Besonders stolz ist der Festival-Leiter Michael Kötz nach dem letztjährigen Ausflug in eine luftige Zeltstadt am Rhein-Ufer, bei seiner Rückkehr in das zu einem „Bio-Center“ umfunktionierten „Stadthaus“ den Sitzungssaal des Mannheimer Stadtparlaments durch die Installation zahlreicher roter Tischlämpchen mit Schummerlicht nun in ein zweites Kino verwandelt zu haben, das die wärmend- vielversprechende Anmutung eines öffentlichen Bordells ausstrahlt …
… und, dementsprechend intensiv von den Besuchern frequentiert wurde. Zudem verstehen es die Veranstalter jedes Jahr aufs Neue, eine angenehm aufgekratzte und anheimelnd-private Atmosphäre zu schaffen – z. B. wenn der „Dr. Kötz“ (himself) seinem Publikum vor den Wettbewerbsfilmen gut gelaunt wie ein Zirkusdirektor erklärt, warum man aus rund 700 Möglichkeiten gerade diesen „wunderbaren“ Film ausgewählt habe und seine Gäste immer wieder auffordert, doch recht zahlreich zum anschließenden Gespräch mit dem Regisseur zu kommen.
Zwei Kinos an diesem zentralen Platz in der quadratisch angelegten Stadt zwischen Neckar und Rhein: Das ist schon ein neuer Vorteil für das 57. Filmfest, das in Mannheim und in Heidelberg gleichzeitig stattfindet und nicht nur regen Zuspruch von studentischen Besuchern, sondern auch von Gruppen älterer Kinogänger findet, die in den Stadthauskinos, wo die Originalfassungen der Filme mit englischen Untertiteln gezeigt werden, zusätzlich auch noch eine unterhalb der Leinwand mitlaufende deutsche Übersetzung lesen können.
Man weiß auch wohl, dass man an der deutschen Untertitelung „noch arbeiten muss“. Gerade bei dialogreichen Filmen ist die 1:1 Übersetzung Nonsens; da müsste gerafft und pointiert werden, damit die Zuschauer nicht ganz und gar zu frustrierten Text-Lesern werden, denen darüber die Bilder verloren gehen.
Und da gab es doch viel zu sehen & zu hören in den 10 Tagen des Novembers: 14 Spielfilme aus 12 Ländern in der Reihe „Internationale Entdeckungen“ und 18 aus 14 Länder im Internationalen Wettbewerb – wobei es den Zuschauern gleichgültig sein konnte, ob die Filme um einen der Preise konkurrierten oder (weil andernorts schon gelaufen und ausgezeichnet) nur als „Entdeckung“ präsentiert wurden. Denn Qualität war für alle 32 gleich gültig. Und ein temporäres Ereignis sind diese Mannheim-Heidelberger Kinotage ohnehin, weil die allermeisten der hier versammelten Autorenfilme zwar die ungebrochene Lebendigkeit, Innovationsfreudigkeit und Vielfalt der Weltkinematographie vor Augen führen, aber einem deutschen Publikum nur dieses eine Mal unter die Augen kommen. Die Internationale Jury unter ihrem Präsidenten Edgar Reitz sprach denn auch in einer besonderen Hommage an das Festival „von der bewundernswerten Hingabe junger Filmmacher“, deren Arbeiten „trotz ihrer Verschiedenartigkeit sehr persönlich und voller Solidarität und Anteilnahme am Leben ihrer Protagonisten“ seien.
Das trifft nicht nur für filmische Erzählungen zu, die sich an Krisenerfahrungen ihrer eigenen Generation entzünden, wie in dem Schweizer Film „Das Geräusch in meinem Kopf“, in dem eine dreißigjährige Journalistin keine Arbeit in ihrer Genfer Heimat findet, ihren Freund verlässt und einen rätselhaften Ausreißer in ihrer Wohnung aufnimmt und im ungesicherten Lebenstrubel zu versinken droht. Der Welschschweizer Vincent Plus porträtiert diese junge, desorientierte Frau „unter Einfluss“ (Cassavetes), indem er als „Voice over“ das Unausgesprochene, Verdrängte, Verheimlichte in seinen Bilder akustisch zitiert.
