Was soll man nun davon halten? Bis vor noch nicht allzulanger Zeit waren die Grünen doch – oder haben wir da was falsch verstanden –  für den Ausstieg aus der Atomkraft; jetzt, da sie sich dafür aussprechen, gegen Kohlekraftwerke zu sein, müssen sie offenkundig für dann doch irgendeine Form von Energiegewinnung stehen, die es ihnen erlaubt, Strom aus der Steckdose entnehmen zu können, und das Licht nicht per Kerze scheinen zu lassen, sondern mit einem Schalter anzuknipsen. Sollte sich den Grünen beizubringen irgenwer in die Lage versetzt haben, dass sie für welche auch immer, aber jedenfalls f ü r irgendeine  Art der Energiegewinnung zu sein haben? Wie sonst wäre dies Plakat zu erklären – Realitätsverlust ade? Bravo!

Organisierte Anarchie wurde und wird bei den Grünen nicht als Zufallsprodukt gehandelt, sondern besteht als Ausgangserfahrung von Anfang an. Christen und Kommunisten, Anthroposophen und Alternative, Feministinnen und Pazifisten, Linkssozialisten und Linksliberale – die Grünen waren ein Treffpunkt des Aufbruchs und der Gescheiterten mit einer Spannweite von radikal-links über wert und überhaupt-konservativ bis zu rechtsradikalen Splittern.

Die Grünen fallen aus dem herkömmlichen politischen Rahmen. Trotz ihres durchaus vitalen Willens zur Macht haben sie in den über zwanzig Jahren ihrer Existenz den Widerwillen gegen klare und effektive Strukturen nie ganz aufgegeben. Ohne daß sie in einer inhaltlich bestimmbaren Weise noch markant anders als die anderen Parteien wären, bleiben sie doch schwer berechenbar. Keine andere Partei besitzt ähnlich starke selbstzerstörerische, zumindest selbsthemmende Kräfte wie die Grünen.

Warum stehen die Grünen auf schwankendem Boden?  Was ihnen (unter anderem) fehlt, ist  ein „strategisches Zentrum“. Stattdessen haben sie es in einer Mischung aus Sorglosigkeit, antibürgerlichem Ressentiment und Angst vor den disziplinierenden Folgen von Ordnung  unterlassen, sich eine Struktur zu geben.

Dem vagabundierenden Radikalismus folgte spiegelbildlich ein kleinlauter Realismus, der aus der Defensive nicht herauskommt. Die Partei der „Nachhaltigkeit“ hat wenig Lust auf das Bohren dicker Bretter.

Der größte Erfolg der Grünen, die Regierungsbeteiligung in Berlin, hat die Partei zugleich in ihre nachhaltigste Krise gestürzt. Die SPD ging mit ihrem Koalitionspartner lange Zeit ohne jeden Respekt um, verstand es, die Grünen nachgerade zu erpressen (was die Grünen jedoch nicht nicht auch gelernt haben zu tun), und, schlimmer noch, wie eine Unterabteilung von sich selbst zu behandeln.

Haben die Grünen dennoch eine Zukunft? Regierend haben die Grünen viel getan, um ihre Partei – und damit letztlich das gesellschaftliche Feld, dem sie entstammen – zu entmächtigen und bedeutungslos zu machen.

Die einst am meisten basisorientierte Partei ist zur basislosesten von allen geworden. Der führenden Handwerkertruppe um Fritz Kuhn geht es nun darum, die Partei nachholend zu modernisieren, à jour zu bringen: die Dame ohne Unterleib auf der Suche nach demselben. Gelingt das, wäre es ein veritables Kunststück. Gelingt es nicht, wäre es vermutlich das Ende der Partei. Mit einem Schwenk, weg von der Kohle, wieder hin zur Atomkraft ist der Ärger mit der Basis der Basis programmiert. Unser Vorschlag: Abwärme von Krematorien nutzen. Da wird es dann zwar von irgendeiner Seite auch wieder ein Geschrei dagegen geben. Aber, in der Sache gibt es noch keine eingefahrenen Argumente, und bis da wer Bedenken formuliert  …

Jürgen Gottschling

Okt 2008 | Heidelberg, Allgemein, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren