Hartz-IV-Empfänger verlesen auf der Bühne intime Details zu Superreichen – und die Kritik stürzt sich auf diesen vermeintlichen Skandal. Wir meinen, zu Unrecht – denn das Hamburger Verarmungs-Oratorium „Marat, was ist aus unserer Revolution geworden“ ist das erste relevante Theaterereignis der neuen Zeit.
Nach der Vorstellung kamen sie zusammen, die Zuschauer und die Darsteller im Hamburger Schauspielhaus, und sie redeten, redeten ratlos oder wütend oder resigniert, als ob sie gemeinsam einen Skandal aus der Welt schaffen wollten: den Skandal sozialer Ungerechtigkeit, den Skandal von Arm und Reich.
Sie redeten über die Kunst und ihre Möglichkeiten, und für Momente waren wir in den sechziger Jahren.
Abgeklärter und weiser allerdings. Liberale, gutgesinnte Hamburger und dazwischen die verwitterten und verlebten und verbitterten Mienen, die kurz vorher noch auf der Bühne gesehen wurden, unschuldige und stolze Gesichter sind ebenfalls darunter, Gesichter von Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern, Gesichter, wie man sie sonst nur aus Armuts-Reportagen kennt oder vom Bier-Kiosk am Bahnhof gegenüber.
Das Theater an diesem Abend ist ausnahmsweise mal nicht der Ort fabrizierter Surrogat-Skandale und kleinbürgerlicher Provokationen, sondern ein theatralisches Labor, eine kommunikative Utopie vollendeter Gleichheit, in der alle Fragen bewegt und begutachtet und beredet werden können.
Die Schönheit dieses Moments ist erarbeitet worden, ist erstritten worden durch die Theater-Kunst.
Tatsächlich: Man spricht auch über die Kunst an diesem Abend im Schauspielhaus, wo Regisseur Volker Lösch das Stück „Marat, was ist aus unserer Revolution geworden“ inszeniert hat, nach der Vorlage von Peter Weiss‘ Revolutionsdrama „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“.
Das (wie so oft) große Versagen der Theaterkritik (hier) im Umgang mit dem Stück von Lösch bestand ja darin, dass kaum etwas über den Inhalt berichtet wurde – immer nur über den Skandal. Dass dort, von der Bühne herab, eine Liste superreicher Hamburger verlesen wurde, samt Wohnanschrift und Vermögenshöhe.
Die parteilose Hamburger Kultursenatorin Karin von Welck hatte das als „populistisch“ und „billig“ gescholten, hatte bekannt, die ganze Inszenierung sei ihr „zuwider“ – und sich deswegen mit Schauspielhaus-Intendant Friedrich Schirmer angelegt.
Allmählich aber kann man doch zum Kunstereignis vorstoßen: ein Wunder dieser Inszenierung ist, dass die da oben mehr ausstellen als ihre soziale Situation. Sie sind Artisten des Sprechgesangs, chorische Vertreter ihrer Geschicke, sie intonieren ihre Leidens- und Lebensgeschichten als Kollektiv in einer raffinierten Sprach-Regie.
Die eine spricht von ihrer Magersucht, der andere von seinem Alkoholismus, der dritte davon, wie die Erbsensuppe von Penny im vergleich mit der von Lidl abschneidet, und dass sie 15 Cent teurer wurde und wie anstrengend und karg ein Leben ist, das ständig mit Rechenarbeiten zugestellt ist.
Es sind Wechselgesänge und Soli, Zwiegespräche; einer beginnt, andere fallen ein. Doch so individuell diese Schicksalserzählungen sind, so typisch sind sie gleichzeitig: Da spricht sich nicht nur das subjektive Leid, sondern die Klassenlage, und damit ist es politisches Theater.
Wer hätte gedacht, dass es noch einmal so unmissverständlich und intensiv zurückkehrt.
Allerdings hat auch diese Inszenierung ein professionelles Zentrum: Achim Buch spielt den Marat in der Badewanne als pathetisches Revolutionsmonster, er ist aber auch Lenin als statuarischer Agitator, er ist der bettnässende Fidel Castro, er ist der Revolutionsrudi mit seinen selbstgestrickten Pullovern und Barrikaden-Animationen. Mit anderen Worten: Buch spielt alle Facetten einer revolutionären Biographie, einer revolutionären Leidensgeschichte, ja, einer revolutionären Klamotte durch.
Kunstvoll sind die beiden Text- und Spielebenen ineinandergeschoben: die Spielanordnung von Peter Weiss und die Doku-Protokolle von Volker Lösch und Beate Seidel. Sie lasen den „Marat“ vor der Bühne, dahinter ist die Gummizellen-Landschaft von Aldi und Lidl, das käfiggehaltene Wohlstands-Elend, bisher zunehmend ausgeblendet, dem hier aber erneut eine Stimme gegeben wurde – eine Stimme, die gehört wurde.
Die Magie dieses Theaterabends, sie kommt einher als Elends-Berichte und -Protokolle; jedoch darf man den Eindruck haben, man höre sie zum ersten Mal.
Es sind Stimmen, die in den letzten Jahren verdrängt und unterdrückt wurden, vonuns allen. Nun sind sie wieder da-auf der Bühne noch als anschwellendes Murmeln. Jedoch werden sie lauter. Auf der Bühne wie im richtigen Leben.
Jürgen Gottschling