„Das Gewissen kennt keinen Kalender“
Hätten sie es sich leichter machen können, die drei Abgeordneten der SPD-Fraktion im Hessischen Landtag, Silke Tesch, Jürgen Walter und Carmen Everts, die am Tag vor der Wahl mitteilten, dass sie wie ihre Kollegin Dagmar Metzger ihre Partei- und Fraktionsvorsitzende Andrea Ypsilanti nicht zur Ministerpräsidentin wählen wollten? Hätten sich zu der angesetzten Landtagssitzung einfinden und in der geheimen Wahl mit Nein oder Enthaltung stimmen können? Dann wären Carmen Everts, Silke Tesch und Jürgen Walter nicht – wie geschehen – als Schweine beschimpft worden, dann hätten sie sich nicht den Vorwurf einer Fraktionskollegin zu hören bekommen, sie hätten ja wohl die „Silberlinge“ der Energiekonzerne eingesteckt.
Allerdings wäre dann erst recht zur Jagd auf die Schweine geblasen worden, von Dolchstoß und Meuchelmord wäre die Rede gewesen wie bei der gescheiterten Wahl von Heide Simonis, und anders als damals in Schleswig-Holstein hätte die Treibjagd in Hessen mit Sicherheit ein Opfer gefordert. Auch die aus der verpesteten Luft gegriffenen Bestechungsvorwürfe hätten in der Tatsache der geheimen Wahl scheinbare Stützung gefunden.
Demokratie bedeutet freie Zustimmung
Verbreitet ist nämlich die Ansicht, ein Nein im Schutz der Geheimhaltung wäre weniger ehrenhaft gewesen als die öffentlich angekündigte Ablehnung. Dabei hätten Everts, Tesch und Walter, wenn sie das Ypsilanti-Projekt ohne vorherige Erklärung zu Fall gebracht hätten, nur von ihren Rechten als Abgeordnete des Hessischen Landtags Gebrauch gemacht. Das wäre nicht nur legal gewesen, sondern vollkommen legitim – zumal die Gründe, die es für namenlose Abgeordnete geben mochte, Frau Ypsilanti die Stimme zu verweigern, jedermann bekannt waren.
Der Generalsekretär der hessischen SPD, Norbert Schmitt, hat den Abgeordneten einen Verstoß gegen die Demokratie vorgeworfen. Wenn man Schmitts Äußerung beim Wort nähme, müsste sie ihn für politische Ämter disqualifizieren. Unsere Demokratie beruht auf dem Prinzip der freien Zustimmung der Abstimmungsberechtigten. Der Sicherung dieses Prinzips dient die Vorschrift der Geschäftsordnung des Hessischen Landtages, wonach er „ohne Aussprache in geheimer Wahl die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder“ wählt.
Die Aufgabe des Kandidaten
In den Honoratiorenparlamenten des neunzehnten Jahrhunderts wurde die freie Zustimmung offen erklärt. Der Ehrenmann gab sein Votum ab und hatte die Konsequenzen zu tragen. Die geheime Wahl des Regierungschefs trägt der ungeheuren Macht der Parteiapparate in einem Staat von Parteipolitikern Rechnung. Wo Parteigremien Lebenschancen zuteilen, muss die Freiheit des Mandats auch gegen die Parteien gesichert werden.
Die hessische Verfassung verlangt von der Kandidatin für das Amt des Ministerpräsidenten, eine Mehrheit von Landtagsmitgliedern zu überzeugen. Sie sollen ihr die Stimme aus freien Stücken geben, unabhängig von der Beschlusslage der Partei und der Rücksicht auf die Parteifreunde. Deshalb gibt es einen Unterschied zwischen der Nominierung eines Ministerpräsidentenkandidaten auf einem Parteitag und der Wahl des Ministerpräsidenten im Landtag. Kein Parteibeschluss kann die Entscheidung der vom Volk gewählten Abgeordneten vorwegnehmen. Die Wahl des Regierungschefs ist die wichtigste Aufgabe der Abgeordneten.
Das Gewissen richtet sich nicht nach dem Kalender
Alle „Probeabstimmungen“, wie sie bei knappen Mehrheitsverhältnissen üblich geworden sind, laufen auf eine Beschränkung der von der verdeckten Stimmabgabe geschützten Freiheit der Wahl hinaus. Gerade weil die Sachzwänge der Parteiräson erdrückend sind, kommt es auf das Prinzip der freien und geheimen Wahl an, das sämtliche Bundesländer entweder garantieren oder doch respektieren. Dass keine Aussprache erfolgt, ist ein Zeichen dafür, dass jeglicher Druck auf die Abstimmenden unterbleiben soll.
Wie normal es ist, dass der einzelne Abgeordnete seine „Gewissensfindung“, wie Carmen Everts gesagt hat, „in der Mehrheitsfindung der Gesamtpartei aufgehen“ lässt, sieht man an Kommentaren von Politikern anderer Parteien, die den Mut der drei Neinsager loben, aber andeuten, dass sie besser schon früher Klarheit über ihre Gewissenslage hätten herstellen sollen. Der späte Zeitpunkt der Entscheidung ist aber keineswegs ein Indiz dafür, dass ihre Berufung auf das Gewissen frivol wäre. Die Stellungnahmen des SPD-Vorsitzenden Müntefering waren bei näherem Hinhören sehr vorsichtig formuliert. Auch als Katholik weiß er, dass sich das Gewissen nicht nach dem Kalender richtet.
Frau Everts hat ihr gesamtes Berufsleben in den Diensten der Partei verbracht. Über Frau Tesch war in einer Zeitung zu lesen, ihre Genossen hätten fest mit ihrem Ja gerechnet, weil sie wirtschaftlich auf das Mandat angewiesen sei. Ein Karrierekalkül hinter dem Entschluss zum Nein ist also nicht ersichtlich. Gerade das mag die Gehässigkeit und Schäbigkeit der Vorwürfe erklären. Warum fiel der Entschluss so spät? Die Parteiräson gebietet eben, es sich mit dem Bruch so schwer wie möglich zu machen, dem Gewissen lieber noch einmal die Frage vorzulegen, ob nicht doch ein Arrangement möglich wäre. Carmen Everts, Silke Tesch und Jürgen Walter haben die Notbremse gezogen. Dafür ist es nie zu spät. gott
08.Nov..2008, 19:32
Sehr geehrter Herr Gottschling, ich teile Ihre Meinung, dass die hessischen Abweichler Respekt verdienen, auch wenn sie recht lange brauchten, ihr Urteil zu schärfen und zum Handeln „mit offenem Visier“ zu finden.
Gestatten Sie noch eine Anmerkung zum „Rundschau-Credo“, das man im Menu anklicken kann: „De omnibus dubitam est“ , vielleicht dubitandum est, jedenfalls sollte man bei Glaubensbekenntnissen, vor allem, wenn sie unnötigerweise auf Latein vorgetragen werden, keinen sprachlichen Unsinn stehen lassen.
Mit freundlichen Grüßen,
Karsten Weber (Bruder von Nils Weber in HD)