzwirtschaft rundum, also global und lokal, gezwungen, gewinnträchtig zu denken. Dem sogenannten „Basler Akkord“, der von allen Finanzinstituten verlangte, sich mit mehr Eigenmitteln auszustatten, dem konnte nur durch mehr Gewinne entsprochen werden. Also insgesamt: Daseinsvorsorge und Besorgung öffentlicher Aufgaben hin oder her, dass Landesbanken und Sparkassen immer mehr Geschäftsbanken wurden, war durch keine Formulierungsmilde aufzuhalten. Aber in den Satzungen stand immer noch, dass Kommunen und Länder die Funktionsfähigkeit unserer „Musskaufleute“ zu garantieren haben. Einerseits Wettbewerb, andererseits unbeschränkte Ausfallbürgschaften; über allem die „Insolvenzunfähigkeit“ der öffentlichen Hand.

Mikko Klein druckt in seinem Buch einen Symposiumsbeitrag von Otto Graf Lambsdorff aus dem Jahr 1992 ab, der die natürliche Heiligkeit und die notwendige Scheinheiligkeit dieses Entwicklungsweges ausdrückt: „Die Landesbanken haben sich schon seit Jahren von den ursprünglichen Prinzipien der Sparkassenorganisation entfernt. Das Regionalprinzip gilt für sie schon lange nicht mehr. Wenn aber die Landesbanken ihre Geschäfte in dieser Form ausweiten, dann verliert das Gewährträgerprinzip seine Gültigkeit. Staatliche Daseinsvorsorge kann doch wohl kaum bedeuten, dass die Steuerzahler für Geschäfte ihrer Landesbank in Hongkong oder anderswo haften. Der Staat als Risikoträger von Bankgeschäften – diese Vorstellung mag in der Gründungszeit ihre Rechtfertigung gehabt haben. Heute ist sie überholt. Der Staat muss deshalb aus der Haftung.“

Am 19. Juli 2005 war es so weit: der Staat war heraus aus der Haftung. Dann aber die Flutwelle der oberfaulen Hypotheken aus den USA. Einige Landesbanken hat es erwischt. Aber die Sparkassen erwiesen sich, wie es ein Erfahrener ausgedrückt hat, als ein „Hort der Stabilität“. Gelobt sei die Subsidiarität, möchte man da rufen. Die Entscheidungskraft an Ort und Stelle! Überhaupt die Vielfalt, die Dekonzentration, das Einzelne bis ins Einzelste. In der bunten Bankenmisere namens Finanzkrise wird die Sparkasse, die eben aus 476 Sparkassen besteht, zur Heimstatt des Vertrauens.

Dass die Großinstitute jetzt nach dem Staat rufen, heißt, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Das Buch von Mikko Klein ist seit 2003 zu haben. Darin wird überzeugend beschrieben, analysiert und vorgerechnet – ja, auch vorgerechnet! – wie unsere „Musskaufleute“ privatisiert werden sollten. Sechs Varianten, dazu die Beispiele, wie das in England, Frankreich und Österreich passierte, und was wir daraus lernen könnten.

Wem gehören eigentlich die Sparkassen, wenn sie nicht den Kommunen „gehören“, hat dieser Wirtschaftsdenker gefragt. Und geantwortet: Letztlich sind sie „Eigentum der Bevölkerung“. Und jetzt wird“s demokratisch: 60 Millionen Sparkassenkunden erwerben die Aktien, darunter ein Potential von 375 000 Bediensteten. Das wäre die Basis einer „Teilprivatisierung der Sparkasseninstitute“, und es wäre, heißt es im Buch: „eine der größten Verkaufsaktionen in der deutschen Geschichte“. Und dafür dass mit diesen Aktien dann kein turbokapitalistisches Schindluder getrieben werden kann, sorgt der Autor mit einer genauen Verfahrensbeschreibung. Und das noch zu seinen Motiven: „Die freie Entfaltung der Individuen setzt ein Mindestmaß an persönlichem Vermögen voraus. Der Gesellschaft entgehen Innovationen und Wohlstandsgewinne, wenn viele Individuen über kein Vermögen verfügen. Eine zu starke Vermögenskonzentration ist gleichbedeutend mit einer ökonomischen Machtkonzentration, die den Wettbewerb, also das Grundprinzip der Sozialen Marktwirtschaft, gefährden kann.“ Die „permanente Ausweitung der Staatstätigkeit“, schreibt er, habe „nicht nur zu einer kritischen Lage der öffentlichen Finanzen geführt, sondern mit ihrem massiven Zugriff auf die Einnahmen der Bürger auch deren Möglichkeiten zu Eigenverantwortung und Eigeninitiative erheblich geschwächt.“

Ich bin vor ein paar Jahren romanschreibend zu dem Satz gekommen: „Der höchste menschenmögliche Zustand: Unabhängigkeit.“ Mein Romanheld hatte George Soros im Fernsehen sagen hören: Geld, um unabhängiger zu sein als andere, damit andere von ihm abhängig seien. Karl von Kahn, meine Romanfigur, will nicht, dass andere von ihm abhängig seien. Seine Botschaft: Geld, um selber unabhängig zu sein. Nur Geld macht dich unabhängig. Das ist seine Erfahrung. Und das Reden über Freiheit überlässt er anderen Fakultäten.

