„Der Zwischenruf  – wird immer mal wieder gesagt, sei ein maskulines Element. Früher wurde im Parlament scharf geschossen. Heute aber riskiert kaum jemand einen Ordnungsruf. Wie dem Bundestag das Wilde abhandenkam. Und überhaupt …

Frauen können besser flüstern - sind sie doch (in der Regel) - nicht maskulin

Im Krieg geht es um Entwaffnung des Gegners. Im Parlament auch, allerdings mit zivilen Mitteln. Eine Geheimwaffe ist (war, es sei beklagt) der Zwischenruf, der als demokratisches Schrapnell eine Sitzung erst zur Debatte macht. Manchmal, das sei eingeräumt, dient er auch einfach nur dazu, den Redner aus dem Konzept zu bringen und vor dem Plenum bloßzustellen. Sogar die Titanen der Redekunst waren davor nicht sicher. Norbert Blüm, ein leidenschaftlicher Zwischenrufer, erinnert sich daran, wie Helmut Schmidt in seine Reden endlose Kunstpausen einbaute: „Der war ein begnadeter Ableser.“ Einmal rief Blüm in eine Schmidtsche Pause hinein: „Guck aufs Blatt!“ Großes Gelächter, und des Kanzlers Rede war ruiniert.
Aber Zwischenrufe sind mehr als Unbotmäßigkeiten am Rande einer Sitzung. Sie beweisen, dass ein Parlament lebt – es war einmal. Heute lesen Jungpolitiker ihre Reden ab und werden vom Präsidium dafür gelobt, dass sie die Redezeit nicht überzogen haben. – wie gerade eine Jungpolitikerin von der Piercingbrigade der Grünen, eine der angeblich jungen Wilden. „Zu den alten Zahmen ist es ein kurzer Weg“, sagt Norbert Blüm. Bundestagsdebatten seien heute eine Aneinanderreihung von Presseerklärungen. „Da fehlt der Saft.“

Man kämpfte bis aufs Blut, nutzte aber klassisches Bildungsgut.

Nach dem Krieg entwickelte sich der Zwischenruf zur hohen Kunst. Manche Redner liefen, angestachelt durch Einwürfe, erst richtig zur Hochform auf. Konrad Adenauer lieferte sich damals einen Stellungskrieg mit dem Kommunisten Heinz Renner. So sagte der Kanzler einmal: „Das Grundgesetz, an dem ich ja auch mitgearbeitet habe …“ Darauf  Renner: „So sieht’s auch aus.“ Adenauer: „Sie haben doch auch mitgearbeitet.“ Renner: „Ich habe es abgelehnt.“ Adenauer: „Ich möchte doch hier zur Ehre des Herrn Kollegen Renner feststellen, dass er in den Ausschüssen sehr nett und fleißig am Grundgesetz mitgearbeitet hat.“ Renner: „Um ihm einige Zähne auszubrechen.“ Darauf der Sozialdemokrat Carlo Schmid: „Die sind nur plombiert.“
Die Lust am Schlagabtausch verband in der ersten Legislaturperiode sogar die verfeindeten Lager, denn sie setzte nicht nur Improvisationstalent voraus, sondern auch ein verwandtes Temperament. Adenauer und Renner waren einander freundschaftlich zugetan, was Renner nicht davon abhielt, den Bundeskanzler einmal mit (schon stark gewöhnungsbedürftig) „Heil Adolf Adenauer!“ zu grüßen.
Normalerweise warf man sich in der Nachkriegszeit aber Goethe-Verse oder Hegel-Zitate an den Kopf. Die Abgeordneten redeten mit den Romantikern, wüteten mit Strophen alter Soldatenlieder. Man kämpfte bis aufs Blut, nutzte aber klassisches Bildungsgut. Carlo Schmid zum Beispiel hielt einmal folgende Suada über seinen Vorredner: „Der Abgeordnete Becker hat in einer recht balladesken Weise von dem ,Donner der Kanonen‘ gesprochen, der unsere Debatte begleitet habe. Er hat die Schlacht von Valmy bemüht. Vielleicht hätte er auch von dem Donner der Kanonen sprechen können, von dem Don Basilio im Barbier von Sevilla die Arie singt. Sei dem, wie ihm wolle, offensichtlich hat ihm dieser Kanonendonner das Gehör verschlagen, sonst hätte er nämlich unseren Sprecher nicht so verstehen können, wie er ihn verstanden hat.“
Der Sieger bewies Intelligenz, Schnelligkeit und gute Nerven