Grenzerfahrungen
Auch die Argentinierin Paula Hernández erzählt in ihrem Spielfilmdebüt, „Regen“, das mit dem „Großen Preis von Mannheim“ ausgezeichnet wurde, von Aufbruch und Stillstand im Leben zweier Menschen, die der Zufall in der winterlichen Regenflut von Buenos Aires überwiegend in der klaustrophobischen Enge eines im Stau stehenden Autos zusammenführt. Die junge Alma, die nach neunjähriger Ehe Mann und Wohnung verlassen hat und in ihrem Auto übernachtet und den etwa gleichaltrigen Roberto, der nach 30 Jahren Abwesenheit aus Madrid, wo er wohlsituiert mit Frau und Kindern lebt, in die verlassene Heimat zurückgekehrt ist, um die Wohnung seines eben gestorbenen Vaters aufzulösen. Eine dicht, geheimnisvoll und intensiv gestaltetes „Brief Encounter“, das eine flüchtige erotische Begegnung ohne Zukunft am Rande der unausgesprochenen, unerklärten Verzweiflung evoziert.
Aufsehen vor allem beim jugendlichen Publikum, Nebenpreise und eine „Lob“ der Internationalen Jury fand der kanadische Film „Borderline“, wieder von einer Regisseurin, die wie ihre argentinische Kollegin eine Journalistin an der offensichtlich magischen „Schattenlinie“ des Dreißigsten Jahres bei ihrem Selbstfindungskampf beobachtet und auf zwei Zeitebenen (also in einer Doppelrolle) spielen lässt.
Lyne Charlebois hat für ihre grenzgängerische Kiki die betörend-schöne und virtuosen Schauspielerin Isabelle Blais gefunden, die mit einer lustvollen Radikalität am erotischen Exhibitionismus sich aus doppelter Abhängigkeit befreit: einerseits vom Alkoholismus ihrer debilen Mutter und ihrer moribunden Großmutter und andererseits von ihrer „amour fou“ zu dem verheirateten Unidozenten, der sie zu einem autobiografischen Roman animiert, um ihr „Borderline“-Leben zu überwinden, dessen sexueller Nutznießer er ist.
„Borderline“ thematisiert am Beispiel von Kikis dementer Mutter, die ihre Tochter nicht mehr kennt, die schmerzliche Bruchstelle der Generationen, zwischen denen die familiäre Kommunikation abgebrochen ist oder abzubrechen droht und die Kinder vor neuartige moralische Entscheidungen stellt und in nachhaltige Verantwortung zwingt. In 5 (!) der 18 Wettbewerbsfilme wurde das Thema Alzheimer virulent, wenn es nicht sogar im Zentrum von ihnen stand.
In dem französischen Debütspielfilm „Zyklen“ des 31-Jährigen Cyril Gelblat – für mich der rundum gelungenste, reifste und bewegendte Film des Wettbewerbs – verbindet sich das Alzheimer-Leiden einer Fünfundsiebzigjährigen, verwitweten polnischen Jüdin in Paris mit der historischen Erinnerung und deren familiärer Verdrängung. „Zyklen“, der ästhetisch höchst komplex angelegt ist, erzählt mitreißend und lakonisch vom Umgang der Kinder und Enkel mit der verwirrten Großmutter ebenso wie von den unterschiedlichen Lebenswelten der drei Generationen – und ist auch ein Zeugnis dafür, dass in jüngster Zeit französische Juden sich in diesem wie anderen Filmen (wie z.B. Claude Millers jetzt in unsere Kinos kommendes „Ein Geheimnis“) der eigenen Diaspora-Existenz im Autoren-Kino versichern.