Dieser Roman, der auch noch „Angstblüte“ heißt, zitiert ein Beispiel aus der aktuellen Praxis: Zwei Herren von der Citigroup, immerhin der größten Bank der Welt, werfen „per Computer Staatsanleihen für 12,9 Milliarden Dollar auf den Markt. Das reißt den Wert dieser Anleihen sofort in die Tiefe. In weniger als hundert Sekunden kaufen sie 4 Milliarden der jetzt billiger notierten Anleihen zurück und haben in diesen hundert Sekunden eine Million Dollar verdient.“ Die Financial Services Authority schwieg. Die zwei Herren wurden aus dem Verkehr gezogen, dreihunderttausend Citigrouper around the globe haben ein Ethiktraining absolvieren müssen. Da wären doch längst andere Regeln fällig gewesen!

Schön, dass der Meisterspekulant George Soros, der so viele Milliarden im wilden deregulierten Wettbewerb verdient hat, jetzt nach Regulierung ruft. Nachträglich nennt er, womit soviel Geld verdient wurde, „Raubkapitalismus“. Und wie man zu einem guten Gewissen kommt, formuliert er fabelhaft: „Hätte ich es mit Menschen anstatt mit Märkten zu tun gehabt, wären moralische Entscheidungen unvermeidbar gewesen, und ich hätte nicht so erfolgreich Geld verdienen können.“

An einer Stelle bei Mikko Klein heißt es: Ein „unbeaufsichtigter Wettbewerb tendiert zur Selbstaufhebung.“ Das haben wir erlebt, das erleben wir noch.

Die Wirklichkeit wird zum Lehrstück. Und was wird gelernt? Noch mehr Staat! Beifällig wird die scharfsichtige Analyse von Karl Marx zitiert. Zu seinen Konsequenzen bekennt man sich zwar nicht, aber man kommt sich doch legitimiert vor, wieder links zu tragen.

In den Medien tobt die Amateur- Kassandra-Schau. Täglich der Bericht aus dem Börsenbordell. Und in einer arbeitsteiligen Gesellschaft gibt es natürlich auch den Misere-Opportunismus. Hochrangige machen das Schiff schlecht, auf dem sie und wir fahren, ohne auch nur den geringsten Vorschlag zur Besserung zu machen. Sie machen sich wichtig mit Apokalypse-Verschnitt. Ich finde, wer das tut, ohne Hilfreiches vorschlagen zu können, sollte von Bord gehen. Nichts hilft so wenig wie die praxislose Gesellschaftskritik. Nirgends habe ich einen so genau gebotenen Handlungsvorschlag gefunden wie jener Doktorarbeit von 2003. Unsereiner fragt sich da doch: Lesen denn die Handelnden nichts? Die Referenten?! Die Abgeordneten aller Stufen?!

Als ich dieses Buch letztes Jahr las, dachte ich immer: Hoffentlich liest das außer mir auch noch einer, der etwas machen kann. Hoffentlich ist es nicht zu spät! Hätten die Entscheidenden anno 2003 die Dissertation von Mikko Klein gelesen, hätten sie gehandelt, dann wären wir heute nicht, wo wir leider sind. Wir wären besser dran. In der Naturwissenschaft schwer vorstellbar, dass die Praxis die Forschung so vernachlässigt. Dann wären Sulfonamide und Penicillin in der Schublade geblieben.

Übrigens: In diesem zukunftversprechenden Buch steht, der Verfasser sei, als er das geschrieben habe, tätig gewesen „als Vorstandsassistent in der Sparkasse Passau“. Und er dankt „für die Freiräume“, die ihm „für die Erstellung der Arbeit gewährt wurden“. Dass er offenbar heute noch im Dienst der Sparkasse arbeitet, gehört einfach dazu. Er denkt und belegt alles aus Erfahrung. Und seine Art, Vorschläge zu machen, wirkt auffallend höflich. Dass diese Selbsterkennungsleistung unter dem Dach der Sparkasse erbracht werden konnte, das spricht sehr für diese Institution.

Jetzt noch eine dem Niveau dieser Einsichten entsprechende Handlungsfähigkeit, dann könnte man in absehbarer Zeit die heutige Misere abhaken als einen Evolutionsschub in der von solchen Schüben lebenden Sparkassengeschichte. 60 Millionen Aktionäre, das ist eine Utopie, aus der etwas werden muss.

Ich bitte um Verständnis, wenn ich jetzt noch anmerke, dass ich, ausgestattet mit mehr Bedürfnis als Praxis, dass ich doch auf der Spur war, die weg vom Staat und hin zur Volksaktie führt, die bei Mikko Klein natürlich S-Aktie heißt. In dem schon erwähnten vom Geldwesen erzählenden Roman muss am Ende, dass es weitergehen kann, ein junger Mann gefunden werden. Der stellt sich vor, sagt seine Philosophie auf, die mündet in den Kernsatz: „Inzwischen habe das Anlegen zum Glück das Sparen so gut wie abgelöst.“ Dann wird doch noch alles gut.

Der vorstehende Text ist der leicht gekürzte Beitrag des Schriftstellers Martin Walser zu der Festschrift „200 Jahre Sparkassen“. Das Jubiläum wurde am gestern (Dienstag, 16. 06) vom Deutschen Sparkassen- und Giroverband mit einem Festakt im Berliner Konzerthaus gefeiert.

Juni 2009 | Allgemein, Feuilleton, Zeitgeschehen | Kommentieren