Der europäische Bürger, den bei den Worten „Christliches Abendland“ sowieso und alle Jahre wieder satte

Trotz Vielerlei und Alledem ist Deschner ein fröhlicher Mensch …

Selbstzufriedenheit zu befallen pflegt, sieht nach der Lektüre von Deschner seine Suppe voller Haare. Christliche Unwissenheit und Arroganz werden durch ihn nachhaltig gestört, sein mehrbändiges – noch lange nicht abgeschlossenes – bei Rohwolt erschienenes) Werk bringt in der für Deschner typisch-gedrängten Form eine Unmenge von Material, mit dem das Christentum sich weithin als eine Religion des Aberglaubens und der Menschenfeindlichkeit darstellt. E r  war in Heidelberg.

W i r haben ein Gespräch mit ihm geführt und es bewahrt für – auf dass es sich reime – Weihnacht zweitausendundacht:
? Nach Wolfgang Stegmüller und anderen namhaften Gelehrten sind sie der sowohl  schärfste wie kenntnisreichste Kirchenkritiker des 20. Jahrhunderts. Wie fühlt sich der kompromißlose Gegner der Kirche angesichts der Tatsache, daß diese wieder zu erstarken scheint, indem sie neue Stellungen im Osten gewinnt.
! Danke, ausgezeichnet. Der orthodoxe Osten freilich mag sich weniger gut fühlen. Die Notwendigkeit meiner Arbeit aber wird gerade auch durch diese Entwicklung bestätigt. Betonte ich doch immer wieder die stetig wachsende politische Macht der christlichen Kirchen, besonders der Papstkirche. Betonte ich doch immer wieder, daß diese Kirchen im 20. Jahrhundert weit stärker als im 19. sind. Daß sie auch künftig noch ganze Weltreiche überdauern werden: kein Elefant verfault an einem Tag! Nicht mich also führt diese Entdeckung ad absurdum, sondern meine sozialistischen, marxistischen, kommunistischen Kritiker, die mir einst so gern etwas hämisch-jovial auf die Schulter klopften: „Ja, alles gut und schön, Ihre Kirchen-, Ihre Christentumskritik. Aber zweihundert Jahre nach der historischen Aufklärung“ (als wäre kritische Aufklärung auf ein Jahrhundert beschränkt!) „doch reichlich überholt. Gingen ja, so glaubte, so prophezeite man, all die diversen Christentümer und das Papsttum in Kürze im großen sozialistisch-kommunistischen Endsieg unter. Nun ging aber der Kommunismus unter. Oder, richtiger, was sich dafür ausgab. Und noch manch anderes könnte untergehen!
? Im Osten ? Die russische Orthodoxie?
! Zum Beispiel. Sie zittert schon. Und als – dies nur zum Beispiel – Gorbatschow den Papst besuchte, glänzte der ihn begleitende Patriarch durch Abwesenheit. Was Wunder!
? Inwiefern. Erklären Sie das bitte.
Gewiß. Eine lange Geschichte freilich. Ein tausendjähriger Kampf. Seit man Rußland im 10. Jahrhundert christianisierte, seit es griechisch-orthodox geworden war, versucht dort auch das Papsttum Fuß zu fassen: durch diplomatische, durch kriegerische Vorstöße, durch Kreuzzüge, deutsche Ordensritter, schwedische Heere, durch Lockungen, Drohungen, ungeheuren Betrug. Durch einen falschen Zaren namens Dimitri – eine mit Hilfe der Päpste Klemens VIII und Paul 1604 inszenierte weltgeschichtliche Schmierenkomödie fast ohnegleichen. Und durch einen echten Zaren, Paul I., um die Wende zum 19. Jahrhundert. Doch beide Zaren, der falsche wie der echte, wurden liquidiert und Roms größte Sehnsucht blieb ungestillt. Im ersten Weltkrieg versuchte das Papsttum die Unterjochung der russischen Orthodoxie mit Hilfe des Hauses Habsburg und dem wilhelminischen Deutschland, die beide Expansionsgelüste im Osten hatten. Im zweiten Weltkrieg versuchte das Papsttum dasselbe mit Hilfe Hitlers. Und danach mit Hilfe der USA.
? Sie haben das in verschiedenen Büchern dokumentiert – zurück zum Kommunismus, der geschlagen das Feld der Geschichte verläßt. Viele kritischen Geister betrachten ihn als eine Art Ersatzreligion. Weckt seine Niederlage nicht zwangsläufig die Sehnsucht der Massen nach absoluten Wahrheiten, ein Sehnsucht die christliche Kirchen für sich nutzen können ?
! Vermutlich, aber statt absoluter Wahrheiten werden sie nichts bekommen als absolute Lügen!
? Voltaire unterzeichnete seine Briefe mit der Aufforderung „écrasez l`infâme“. Sind sie so kompromißlos wie er?
! Wir kennen heute, dank einer zweihundertjährigen Forschung, die Kirchengeschichte viel genauer, als Voltaire sie kennen konnte. Wir kennen zudem besonders die überaus blutige Kirchengeschichte gerade des 20. Jahrhunderts. Wir haben also allen Grund, kompromißloser zu sein!
? Halten Sie eine Gesundung der Kirche durch neue Ideen und Reformpäpste für unmöglich ?
! Ja, allerdings. Das halte ich angesichts dieser zweitausendjährigen Geschichte für gänzlich ausgeschlossen. Doch selbst wenn – ein utopischer Gedanke – die christlichen Kirchen sich im nächsten Jahrtausend zu ethisch intakten Gemeinschaften entwickelten, so bliebe doch ihre Dogmatik, ihre Glaubensgrundlage, ein einziges Gespinst aus Lug und Trug.
? Warum ?
! Weil dieser Glaube historisch haltlos ist, Weil er in keinerlei  legitimer Relation steht zu der Lehre Jesu, die gerade die historisch-kritische  christliche Theologie in einer über zweihundertjährigen, mit höchster Akribie betriebenen Forschung aus dem großen Dunkel jener Zeit herausgearbeitet hat – die Historizität des Galiläers einmal vorausgesetzt. Ganz beiseite, daß es das Christentum nie, zu keiner Zeit, ein Orthodoxie, eine einzige Lehre gegeben hätte, da schon in der Urgemeinde in Jerusalem drei verschiedene Arten von „Christentümern“ bestanden. Ganz beiseite, daß es im Christentum nichts, absolut nichts gibt, vom periphersten Brauch bis zum zentralsten Dogma, das nicht schon in vorchristlicher Zeit nachgewiesen worden wäre.  – so evident, daß bereits der größte aller Kirchenlehrer, Augustinus, sich zu dem Satz verstieg: „Das, was man jetzt als christliche Religion bezeichnet, bestand bereits bei den Alten und fehlte nie seit Anfang des Menschengeschlechts, bis Christus im Fleisch erschien, von wo an die Ware Religion, die schon vorhanden war, anfing, die christliche genannt zu werden.
? Wo steht das ?
! In „De doctrina christiana“. Doch andere prominente altchristliche Theologen sprechen sich ähnlich aus.
? In „Opus Diaboli“ vertreten Sie die Meinung, daß die Kriegslust der Europäer auf ihre jahrhundertelange kirchliche Erziehung zurückzuführen, daß sie zumindest dadurch stark gefördert worden ist. Erwarten Sie nicht zuviel von Erziehung? Wäre dies so bestimmend, hätte nicht die Aufklärung, die so viele bedeutenden Geister für sich gewann, auf der ganzen Linie gegen die Kirche siegen müssen ?
! Die Aufklärung beeinflußte nur einen winzigen teil der Menschheit, das Christentum beeinflußte  die Massen. Die Aufklärung prägte die besten Köpfe, das Christentum kollabierte mit den meisten exorbitanten Geschichtsverbrechern, mit dem hl. Konstantin „dem Großen“, dem Theodosius „dem Großen“, mit den fühbyzantinischen Herrschern, den Merowingern, den Pipiniden, dem hl. Karl „dem Großen“, dem hl. Heinrich II. und mit all diesen heiligen oder fast heiligen Halsabschneidern bis herauf zu Hitler und Stalin, mit dem die russisch-orthodoxe Kirche gerade während des zweiten Weltkrieges eng kooperierte, ja, der sogar, kaum bekannt, für sein polnisches Kontingent römisch-katholische Feldpfaffen hatte! Und all diesen weltbekannten Starbanditen lieferte die Kirche der Nächsten-, der Feindesliebe, der Frohen Botschaft, die Massen ans Messer. Und so wird es – Dank der Militärseelsorge – weiterhin sein. Also – Kirchen und Staaten gängeln die Massen – die Aufklärung prägte nur eine kleine intellektuelle Schicht, die zwar geistig führte und führt, doch politisch wenig oder nichts zu sagen hatte und hat.

Das Gespräch in Fortsetzungen führte Jürgen Gottschling

Dez. 2008 | Allgemein, Feuilleton, Sapere aude | Kommentieren