Trotz dieser Blüte der Debattierkunst erlebte die junge Republik auch Rückfälle in die Methoden der zwanziger Jahre. Als das ehemalige NSDAP-Mitglied Wolfgang Hedler wegen antisemitischer Hetze aus dem Bundestag ausgeschlossen wurde und sich trotzdem Tage später im dortigen Herrenruheraum aufhielt, warfen Herbert Wehner und ein Genosse Hedler zuerst durch eine geschlossene Glastür und prügelten ihn dann aus dem Parlament.

Beim Zwischenruf aber geht es um den gewaltfreien Machtkampf. Der Sieger beweist Intelligenz, Schnelligkeit und gute Nerven. Manchmal ist es aber auch nur eine Frage der Stimmbänder. Der Abgeordnete Alfred Loritz sagte einmal: „Wenn ich nicht zufällig ein gutes Sprachorgan hätte, würde ich mich schon rein stimmenmäßig gegenüber Ihrem konzentrischen Hereinschreien gar nicht durchsetzen können.“ Daraufhin der junge Franz Josef Strauß: „Der eine hat’s im Hirn, der andere im Hals!“ Und wieder Loritz: „Ja, Sie sind einer der Hauptschreier, Herr Strauß.“
Zwar verteilten die Präsidenten des Bonner Parlaments massenhaft Ordnungsrufe, doch die wurden wie Trophäen gesammelt. Auf „gröbliche Verletzung der Ordnung“ stand Saalverweis. Für eine Sperre von vollen dreißig Sitzungstagen genügte es, dass ein KPD-Abgeordneter den Parlamentskollegen vorwarf, mit den „Spionageorganisationen der Besatzungsmächte zusammenzuarbeiten“. Zwanzig Tage Ausschluss bekam Kurt Schumacher für den berühmtesten Zwischenruf dieser Zeit: „Der Bundeskanzler der Alliierten!“, hatte er während einer Adenauer-Rede ausgerufen. Einige Tage später bat Schumacher den Kanzler um Entschuldigung, sein Sitzungsausschluss wurde zurückgenommen. Trotzdem hallte der Zwischenruf noch lange nach, als Echo auf Adenauers geheime Politik, die nie offenbarte, wie sehr er mit den Alliierten gerungen hatte.

Der Meister der maßgeschneiderten Gemeinheiten

Weniger Empörung verursachten die alltäglichen Klassiker unter den Zwischenrufen: Hört, hört! Sehr richtig! Sehr wahr! Dolf Sternberger, Mitbegründer der deutschen Politikwissenschaft, beschrieb diese Standardformeln 1952 in der Zeitschrift „Die Gegenwart“ so: „Sie sind von Haus aus dazu bestimmt, politische Enthüllungen oder Urteile kollektiv mit Pauken- und Beckenschlägen zu untermalen, Fronten hörbar zu machen, die Schlachtreihe durch ein wohltuendes und sich rasch fortpflanzendes scharfes Feldgeschrei zu wecken und zu schließen und den Gegnern Angst einzuflößen.“

König der Zwischenrufer war in der Bonner Republik zweifelsohne Herbert Wehner, der auch bei den Ordnungsrufen den Rekord hält. In drei Jahrzehnten als Abgeordneter schuf er sich einen einzigartigen Schimpfkatalog – der ihn fast unangreifbar machte, denn wer in Wehners Feuerlinie geriet, musste wie die Abgeordneten Todenhöfer („Hodentöter“), Wohlrabe („Übelkrähe“) oder Schneider („Ehrabschneider“) mit maßgeschneiderten Gemeinheiten rechnen. Viele Eltern sollen zu Wehners Zeiten den Fernseher abgeschaltet haben, wenn Kinder im Raum waren.

