Der britische Musikkonzern EMI hat  bekanntgegeben, bei der Internet-Distribution von Musik auf Kopierschutzmassnahmen zu verzichten. Schafft die Unterhaltungsindustrie nun doch noch den Übergang ins Informationszeitalter? Zweifel sind angebracht.
„Welche Musik würden Sie mitnehmen auf eine einsame Insel?“ – Diese Frage war einst geeignet, um Denken und Fühlen eines Menschen zu ergründen. Heute provoziert sie nur Stirnrunzeln. Immerhin lässt diese Frage deutlich werden, wie sehr sich in jüngster Zeit das Musikhören verändert hat. Welche Musik für die einsame Insel? Alles! Ein kleines Gerätchen in der Grösse einer Streichholzschachtel, das zigtausend Songs speichert, ein Apparätchen mit Antenne, das über Wireless-Broadband-Verbindungen Kontakt herstellt zur himmlischen Jukebox, einem weitverzweigten Computernetzwerk, in dem jeder erdenkliche Song innerhalb von Sekunden aufgespürt und angespielt werden kann.

Bits im Trockenen

Es gibt nun aber im Innern dieser himmlischen Jukebox Turbulenzen, Störfaktoren, Misstöne: Es gibt Kopierschutzmechanismen. Die Unterhaltungsindustrie möchte Musik verkaufen, ohne sie ganz aus der Hand zu geben, sie möchte mit einem Partner verschlüsselte Botschaften austauschen, der gleichzeitig als Gegner eingeschätzt wird. In der Geschichte der Kryptologie ist diese Übungsanlage ohne Beispiel, es ist schwer vorstellbar, dass ein solches Vorhaben technisch realisierbar ist. Wolfgang Laier (enterra Walldorf), ein prominenter Experte für Computersicherheit, hat bereits 2001 ausführlich und eingängig über die Vergeblichkeit aller Kopierschutzmassnahmen geschrieben: Man könne das Kopieren von Bits ebenso wenig verhindern, wie man Wassertropfen davor bewahren könne, nass zu werden.
Den Vormarsch der Digitaltechnik in der Unterhaltungselektronik konnte die Unterhaltungsindustrie während vieler Jahre bremsen, der PC-Revolution und dem Internet-Boom hatte sie aber vorerst nichts entgegenzusetzen. Es sei nicht Aufgabe der Computerbranche, das veraltete Geschäftsmodell der Unterhaltungsindustrie zu stützen, erwiderte Intel-Verwaltungsrat Andre Grove barsch auf Avancen von Michael Eisner, Chef der Walt Disney Company. Doch kurz darauf debütierte Apple im Geschäft mit Unterhaltungselektronik und begann mit dem Verkauf eines iPod genannten mobilen Musikwiedergabegeräts. Zwei Jahre später begann die Firma, deren Chef heute als grösster Einzelaktionär dem Verwaltungsrat von Disney angehört, mit dem Verkauf von Songs über das Internet. Microsoft folgte Apple bei dieser Geschäftsidee, und bald betrachteten viele der besten Programmierer der bedeutendsten Computerfirmen die Entwicklung von Kopierschutzmechanismen als vordringliche Aufgabe.
Vor rund zwei Monaten hat nun aber der Chef von Apple, Steve Jobs, die Musikindustrie aufgefordert, auf Kopierschutzmassnahmen zu verzichten. Und kürzlich hat der britische Musikkonzern EMI bekanntgegeben, über den iTunes Music Store von Apple künftig auch Musik ohne Kopierschutz anbieten zu wollen. Das weckte Hoffnungen, dass auch weitere Major Labels sich vom Kopierschutz verabschieden würden. Doch für diesen Aufbruch – den zahlreiche Independent Labels längst unternommen haben – sind die Grossen der Unterhaltungsindustrie offenbar noch nicht bereit.
So geht das Katz-und-Maus-Spiel zwischen der Unterhaltungsbranche und ihren Kunden weiter. Jüngster Schauplatz des Geschehens sind die neuen DVD-Formate. Um Inhalte auf HD-DVD- und Blu-Ray-Scheiben zu schützen, haben Intel, Microsoft, Panasonic, Sony, Toshiba, Disney und Warner unter dem Namen Advanced Access Content System (AACS) ein überaus kompliziertes, mehrstufiges Kopierschutzsystem entwickelt. Zu den Besonderheiten dieses Systems gehört, dass einzelne Elemente, sollten sie sich als zu schwach erweisen, auch im Nachhinein ausgewechselt werden können. Auf jeder DVD-Scheibe wird eine Liste publiziert mit Informationen zu Geräten, die nicht mehr vertrauenswürdig sind. Sobald ein Wiedergabegerät auf diesem Weg erfährt, dass es an der Reihe ist, wird es den Dienst verweigern.

Kopierschutzknackersuite

Wie es scheint, setzen derzeit viele der besten freischaffenden Programmierer alles daran, AACS auszuhebeln. Offenbar mit Erfolg: Erstmals sah sich diese Woche AACS License Administrator, die Organisation, die hinter AACS steht, gezwungen, Wiedergabegeräte zu deaktivieren. Gemäss Medienberichten ist es aber Hackern gelungen, anhand eines HD-DVD-Players von Toshiba zu zeigen, dass sich ein Gerät gegen seine Deaktivierung immunisieren lässt.
Was für die Hacker Sport ist und Spass, ist für naive Konsumenten gefährlich. Sie müssen sich wappnen, müssen ein bisschen Hacker sein, um auf ihre legal erworbene Musik- oder Filmsammlung stets zugreifen zu können, müssen sich Kenntnisse des Immaterialgüterrechts aneignen: „Häufig sind die Konsumenten überfordert und tappen leicht in Fallen“, heisst es in einer Mitteilung, welche die Schweizerische Stiftung für Konsumentenschutz diese Woche veröffentlicht hat, zusammen mit einer „Handlungshilfe“ für den legalen Umgang mit digitaler Musik: CD-Brennen ist legal, selbstgebrannte CD in kleinen Stückzahlen verschenken ist legal, Kopierschutz knacken für die Herstellung einer Privatkopie ist legal, Musik aus dem Internet gratis herunterladen ist – höchstwahrscheinlich – ebenfalls legal. Die Zustände sind ähnlich undurchschaubar, wie beim Umgang mit Cannabis. Was da nämlich (gerade noch) erlaubt und was hingegen dezidiert strafbewehrt ist, das weiß – was Wunder – nicht mal die Polizei genau. Denn man tau … got

Jan. 2009 | Allgemein, Junge Rundschau, Zeitgeschehen | Kommentieren