Die Kids saufen sich ins Koma. Der Bürger schluckt. Haben wir was falsch gemacht? Natürlich: Wer glaubt, Bach und Kurpfälzisches-Museun seien Alternativen zur Betäubung, muss betrunken sein.

Sylvester wieder angesagt: Komasaufen (nicht nur) Jugendlicher

Sylvester wieder angesagt: Komasaufen (nicht nur) Jugendlicher

Meine geplante Reportage übers Komasaufen entfällt. Ich finde meine Notizen nicht mehr. Habe ich überhaupt Notizen gemacht? Und wenn ja, warum hat mir jemand „Merk dir das, Alter!“ auf die Stirn geschrieben? Ich selber vielleicht? Und wer waren doch gleich Max und Mara? Deren Telefonnummern hab ich in meiner Sakkotasche entdeckt, zusammen mit zwei Kleinen Feiglingen und einer Taxi-Rechnung.

Schätze, mit dem Taxi bin ich von der Hendsemer-Kerwe zurück in die Untere Straße gefahren. Dort, in der Heidelberger Altstadt, wollte ich recherchieren. Die schlimmsten Jungsäufer nämlich finden sich nicht, wie man meinen könnte, in den sogenannten Problembezirken (Zufallsgenerator eingescshaltet) Sinsheim  oder Emmertsgrund. Sondern in jenen Stadtteilen, wo sich Zahnarzt und Anlageberater gute Nacht sagen.

Gerade hat sich ein  Jugendlicher das Kleinhirn derart mit Alkohol geflutet, dass die Bild-„Zeitung“ „Koma-Alarm!“ schreiben konnte. Der Koma-Alarm ist natürlich vollkommen sinnlos, weil die Komatösen ja nichts mehr erreicht, weder Zuspruch der Familie noch der Vorwurf der Behörden, geschweige denn alarmistisches Rauschen im Blätterwald.

Umso wichtiger schien mir journalistische Nüchternheit. So klar wie eine Runde Bommerlunder wollte ich zu Werke gehen und folgende Fragen beantworten: Wieso ruiniert sich der bourgeoise Nachwuchs? Wer ist für die Misere verantwortlich? Und, ist die Leber, kulturbiologisch gesehen, noch Kleinbürgertum oder schon vielleicht etwa doch schon Hartz IV?

Küstennebel der Amnesie

Die Antworten können, wie erwähnt, nur spekulativer Natur sein, über das konkrete Anschauungsmaterial hat sich der Küstennebel der Amnesie gelegt (die 23 SMS-Nachrichten von Lucas, der mit mir nach eigenen Angaben die „krasseste Bong-Aktion der letzten Jahre“ erlebt hat, sind wenig erhellend). Meine These ist, dass drei Faktoren zum Verfall des deutschen Mittelschichts-Teenagers beitragen: a) konsequente Verwahrlosung durch ein von Flexibilitäts- und Selbstoptimierungsgeboten gegängeltes Karriere-Milieu, b) kulturpessimistischer, medial forcierter Ennui, c) Reklame.

Auswahl groß - Kontrolle lasch …

Auswahl groß - Kontrolle lasch …

Die Wohlstandsverwahrlosung, von der Berliner Drogenbeauftragten Christine Köhler-Azara vollmundig diagnostiziert („Es gibt eine Art Wohlstandsverwahrlosung“), ist das Schlimmste: Die Eltern haben Geld, aber keine Zeit mehr. Im Prekariat ist das genau umgekehrt: Da hat man kein Geld, aber jede Menge Zeit. Sitzt rum, schaut zu, wie die Kids einen Schnaps nach dem andern bechern, und kann dann, im richtigen Moment, sagen, „Ole, jetzt ist aber Schluss, du bist ja schon grün.“ Der Oberschichtszögling aber kriegt nur eine SMS von Mami aus dem Friseursalon: „Hallo, Philipp, denk an den Klavierunterricht, Scheck für Lehrerin wie immer im Sideboard, zweite Schublade.“ Der Griff in die Dom-Perignon-Box in eben diesem Board ist da natürlich programmiert.
Dann der Ennui. Ennui ist französisch und heißt Langeweile, aber Langeweile klingt langweilig, während im Ennui diese Mischung aus Kultiviertheit und Verfall mitschwingt. So eine Abgeklärtheit, die sich von nichts mehr begeistern lässt, nicht von Toskana-Urlauben, nicht von Sprachferien in der Provence, nicht von Reitunterricht und nicht von Tennis-Einzelstunden.

Brahms statt Bier

„Es ist erschreckend“, so Bundespräsident Köhler, „dass Berlin besuchenden Schülern im Klassenverband manchen nichts anderes einfällt“ (als Saufen) „obwohl doch Berlin einiges zu bieten hat.“ Ein Besuch im Bode-Museum zum Beispiel oder ein schönes Konzert im Berliner Dom mit anschließender Diskussionsrunde – wie blass wirken dagegen doch Wodka und Gin! Bach statt Bushido, Brahms statt Bier möchte man diesen von Killerspielen, Gangsta-Rap-Videos und den Möglichkeiten eines überzogenen Taschengelds trunkenen Kids zurufen!
Womit man bei der Reklame wäre. Hier hat die Mediengesellschaft alle Chancen auf sozial verantwortliches Handeln verspielt. Statt kritischer aufklärungsbewußter Werbung gegen Rausch und Randale prangt  künftig Brauereiwerbung mit Stadtteilslogans wie „Neuenheim feinherb“ oder „Weststadt, eins geht noch“. Ja geht’s noch? Was kommt als nächstes: „Runter damit, Rohrbach“? „Hau weg, Altstadt“?

Der "Bissi" - wenns da noch mehr stänke, wer weiß, was dann wär…

Der "Bissi" - was, wenns von dort stänke ?

Ich plädiere für eine Orts- und Klassengrenzen übergreifende Kampagne. Vollkommen ironiefrei versammeln sich Neuenheimer Schicki-Teens und Emmertsgrunder Migranten-Kids auf dem „Bissi“ (Bismarckplatz) und leeren gemeinsam drei Dutzend Kästen Mineralwasser. Das sich anschließende ausbreitende, lautstarke Freiwerden von Kohlendioxid wird die Geschmacks- und Wohlstandsbürger von Handschuhsheim über Neuenheim  bis Schlierbach erschrecken.
Kurz werden sie aufhorchen – und schlucken. tenno

Dez. 2008 | Allgemein, Junge Rundschau, Zeitgeschehen | Kommentieren