Der Theologe Hans Küng erlebt mit eigenen Augen die Demenz seines Freundes Walter Jens: Küng wohnt in Tübingen nur drei, vier Minuten von dem legendären Rhetor entfernt, der nun verwirrt ist. In seinem Beitrag erinnert Küng daran, dass Jens und er vor Jahren ein Plädoyer für die aktive Sterbehilfe gehalten haben. Es erschien gerade in aktualisierter Form unter dem Titel „Menschenwürdig sterben“ bei Piper zusammen mit einer Bestandsaufnahme von Inge Jens, in der sie ihre Erfahrungen mit der Krankheit ihres Mannes schildert.
Ehrfurcht vor dem Leben“ – dieses Grundelement eines Menschheitsethos gilt vom Anfang des Menschenlebens bis zu seinem Ende. Doch zum Leben gehört auch das Sterben. Und wie das Leben sollte auch das Sterben menschenwürdig sein. Wie kann der Mensch auch im Sterben seine Würde bewahren? Viele Facetten dieser Frage wären hier zu beleuchten. Doch spitzt sie sich in der heutigen Situation unausweichlich zu auf die Problematik der Hilfe zum Sterben. Dass das Leben eine Gabe des Schöpfer-Gottes ist, stellt für gläubige Menschen wie mich eine Selbstverständlichkeit dar. Dass das Leben aber zugleich eine gottgegebene Aufgabe des Menschen ist, die er möglichst bis zur letzten Phase seines Lebens selbstverantwortlich wahrzunehmen hat, sollten heute gerade gläubige Menschen ebenfalls nicht bestreiten.
Mein Freund, der große Rhetor Walter Jens, lebt noch unter uns und mit uns, aber eingeschlossen in seine eigene Welt. Zum ersten Mal erlebe ich solches aus der Nähe: diese Art des Absterbens des Hirns mit verheerenden Folgen. Es ist mit diesem großen Mann des Wortes kaum noch eine geistige Kommunikation möglich, allerdings eine emotionale, etwa wenn ich ihm seine geliebte Schweizer Schokolade bringe, und er lächelt.
Was er in unserem gemeinsamen Buch „Menschenwürdig sterben. Ein Plädoyer für Selbstverantwortung“ das Fazit nennt, ist für ihn persönlich nicht in Erfüllung gegangen: „Die Poesie, deren Wesen es ist, in Gleichnis und Bild eine ars vivendi zu lehren, sollte entschiedener als bisher die Partei jener ergreifen, die jenes fünfte Recht der Kranken und Sterbenden ins Blickfeld rücken, das Recht, nicht leiden zu müssen, sondern in Frieden und Würde sterben zu können. Millionen von Menschen könnten, wie Hans Küng und ich, gelassener ihrer Arbeit nachgehen, wenn sie wüssten, dass ihnen eines Tages ein Arzt zur Seite stünde: kein Spezialist, sondern ein Hausarzt wie Dr. Max Schur es war, einer der bewundernswertesten Männer dieses Jahrhunderts, der nicht zögerte, seinem Patienten Sigmund Freud die tödliche Morphium-Dosis zu geben …“
Am Anfang seiner Krankheit antwortete er auf meine Frage: „Wie geht es dir, mein alter Freund?“ mit den Worten: „Schlecht. Es ist schrecklich. Ich möchte sterben.“ Ich fühlte mich rat- und machtlos. Ihn in seinem offensichtlich ernsthaften Todeswunsch zu bestärken, sah ich nicht als meine Aufgabe an, und eine praktische Erfüllung seines Wunsches ist ja mangels einer adäquaten legalen Alternative in Deutschland schwierig. Zur gleichen Zeit hörte ich von einem Arzt in der Nähe, dass er, der Arzt, bei drei oder vier ihm bekannten Apothekern kleine Mengen von todbringenden Medikamenten kaufte, um seiner seit langem schwer leidenden Mutter zu dem von ihr gewünschten menschenwürdigen Sterben zu verhelfen; noch immer hat er Angst, vielleicht doch noch entdeckt und vor Gericht gestellt zu werden.
Viele Wochen war Walter Jens bei Besuchen – er wohnt nur drei, vier Minuten entfernt – kaum ansprechbar. Und jedes Mal war ich froh, dass Frau Inge Jens dabeisaß und ich so vor allem mit ihr sprechen konnte, ihn nur von Zeit zu Zeit ins Gespräch einbeziehend, um bestenfalls einzelne Worte als Antwort zu erhalten. Zurück von einer längeren Auslandsreise, höre ich von seiner Frau, Walter sei seit zwei Tagen wieder merkwürdig aktiv geworden und gehe im Haus selbständig auf und ab. Und so sage ich ihm denn bei meinem Besuch, meine Hand am Tisch auf seine legend: „Es geht dir ja wieder etwas besser, Walter.“ Doch seine Antwort kommt hervorgestoßen: „Nein, nein. Es ist schrecklich. Ich möchte sterben.“ Dann fragt er ohne jeden Zusammenhang nach seiner Mutter, als wenn sie noch am Leben wäre. Doch später plötzlich wieder: „Ich müsste schon lange tot sein. Ich möchte sterben.“
Ein „intervallum lucidum“, eine „lichtvolle Zwischenzeit“? Offensichtlich möglich bei dieser Form der vaskulär (von den Blutgefäßen im Gehirn) bedingten Demenz, aber ohne Aussicht auf Heilung. Auch wenn ich mir nichts anmerken lasse: Mich erschüttert der Zustand meines Freundes, seine sowohl hilflosen Sterbe-Appelle als auch seine Angst zu sterben.