Dieses Erbe trat dann Joschka Fischer an, der nach Wehners Ausscheiden im Jahr 1983 in den Bundestag gewählt wurde. Norbert Blüm, der den Einzug der Grünen miterlebte, bescheinigt der Partei, ein „neues Sprachspektrum“ eingebracht zu haben, das „von niedlich bis aggressiv“ reichte, aber, anders als die Wehnerschen Spitzen, nicht auf den Punkt gebracht. „Das war vielmehr ein entrüstetes Durcheinanderschreien.“ 1984 rotzte Fischer Vizepräsident Stücklen, nachdem dieser ihn mit dem dritten Ordnungsruf des Sitzungssaals verwiesen hatte, den inzwischen geflügelten Satz entgegen: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.“ Als die Grünen „anders“ wurden, übernahmen die Linken Zeitweilig) deren Rolle.

Aber da hatte der Niedergang des Zwischenrufes schon eingesetzt. Während in der ersten Legislaturperiode noch 159 Ordnungsrufe verteilt wurden, waren es in der letzten nur noch fünf. Die Präsidenten, die früher mit Rügen schnell bei der Hand waren, sind heute eher Moderatoren, die erst einmal nachfragen, ob man sich nicht entschuldigen wolle.

Twitterprosa statt rhetorischer Maschinengewehrsalven

Vielleicht liegt die Zähmung des Parlaments ja am Umzug aus der Bonner in die Berliner Republik. Das katholische Rheinland zankte leidenschaftlicher als das protestantische Preußen. Aber womöglich ist auch einfach nur die Architektur schuld. „Der Berliner Plenarsaal ist kein Ort des Dialogs“, findet Blüm, „sondern verleitet zum Kundgebungsstil.“ Durch die Größe des Reichstags entstehe Distanz, man verstehe am Rednerpult kaum, was jemand in den hinteren Reihen rufe.
Aber auch die erste deutsche Bundeskanzlerin hat einen neuen Ton vorgegeben. Der Zwischenruf, meinte sie einmal) sei ein maskulines Instrument, mit dem Rangordnungen festgelegt und Konkurrenten ausgestochen würden. Und so liegt sein Verschwinden wohl auch daran, dass die Republik unter Angela Merkel weiblicher – aber deshalb auch sachlicher? geworden wäre. Ob sich aber so wohl auch ein Stammtisch zähmen läßt? Den Plenarsaal jedenfalls haben die „Rabauken“ geräumt, einen Schimpfbolzen wie Wehner sucht man heute vergeblich. Für das rhetorische Maschinengewehr Oskar Lafontaine rückte eine 25 Jahre alte Studentin nach, von der man nur hoffen kann, dass sie interessantere Dinge einwerfen wird, als ihre Twitter-Kurzprosa vermuten lässt.

Kreative Wortschöpfungen wie „Nadelstreifenrocker“ für Joschka Fischer wurden schon länger nicht von den Stenographen notiert. Nicht einmal handelsübliche Sprichwörter bekommen die Abgeordneten noch korrekt über die Lippen. „Nägel vor den Köpfen“ attestierte beispielsweise Brigitte Pothmer von den Grünen kürzlich der Unionsfraktion. Und man kann gewiss nicht mehr von einem intellektuellen Florettfechten sprechen, wenn die Unionsabgeordnete Bär sagt: „Es wäre wichtig, dass auch die Oppositionsfraktionen positive Signale aussenden. Denn Kinderkriegen fängt im Kopf an.“ Worauf dann der Liberale Barth ruft: „Das müssen wir noch vertiefen!“ Und wieder Bär: „Ich erkläre es Ihnen nachher noch einmal persönlich.“

Aber solche Sternstunden der Rhetorik bekommt außerhalb des Parlaments kaum noch jemand mit. In der Tagesschau landen höchstens die wohlpräparierten Zwanzig-Sekunden-Statements der Fraktionsspitzen. Spontane Geistesblitze braucht niemand mehr. Carlo Schmid hätte heute kaum noch Anlass für seine Drohung: „Machen Sie bitte keine Zwischenrufe, sonst antworte ich Ihnen.“ Lydia Harder
Aber, Sch(m)erz beiseite, man(n) und frau können sich ja auch aufs Flüstern einigen …

… und darauf, „besonders rücksichtsvoll miteinander umzugehen: Leute ausreden lassen (denn um zu unterbrechen muss man laut werden), alle Diskussionen sachlich und ohne Spott und Beleidigungen führen, wer von seinem Auftreten sehr selbstsicher und dominant ist, sollte sich da auch etwas zurücknehmen, um auch schüchterne Leute zu Wort kommen zu lassen.

Mai 2009 | Allgemein, Essay, Zeitgeschehen | Kommentieren