Bei der Uraufführung war Hans Werner Henzes Phaedra eine chice, coole Angelegenheit, in einer funkelnden Installation von Olafur Eliasson und mit edel stilisierten Kostümen von Bernd Skodzig. Die Inszenierung von Peter Mussbach schickte die Solisten ins abstrakte All des Aufführungsraumes – gleich einer Flaschenpost. Das war also eine „Konzertoper“?

Es blieb eher eine konzertante Oper, ohne Belästigung durch das Theater. So wurde schlau die Herausforderung umschifft, die Henzes Gattungsbezeichnung bietet: einen unauflösbaren Widerspruch, der zwangsläufig zur Explosion führen soll. Denn Konzert und Oper sind Gegensätze. Die Oper stört das Konzert durch Geräusche, Aktionen, Emotionen. Im Konzert sind wir überempfindlich gegenüber Geräuschen, die nicht vom Podium kommen, in der Oper sind wir von der Bühne den größten Krach gewöhnt. Wenn in Henzes Phaedra die Sänger aus der Rolle (oder besser: in die Rolle) zu fallen beginnen, machen sie Geräusche, die uns ärgern: Schuheklappern, Stühlerücken, Papierreißen.

Denn das Theater stört die reine Musik. Im Konzert erklingt absolute Musik pur, in der Oper dient die Musik der Handlung mit allen ihren erdenschweren Umständen. Sprache und Aktion brechen ein und rauben der Musik ihre Unschuld. John Cage würde bei solchen Vergleichen milde lächeln: wird auf der Bühne nicht alles Musik, was erklingt, auch das Geräusch? Hans Werner Henze sieht in Phaedra vor, dass die reine Konzertmusik gestört wird. So wie das reine Leben des Jägers Hippolyt durch die schmutzige Liebe gestört wird. Männliche, cleane Arbeit und weibliche, schmierige Lust. Jagd und Liebe, Artemis und Aphrodite führt der Mythos uns als Gegensätze vor, die in der „Konzertoper“ aufeinanderprallen, d.h. das Konzert aufbrechen und in die Oper umschlagen lassen. Oper und Operette bilden einen vergleichbaren Gegensatz, indem die frivole Operettendiva eine Schändung der Casta diva der Oper ist. Auch die absolute Musik trägt Leidenschaft in sich, die Menschen ergreifen kann – kein Musiker kann da sicher sein, dass es nicht plötzlich auch ihn ergreift. Kunst und Leben beginnen sich zu durchdringen in Henzes „Konzertoper“.

Es gibt Grade der Zerstörung. Erst werden Bilder zerrissen, dann die Partitur. Dreck wird auf dem Podium verstreut, der geschundene Hippolyt bleibt auf der verschütteten Blumenerde liegen. Es dauert die ganze erste Hälfte des Stückes, bis wir uns so weit an das Vordringen des Schmutzes, d.h. von Aktion und Theaterspielen im Konzertraum gewöhnt haben, dass wir auch die Vertreibung der Musiker von der Bühne als Teil des Spieles hinnehmen. Der Umbau ist Arbeit – rohe Vorarbeit für die Kunst. Die Musiker und Orchesterwarte bewerkstelligen den Umzug des Orchesters an seinen theatermäßigen Ort, den Orchestergraben. Damit ist der Umschlag vom Konzert in die Oper sanktioniert; das Ritual hat einen anderen Aggregatzustand angenommen und ist nun wieder „rein“.

Henze öffnet damit eine weitere Ebene der Gegensatzpaare: Die Tragödie wird gefolgt von der Farce. Im ersten Teil wurde der griechische Phädra-Mythos erzählt, nun folgt die römische Fortsetzung. Die musikalische Ebene wird von Henze durch vom Band zugespielte „Bruitagen“ weiter aufgerissen. Die Musik wird nun streckenweise theatralisch-burlesk, bisweilen scheinen die Harlekinaden der Ariadne auf Naxos von Richard Strauss durch, in der ja auch der Gegensatz von tragischer Oper und komischer Burleske ausgespielt wird. Dazu gehört auch, dass der geschundene Hippolyt-Tenor mit dem Tenorkitsch konfrontiert wird, der zur Popularität von Oper entscheidend mit beigetragen hat. Die von der Liebe getriebene Phaedra bekommt in dem Menschen Hippolyt, der sich die Liebe nicht traut, einen gefährlichen Gegner: Seine Geschichte wird nun die interessantere, er droht sie aus der Titelrolle zu verdrängen. „Ich dachte, wir machen Musik zusammen,“ ruft der enttäuschte Hippolyt aus, der die Einbrüche des Theaters in seine saubere Konzertwelt nie verstanden hat und deshalb zum Opfer wurde. Er wollte nur musizieren, aber geriet dabei in eine heillose Verstrickung.

Phaedra wird zur Geschichte einer Befreiung aus der Manipulation. Der Manipulation eines Menschen durch die Götter, eines Musikers durch das Theater, eines Tenors durch das Klischee. Am Ende zeigt Henze, dass er die Gegensatzpaare, mit denen er gespielt hat, nicht manichäisch gegeneinander gestellt hat. Mit dem Minotauros tritt zum ersten Mal eine tiefe Stimme auf, ein Bassbariton. Sein Tanz weist Hippolyt den Ausweg: Er muss seinen eigenen Weg suchen, in den Wäldern, nicht in der Kultur. Er ist „nackt geboren“, voraussetzungslos, und muss in der Sterblichkeit sein Glück finden. Das ist Henzes Götterdämmerung. Wie der Minotauros („Er ist auferstanden, wahrhaftig auferstanden,“ heißt die Liturgie der Artemis bei dessen Erscheinen – der Textautor ist schließlich Theologe) muss Hippolyt die mythischen Reste abstreifen, um als Mensch (und Musiker?) zu sich selbst zu finden.

Das Spiel ist aus, der Vorhang zu. Nicht der Graben, die Bühne war zum Abgrund, zum mythischen Ort geworden. Doch jetzt sind die alten Gespenster hinter dem roten Samt gebannt. Alles ist umgestürzt und durcheinander geworfen worden, aber der Theatervorhang stellt die Ordnung wieder her. Das bedeutet auch, dass – wie in Ariadne auf Naxos – die Oper gesiegt hat. Doch dies war nur das Ziel. Das Spannende war der Weg, der Kampf der Gegensätze, das Aufbrechen der Ordnung, der Tanz der Prinzipien, das Spiel menschlicher Eigenschaften. In einer neuen musiktheatralischen Form, deren Mischung sich als explosiv erwiesen hat: der Konzertoper.

Bernd Feuchtner – vor der Premiere am 1. November. Unserer Premierenkritik wurde mit des Operndirektors Einführung doch schon einiges vorweggenommen. Dieweil wir das nicht besser hätten schreiben können, lasen wir das hier so stehen. Und schreiben aber dennoch – demnächst an diesem Platz.

Nov. 2008 | Heidelberg, Allgemein, Feuilleton | Kommentieren