Auf dem Datenhighway des Bundestags ist zurzeit die Hölle los. Auf den Seiten des Petitionsausschusses, wo sich sonst nur ein paar einsame Politikjunkies tummeln, hat sich in den letzten sechs Wochen eine riesige Protestwelle formiert. Über 130 000 Bürger haben sich dort bis heute an einer der größten Online-Eingaben in der Geschichte des Parlaments beteiligt. Dabei geht es nicht etwa um die üblichen Wahlkampfschlager wie Steuer, Mindestlohn oder Arbeitsmarkt. Vielmehr geht es um das Internet selbst. Oder, genauer gesagt, darum, wie viel Freiheit seinen Usern zugebilligt wird.
Denn die Koalition plant unter Federführung von Familienministerin Ursula von der Leyen die Zensur im Internet. Diese Woche wird der Bundestag ein Gesetz beschließen, das die Informations- und Meinungsfreiheit des Einzelnen massiv bedroht und das demokratische Gemeinwesen und die freie Bürgergesellschaft in ihrer jetzigen Form in Frage stellt. Mit der Online-Aktion „Keine Indizierung und Sperrung von Internetseiten“ wollten viele Bürger das Vorhaben in letzter Minute verhindern – wohl ohne Erfolg.
Es ist ein heikles Thema. Vordergründig geht es der Koalition um den Kampf gegen Kinderpornografie. Dieses Anliegen ist richtig und wichtig, und es ist die Aufgabe der Politik, Missbrauch zu unterbinden, wo sie es kann. Ministerein von der Leyen aber tut das mit den völlig falschen Mitteln. Ihr Gesetz zur Sperrung kinderpornografischer Internetseiten ist nach übereinstimmender Meinung fast aller Fachleute in der Praxis völlig untauglich. Für findige User ist es ein Leichtes, die Sperren zu umgehen. Für die Anbieter ist es kein Problem, die fraglichen Websites auf andere Server zu spiegeln oder ins Ausland zu verlagern. Am Ende könnten die Sperren Straftätern sogar nutzen. Denn Experten könnten sich ohne allzu großen Aufwand aus dem Netz eine Liste von gesperrten Seiten herunterladen – und diese dann über Umwege als eine Art „Einkaufsliste“ weitervertreiben. Bei der Sperrung rechtsextremer Webseiten in Nordrhein-Westfalen hat sich zudem gezeigt, dass durch die Aktion am Ende sogar mehr Besucher angelockt wurden.
Auch wenn die SPD im letzten Moment das Allerschlimmste verhindern konnte: Von der Leyens Gesetz ist ein Placebo für ansonsten ratlose Politiker. Sie alle erwecken nun in der Öffentlichkeit den Anschein, als unternähmen sie etwas gegen Kinderschänder. Dabei sind sie in den Weiten des Webs ziemlich hilflos. Die Verbreitung gedruckter pornografischer Materialien können sie nicht verhindern, ebenso wenig das Brennen von Videos. Das Gesetz lässt auch völlig außer Acht, dass der überwiegende Teil der Täter aus den Familien oder aus dem näheren Umkreis der Opfer kommt – und die brauchen dafür nun wahrlich kein Internet.
Mit ihrem blinden Aktionismus nimmt die Koalition aber in Kauf, dass das freie Internet immer mehr in Gefahr gerät – und zwar besonders für unerfahrene und unbescholtene Bürger. Zwar wird das Gesetz zunächst befristet. Der Dammbruch aber ist da: Die Regierung baut jetzt eine Zensurinfrastruktur auf, die man jederzeit ausweiten kann. Die mögliche Liste ist lang: Warum nicht auch gewalttätige Filme verbieten? Oder sonstiges angeblich anstößiges Material? Längst wird in der Politik schon darüber diskutiert, wie man sich das neue System sonst noch zu Nutze machen könnte. Oft nur hinter vorgehaltener Hand. Immer öfter aber auch ganz ungeniert. Bildungsministerin Annette Schavan etwa hat Gewaltseiten im Visier. Die hessische Landesregierung Glücksspiele. Der CDU-Abgeordnete Thomas Strobl Killerspiele.
Irgendwann sind auch missliebige Meinungsäußerungen dran. Der Weg zur Diktatur ist dann nicht mehr allzu weit. Nicht zufällig sehen die Regierenden in Ländern wie China oder – ganz aktuell – auch im Iran im Netz die größte Gefahr für ihren Machtanspruch. Auch für selbst ernannte Moralapostel oder sonstige religiöse oder ideologische Eiferer ist das Web ein Graus. Denn es schafft eine bislang beispiellose Vielfalt, Transparenz und Nähe zwischen Menschen, die sonst nicht zueinander gefunden hätten. Das Internet eröffnet eine neue Dimension der Freiheit, die es so bislang nicht gegeben hat.
Natürlich birgt Freiheit immer auch die Möglichkeiten des Missbrauchs. Das ist in einer freien Gesellschaft generell so und gilt selbstverständlich auch für das Internet. Manches, was im Netz steht, ist tatsächlich unseriös, betrügerisch oder sogar illegal. Dagegen hilft vor allem Aufklärung, Prävention und im Zweifel das Strafrecht. Übrigens auch beim Thema Kinderpornografie. Warum etwa werden die Gelder für Präventionsarbeit oder Beratungsstellen immer wieder gekürzt? Warum werden bei den Ermittlungsbehörden regelmäßig Stellen abgebaut? Warum schauen viele weg, wenn das Nachbarkind verprügelt wird? Das sind Fragen, die sich Ministerin von der Leyen einmal stellen sollte. Stattdessen öffnet sie der Internetzensur mit einem überzogenen Gesetz Tür und Tor. Es ist gut, dass sich immer mehr Menschen dagegen wehren.