Tun wir einmal so als ob. Als ob demnächst überall Island wäre und alle Banken verstaatlicht würden. Tun wir einmal so, um eine Frage zu beantworten, die mich momentan brennend interessiert: Wäre das eine Revolution? Oder, wäre dann eine fällig?Ich hatte nie geglaubt, noch eine zu erleben. ’68 schon 25 gewesen – vernünftig vielleicht? – , ’89 est recht und unbeteiligt. Danach schien mir das Zeitalter der Revolutionen in Europa zu Ende gegangen. Wer sollte jetzt noch gegen wen revoltieren? Keine konkurrierenden Ideologien mehr, nur noch große Koalitionen und ein allgegenwärtiger, alternativloser Kapitalismus. Im 21. Jahrhundert wird die Menschheit aufhören, über das richtige Leben im falschen zu streiten und zu einer Art Naturzustand zurückkehren, in dem alles selbstverständlich ist: vom Mittelklassewagen über Fastfood, Hollywood und Freizeitkleidung bis hin zum windigen Hypothekenkredit. Alle historischen Antagonismen fallen zusammen, und spätestens die Enkel meiner Freunde werden, vorausgesetzt sie bekommen das CO2-Problem in den Griff, eine Art Paradies der Alternativlosigkeit bewohnen.
Das habe ich geglaubt; aber jetzt kommt es mir vor, als könnte doch noch eine Revolution ausbrechen. Und diesmal wäre ich hochgradig betroffen – doch leider auch völlig im Unklaren darüber, was geschieht und wo die Fronten verlaufen.
Dabei wäre es doch eine Revolution, die Banken zu verstaatlichen, nicht wahr? Das ist sogar beste Revolutionstradition; alle Entmachtungen aristokratischer oder bürgerlicher Herrschaft zogen bisher eine Staatskontrolle über die Finanzen nach sich. Wer Revolution macht, besetzt den Präsidentenpalast, den Rundfunk und die Staatsbank, und wenn er klug ist, tut er das in umgekehrter Reihenfolge.
Doch wenn jetzt wirklich die Banken verstaatlicht werden, sei meine erste Frage: Wem nimmt man sie dann weg? Sie gehören als börsennotierte Aktiengesellschaften diffusen Gruppen von Anteilseignern. Ihre Aktien stecken unter anderem in den Fonds, mit denen die Alterssicherung von auch „kleinen“ Leuten wie du und ich geleistet werden soll. Nimmt man also die Banken den Kleinstanlegern weg? Oder schützt man vielmehr deren Eigentum? Wenn ja, vor wem? Vor den Managern vielleicht? Haben die versucht, die Banken zu stehlen? Ihre Gehälter lassen das vermuten. Aber ich fürchte, die Manager sind keine post-aristokratische Herrschaftsschicht mit Tendenz zur Weltverschwörung. Es sind lauter Individuen aus dem Mittelstand, die sich die Durchlässigkeit unserer Gesellschaft zunutze – und Karriere gemacht haben. Man kann sie nicht „stürzen“. Entlässt man einen, besetzt ein anderer den Posten. Mag sein, dass einige von ihnen der Gier erlegen sind. Doch wir zinsversessenen Kleinsparer und geizgeilen Konsumenten ahnen, dass ihnen dies innerhalb eines Systems passiert ist, an dessen Funktionieren zum Wohle aller sie bis zuletzt geglaubt haben.
Zweite Frage: Wer verstaatlicht? Antwort: Nicht Revoluzzer, sondern gewählte Volksvertreter, Angehörige von Parteien, die (raumgreifend gesprochen) das Erbe der Französischen Revolution verwalten, also auch die Forderung nach der ökonomischen Freiheit des Individuums. Selbst wenn sie keiner ausdrücklich „liberalen“ Partei angehören, sind sie doch einem Wirtschaftsliberalismus verpflichtet, der in der ökonomischen Kreativität des Einzelnen den Garanten des Volkswohls sieht. Staatsbanken müssen diesen Leuten ein Gräuel sein!
Dritte Frage: Was machen jetzt die Intellektuellen, die so vielen Revolutionen den Weg gewiesen oder zumindest die Argumente hinterher getragen haben? Antwort: Die tun nix! Die sind ratlos. Im „Kapital“ haben sie lange nicht mehr gelesen, das war out. Und sie wissen auch: Säßen sie bei Anne Will oder auf einem ähnlichen Stuhl, so hätten sie auch dann keine Chance gegen die Chefdenker der Banken, wenn der Dax unter Null gefallen wäre. Der Komplexität moderner Geldgeschäfte ist durch das traditionelle Sprechen über Moral, Menschenwürde und so weiter nicht beizukommen. Der Geldmarkt hat sich von den Menschen entfernt, und damit auch von der Sprache des Humanismus. Jeder Hacker könnte einem Banker besser Paroli bieten als ein Intellektueller.
Und schließlich, vierte Frage: Wo bleibt die Straße? Jede Revolution muss von breiten Massen und ihrer erkennbaren Zustimmung getragen werden. Gewalt ist dabei nicht unbedingt notwendig; aber sie liegt in der Luft. Jetzt aber scheinen mir die Straßen besonders gründlich leer gefegt. Abends verrammelt der Kleinaktionär sein unvollständig abbezahltes Wohneigentum und verfolgt im Fernsehen die Nachrichten darüber, ob die Volksvertreter es schaffen werden, durch die Verstaatlichung des Geldmarktes seine Freiheit (zum Konsum) zu schützen. Innerlich zerrissen und vollkommen mundtot legt sich der Kleinaktionär zu Bett; seine Hand sucht den Sparstrumpf, den er so vermisst.
Also: keine Revolution? Sondern nur eine von der Panik stimulierte „Regulierungsaktion“? Keine Kurskorrektur, sondern eine Notbremse?
Nein! Ich wünsche jetzt und heute auf einer Revolution bestehen zu dürfen! Und wenn alle traditionellen Kriterien fehlen, dann sehe ich das als Beweis dafür, dass es tatsächlich eine Revolution ist. „Die erste Erscheinung des Neuen ist der Schrecken“, sagt Heiner Müller, ein Experte des Untergangs. Und Schrecken ist jetzt wahrlich genug vorhanden; also muss es auch Neues geben.
Und diese Neue Revolution – ich wünschte, es wäre diese: Ein Aufstand des Analogen gegen das Virtuelle. Ich wünschte mir eine Ver-Haftung der Banken als Aufforderung, die Haftung zwischen Geld und Wert wiederherzustellen. Ich wünschte mir eine Entmachtung der Börse, ein Ende der Digitalisierung der Ökonomie als Nivellierung menschlicher Leistung und Energie. Spekulieren hieß einmal, die Dinge als sie selbst erkennen; jetzt heißt es: zocken. Dagegen wünschte ich mir eine Revolution. Einen Aufstand gegen ein Denken und eine Sprache, die den Kontakt zu ihren Gegenständen längst verloren haben.
Ich weiß, man organisiert die moderne Weltwirtschaft nicht, indem man Beutel mit Dukaten und Pfennigen per Schiff verfrachtet. Aber wir alle wissen jetzt, dass man sie mit Versprechungen auf Erwartungen und gestückelten Forderungen und Zertifikaten und Leerverkäufen in Grund und Boden ruiniert. Die Daxokratie hat versagt. Ihre Sprache hat verführt.
Ein – oder wie immer wir das nennen wollen – Aufstand dagegen tut Not. Jürgen Goottschling