Die Vergangenheit bleibt
Erstaunlicherweise war der bislang oft sentimental(isch) konnotierte Kino-Topos Großeltern/Enkel zentrales Thema zweier spanischer Filme. Der Baske Aitzol Aramaios nähert sich in seinem Spielfilmdebüt „Ein bisschen Schokolade“, in dem der deutsche Schauspieler Daniel Brühl einen Familienflüchtigen spielt, der bei einem Alzheimer-Alten als Fremder Unterschlupf und eine Freundin findet, dem heiklen Thema, indem er es ins Märchenhafte, zart Surrealistische transponiert. Die Parallelwelt des Dementen – mit dessen jugendlicher Frau und seinen besten Freunden, die alle längst tot sind, aber für ihn wie für die Zuschauer visuell präsent sind – verschmilzt am Ende mit der Realität des Sterbenden zur Apotheose einer festlichen Vereinigung der Generationen und Zeiten auf einer baskischen Terrasse vor dem blauen Meer. Alles Getrennte findet sich harmonisch wieder zur utopischen Versöhnung.
Der neunundzwanzigjährige Freddy Mas Franqueza, dem es gelungen ist, seinen autobiographischen Stoff in einer spanisch/deutsch/polnischen (!) Koproduktion zu realisieren, wählt für sein erstaunlich sicher inszeniertes Spielfilmdebüt „Aus einem Traum aufwachen“ ein ödipales Melodrama und meidet die quälende Schärfe des Problems dabei nicht. Der von seiner leichtlebigen Mutter, die einem Jazzmusiker nach Berlin folgt, beim Großvater mit seinem „Tante-Emma-Laden“ in der Provinz wie ein hinderlicher Gegenstand „abgestellte“ und bis zu seiner Erwachsenheit verlassene Sohn, sucht nach dem Tod seines großväterlichen Erziehers seine Mutter in Berlin und findet in ihr die Barfrau eines herunter gekommenen Etablissements, die den hübschen jungen Mann, der sich in sie vergafft zu haben scheint, mit auf ihr schäbiges Zimmer nimmt, wo er weinend, aber bis zuletzt schweigend, ihr Beischlafsangebot ausschlägt und im Morgengrauen sich von der schlafenden- unwissenden Mutter entfernt.
Sehr schön beschreibt Mas Franqueza im ersten Teil die langsame Annäherung des achtjährigen Buben an den verwitweten Alten, der in die Rolle des Ersatzvaters hineinwächst. Im zweiten Teil des 100-minütigen kleinen Epos einer provinziellen Lebens- & Notgemeinschaft sehen wir zehn Jahre später, wie der junge Mann mit seiner Freundin ein verlassenes Haus auf dem Lande begutachtet, in dem das Paar ein kleines Hotel einrichten will. Dazu müssten sie aber nicht nur das Geschäft des Alten, sondern auch seine darüberliegende Wohnung verkaufen und den mittlerweile Verwirrten in einem Altersheim „abstellen“. Obwohl er ihm öffentlich Ärger macht, jähzornig und böse geworden ist, kann es der Enkel nicht über sich bringen, den Großvater, der sich um ihn als Kind gekümmert hatte, aus Eigennutz abzuschieben, worauf er sowohl seine Freundin verliert, als auch seine berufliche Entwicklung aussetzt, um den alten Mann bis zu dessen Tod zu pflegen. In beiden Filmen spielt derselbe Schauspieler (Héctor Alterio) den Alzheimer-Dementen unvergesslich – hoffentlich auch für ihn.
Aber natürlich waren die Autorenfilme des 57. Mannheim-Heidelberger Filmfests, trotz dieser auffälligen thematischen Fixierungen, die eine epidemisch gewordene familiäre Problematik in unseren Altersgesellschaften seismographisch reflektiert, nicht nur auf diese „Senioren“-Perspektive fixiert – wenngleich dem dreißigjährigen Finnen Miika Soini gerade in diesem Film-Genre ein kleines Meisterwerk gelungen ist. Sein „Thomas“ – die lakonische Studie eines in seiner Einsamkeit solipsistisch gewordenen alten Mannes, der sich seinen einsamen Tod in seinem Souterrainzimmer bereitet – ist auf gleicher ästhetischer Höhe ein filmisches Pendant zu Becketts „Krapps letztes Band“: streng, komisch, verschwiegen, herzbewegend.
