Zur Person: Alice Walker, geb. 1944 in Eatonton, Georgia, als achte und letzte Tochter eines Farmers. Die Schriftstellerin und politische Aktivistin wurde vor allem durch ihren Roman „Die Farbe Lila“ international bekannt, der 1983 mit dem American Book Award sowie dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und 1986 von Steven Spielberg verfilmt wurde.

Du hast ja keine Vorstellung davon, welche tiefe Bedeutung dieser Moment für uns hat. Mit „uns“ meine ich die schwarze Bevölkerung der Südstaaten von Amerika. Du denkst, Du wüsstest es, weil Du einfühlsam bist und Geschichte studiert hast.

Aber Dich zu sehen, wie Du die Fackel bis ans Ziel trägst, die so viele andere getragen haben, Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt, Jahrhundert für Jahrhundert, und die alle zu Fall gebracht wurden, bevor sie die Flamme für Recht und Gesetz entzünden konnten, Dich bestehen zu sehen, ist fast mehr als das Herz ertragen kann.

Und doch soll Dich das nicht belasten, denn Du stammst aus einer anderen Zeit, und auch dank all der Fackelträger vor Dir ist Nordamerika heute ein anderes Land. Man kann nur sagen: Gut gemacht. Wir wussten, durch alle Generationen, dass Du bei uns bist, in uns, der beste Geist von Afrika und Amerika.

Die Gewissheit, dass Du eines Tages erscheinen würdest, gab uns unsere Kraft. Zu sehen, wie Du Deinen Dir gebührenden Platz einnimmst, ihn Dir allein Durch Deine Weisheit, Ausdauer und Persönlichkeit errungen hast, ist Balsam für die müden Krieger der Hoffnung, von der in Liedern gesungen wurde.

Ich rate Dir, nicht zu vergessen, dass nicht Du es warst, der die Welt ins Chaos gestürzt hat, und dass Du allein sie auch nicht wieder in die Ordnung führen kannst. Eine wichtige Pflicht hast Du jedoch zu erfüllen, und zwar die, in Deinem eigenen Leben Glückseligkeit zu erreichen. Gestalte es so, dass Du genügend Zeit hast, um Dich auszuruhen und Dich Deiner wunderschönen Frau und Deinen reizenden Töchtern zu widmen. Und vieles mehr.

Man hat den Eindruck, dass Du eine große Familie hast. Wir sind es gewöhnt, dass die Männer im Weißen Haus schnell ergrauen und erschlaffen; dass ihre Frauen und Kinder gestresst und angespannt aussehen. Ihr Lächeln wird so freudlos, dass es an eine Schere erinnert. So kann man kein Volk führen. Und Deine Familie verdient ein solches Schicksal erst recht nicht.

Man kann es auch so betrachten: Jetzt ist es schon so schlimm gekommen, dass man sich eigentlich nur noch entspannen kann. Aus Deinem glücklichen und entspannten Zustand heraus wirst Du Erfolg haben – einem Zustand, den so viele Menschen in Wahrheit erreichen wollen.

Sie kaufen vielleicht ständig neue Autos, Häuser und Pelze und suhlen sich in so viel Aufmerksamkeit und nehmen so viel Raum in Anspruch, wie sie können – oder auch kaum noch können -, aber sie machen das, weil ihnen nicht klar ist, dass der Schlüssel zum Erfolg im Inneren liegt. Und dass er im Grunde beinahe jedem zugänglich ist.

Außerdem würde ich Dir raten, Dir nicht die Feinde der anderen zu Deinen eigenen zu machen. Den meisten Schaden fügt man uns zu aus Angst, Demütigung oder Schmerz. Diese Gefühle haben alle, nicht nur diejenigen, die einer bestimmten Religion oder Rasse angehören.

Wir müssen lernen, dass wir keine Feinde haben, sondern lediglich verwirrte Gegenspieler, die im Grunde wir selbst sind. Wir erkennen Dich als den obersten Befehlshaber der Vereinigten Staaten an, der geschworen hat, unser geliebtes Land zu beschützen; daran besteht für uns kein Zweifel. Aber ich will Dir doch einen Rat meiner Mutter ans Herz legen, die gern aus der Bibel, mit der ich so oft im Hader lag, zitierte: „Hasse die Sünde, aber liebe den Sünder.“

Es darf keine Vernichtungsangriffe auf andere Länder mehr geben, keine Folter, keine systematische Entmenschlichung, um ein Volk zu brechen. Genau das hat man mit den Menschen nicht-weißer Hautfarbe getan, mit den Armen, mit Frauen und mit Kindern. Und man sieht, wo es hinführt und hingeführt hat.

Einen guten Weg, wie man innerlich „mit dem Feind zusammenarbeitet“, zeigt uns der Dalai Lama, der sich unermüdlich um seine Seele kümmert, während er der chinesischen Regierung entgegentritt, die in Tibet einfällt. Denn wer ein glaubhafter Führer bleiben will, dessen Seele muss intakt bleiben. Alles andere mag verloren gehen, aber wenn die Seele stirbt, stirbt auch die Verbindung zur Erde, zu den Völkern, den Tieren, zu Flüssen und Gebirgsketten, purpurfarben und majestätisch. Und Dein Lächeln, mit dem Du würdevoll den falschen Anschuldigungen, Verzerrungen und Lügen begegnest, ist der Ausdruck eines gesunden Selbstwertgefühls, eines Geistes und einer Seele, die, wenn sie glücklich und zufrieden sein darf, ein ebensolches Lächeln in uns finden wird, das uns den Weg zeigt und die Welt erstrahlen lässt.
Wir sind die, auf die wir gewartet haben.
In Frieden und Freude,
Alice Walker – Übersetzung: Andrian Widmann

Nov. 2008 | Allgemein | Kommentieren