Ein mehrfacher Appell
Und die Tatsache, dass ich so gar nichts für ihn tun kann. Ich bewundere es, wie tapfer und verständnisvoll die Frau meines Freundes diese tragische Situation durchzustehen sich bemüht und alles tut, um ihm das Leben so erträglich wie möglich zu machen. Sie wird von einer Pflegerin unterstützt, die sich ihm auch menschlich verbunden fühlt. Deutlicher als früher ist mir jetzt bewusst, dass man angesichts eines Menschen, der keine körperlichen, sondern nur seelische Schmerzen erfährt, sich nicht befugt sehen kann einzugreifen, ja, dass unter Umständen nichts anderes übrigbleibt, als den Lauf des Geschehens einer anderen, höheren Instanz anheimzustellen.
Zur Versachlichung der aktuellen Sterbehilfe-Diskussion, in der es doch in erster Linie um die Menschenwürde alter, kranker, pflegebedürftiger und sterbebereiter Menschen gehen sollte, hier ein mehrfacher Appell:
Ein Appell zuerst an die Juristen: Sie mögen ihre lobenswerten Bemühungen um mehr Patientenautonomie fortsetzen und sich verstärkt für gesetzliche Regelungen im Zivil- wie im Strafrecht einsetzen. Patientenverfügungen sollten von allen Instanzen unbedingt respektiert werden. Dann sollte für die Sterbehilfe (auch gegenüber Missbrauchsgefahren) Rechtssicherheit geschaffen werden, um nicht zuletzt den Ärzten die Furcht vor Strafverfolgung zu nehmen.
An die Ärzte und Politiker
Ein Appell an die Ärzte: Viele Ärzte bemühen sich ernsthaft, im konkreten Fall angesichts der völlig unsicheren Rechtslage auf eigenes Risiko eine humane Lösung zu finden. Sie mögen den Mut aufbringen, offen zu diskutieren, wie es um die ärztliche Sterbebegleitung wirklich steht, was sich alles in Grauzonen abspielt und wie nicht nur Patienten mit guten Privatkontakten oder dickem Geldbeutel, sondern allen Patienten zur Selbstbestimmung verholfen werden könnte. So würden auch jene Ärztefunktionäre, die sich gegen verbindliche Patientenverfügungen und gesetzliche Regelungen der Sterbehilfe wehren, zur konstruktiven Zusammenarbeit mit Justiz und Politik bewegt werden, damit den Sterbenden so weit wie möglich die Menschenwürde der letzten Entscheidung erhalten bleibt. Lehrstühle für Palliativmedizin sollten vermehrt geschaffen, alle angehenden Ärzte in Palliativmedizin unterrichtet und noch mehr Palliativstationen in den Krankenhäusern und Hospize eingerichtet werden.
Ein Appell an die Politik: Die Parlamentsabgeordneten mögen allen Druckversuchen widerstehen und humanere Sterbehilfegesetze, wie von der Großzahl der Bürgerinnen und Bürger gewünscht, nicht länger hinauszögern. Auf die Schaffung neuer juristisch anfechtbarer Strafrechtsparagraphen für ein Verbot von Sterbehilfeorganisationen wird man besser verzichten und stattdessen zügig gesetzliche Regelungen zunächst einer streng verbindlichen Patientenverfügung (außer sie würde ausdrücklich widerrufen) auf den Weg bringen. So würde nicht nur für die Ärzte, sondern auch für die Patienten und ihre Angehörigen mehr Rechtssicherheit geschaffen.
Die Kunst des Sterbens
Ein Appell aber auch an die Kirchen: Kirchenleute und Theologen aller christlichen Konfessionen mögen nicht in Schwarzweißmalerei ein angeblich „christliches Menschenbild“ gegen ein „weltlich-humanistisches“ ausspielen und theologische Pseudoargumente gegen die Selbstverantwortung des Menschen in seiner letzten Lebensphase weiterkolportieren. Generalisierungen („Was wäre, wenn alle…“) sind ebenso zu vermeiden wie der Sachfrage ausweichende, allzu emotionale Erwägungen und Leidensverklärung.
Ein Appell schließlich an die Medien: Gewiss sollen die Missbräuche der Sterbehilfe durch Einzelne (Profitstreben, Geltungssucht, Tötungsmaschine) oder Organisationen (bei kommerziellem Verhalten) gebrandmarkt werden. Doch mögen auch die Medien unangemessene Sprache (Selbst-„Mord“) sowie verallgemeinernde Unterstellungen („Ökonomisierung des Todes“, „Sterbetourismus“) vermeiden und nicht jeden Skandalfall zu einem prinzipiellen Argument gegen Sterbehilfe hochspielen, vielmehr den Problemen auf den Grund gehen.
Vor allem aber soll dem einzelnen Menschen angesichts der oft verdrängten letzten Fragen der menschlichen Existenz die Anregung zu einer „Ars moriendi“, einer „Kunst des Sterbens“, gegeben werden, um ohne irreführende Illusionen und unnötige Ängste über den Tod und die Konsequenzen für ein Leben davor und danach nachzudenken.