Nach dem Tod: Erfüllung des Traums
Wenn man „Jerichow“ jetzt in unseren Kinos vor Augen hat – Christian Petzolds aktuelle Paraphrase des Drei-Personen-Melodramas in der „Postman always rings twice“-Nachfolge –, dann gewinnt man den Eindruck, dass der Grieche Vassilis Douvalis mit seiner Version des Stoffs mitten ins Zentrum zeitgenössischer Problematiken seines Heimatlandes zielt. Von Theo Angelopoulos, der mit seinem ersten Spielfilm „Die Rekonstruktion“ nach derselben dramaturgischen Grundkonstellation sein Œuvre begonnen hatte, hat nun Douvalis die drei-perspektivische Darstellung des Morddramas übernommen.
Bei Angelopoulos war es ein krank in sein Dorf aus Deutschland heimgekehrte „Gastarbeiter“, den seine Ehefrau und ihr Geliebter ermordeten. In Vassilis Douvalis´ „Die Heimkehr“ steht der erfolgreiche Rückkehrer im Mittelpunkt, der aber sowohl unter seinen griechischen Landsleuten isoliert ist, als auch vergeblich hofft, seine in Deutschland lebenden Kinder zur Rückkehr in seine Heimat bewegen zu können, obwohl er reich genug ist, ihnen finanziell ein Nest zu bereiten.
In dem illegalen Arbeitsemigranten aus Albanien, dem er Arbeit und Unterkunft gibt, wächst ihm ein Ersatzsohn ans Herz; zugleich erkennt aber seine junge Ehefrau, die an seiner Seite in der Provinz verhärmt ist, in dem jungen Albaner nicht nur erotische Erfüllung, sondern auch den Wegbereiter ihrer gemeinsamen Flucht. Am Ende, nachdem der tragische Konflikt im Mord (oder ist es nicht eher ein provozierter Freitod?) kumuliert ist, sieht sich der Täter vor die Entscheidung gestellt, ob er mit der ihm zugefallenen Geliebten fliehen oder seinen Verrat an der Loyalität gegenüber dem (?) Ermordeten gestehen soll. Douvalis rekonstruiert die ländliche Tragödie aus den Perspektiven und den Psychen der drei Protagonisten. Und wie auch in anderen Filmen des Festivals, die mit dem Tod enden, überwölbt er dessen Endgültigkeit mit einer Phantasmagorie des irrealen Glücks: dem Hochzeitszug der beiden Liebenden.
Auch der bis in die algerische Wüste mit seiner verrückten Liebe der entführten Fremden nachgereiste luxemburgische Zugschaffner in Paul Kieffers „Arabischen Nächten“ verdurstet einsam und elend unter der Sonne in der Sahara, während sein sehnsüchtiger Geist die Ankunft und Hochzeit mit der Verschwundenen in der Oase tröstlich imaginiert.
Die professionelle erzählerische Robustheit und der kinematografische Reichtum im originellen Umgang mit den ästhetischen Mitteln des Kinos, die fast allen Debütfilmen in Mannheim eigen waren, haben diese Exkursionen in das weite filmische Gelände des Kinos jenseits des in unseren Multiplexen präsentierten Mainstreams zu einer tiefgreifenden, weit ausholenden menschlichen und emotionalen „auratischen“ Erfahrung gemacht. Denn sie war, wie Walter Benjamin die Aura des nun an seinem Platz aufzusuchenden Kunstwerkes definierte, einzig während der zehn Tage des 57. Mannheim-Heidelberger Filmfestivals dort zu machen. Wer nicht dabei war, weiß nicht, was ihm entgangen ist. tno